Quelle: http://www.spiegel.de/politik/deutschla ... 40,00.html"Es gibt ein Gefühl bei manchen, dass derjenige, der nicht handelt, mit dem, was passiert, nichts zu tun hat", sagte der SPD-Vorsitzende. "Aber das ist nicht so. Wer nicht handelt, ist genauso verantwortlich." Deshalb sei seiner Ansicht nach die wichtigste Erkenntnis in der Demokratie: "Es gibt kein Entrinnen. Jeder ist in der Verantwortung", sagte Müntefering.
Es gibt kein Entrinnen!
Jeder trüge Verantwortung, ob er sich mit der Politik abgebe oder nicht - diese Botschaft ist der Abrutscher ein totalitäres Bekenntnis, nämlich zur Uniformierung des Dualismus aus Staat und Gesellschaft.
Es gibt kein Entrinnen!
J.L. Talmon schrieb 1952, veröffentlicht im Magazin Der Monat, einen Essay über die Totalitäre Demokratie.
Das Prozedere von "Trial and Error" hat die Politik, gerade in der Großen Koalition, schon längst aufgegeben und Müntefering sieht sich darüber hinaus mit der Tatsache konfrontiert, dass die Sozialdemokraten sich ihrer klassischen Wählerklientel nicht mehr sicher sein kann - sie bleibt entweder zuhause oder wählt die Faschisten.Vom Blickpunkt unserer Jahrhundertmitte wirken die letzten 150 Jahre tatsächlich wie eine systematische Vorbereitung auf den weltkrisenhaften Zusammenprall der empirisch-liberalen Demokratie einerseits, und der totalitären, messianischen Demokratie auf der anderen Seite.
Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Spielarten des demokratischen Gedankens beruht nicht, wie häufig angenommen wird, auf der Bejahung bzw. Verneinung der Freiheit, sondern in ihrer beider verschiedenartigen Einstellung zur Politik.
Die freiheitliche Haltung betrachtet die Politik als eine Angelegenheit empirischen Vorgehens, als ein Versuchsfeld für „Trial and Error“; sie bemüht sich, durch den Versuch zu lernen, und sieht politische Systeme als pragmatische Gebilde an, die sich der Mensch kraft seines Scharfsinns und seiner Fähigkeit zum spontanen Handeln geschaffen hat. Aus der gleichen Haltung räumt sie auch ein, daß es zahlreiche Ebenen für die Betätigung des Einzelnen und der
Gruppe gibt, die ganz und gar außerhalb der politischen Sphäre liegen.
Die Schule der totalitären Demokraten dagegen geht von der Annahme aus, daß die alleinige und ausschließliche Wahrheit auf politischem Gebiet liege. Man kann hier von einem politischen Messianismus sprechen, insofern das Postulat einer vorausbestimmten harmonischen und vollkommenen Ordnung aller Dinge aufgestellt wird, auf welche die Menschen unwiderstehlich zustreben und bei der sie unweigerlich anlangen müssen. Im Grunde wird nur eine einzige Existenzebene anerkannt, nämlich die politische, die sich ausweitet, bis sie das Gesamtleben des Menschen umfaßt.
Es gibt kein Entrinnen!
Denn, so eine gängige Argumentation, sinkende Wahlbeteiligungen würden die extremen Ränder stärken - nicht die Politik ist schuld, sondern der (Nicht-)Wähler. Egal was man tut, aus der politischen Existenzebene wird der Bürger nicht mehr hinausgelassen. Alles andere, sei es die Resignation des Nichtwählens oder der Protest des Falschwählens, kann immer noch politisch aufgeladen werden.
Und darin besteht die größte Gefahr für den totalitären Demokraten Müntefering: dass ihm doch jemand entrinnt.