Spirek hat geschrieben: ↑Donnerstag 26. Juni 2025, 12:30
Erlauben Sie mir, auf diese Aussagen Bezug zu nehmen.
Hos geldiniz - die türkische Troll-Armee im Forum bekommt Zuwachs. Zufällig immer dann, wenn ein anderer Troll nichts mehr zu sagen hat.
Natürlich dürfen Sie dazu "Bezug nehmen", ist ja ein freies Forum - wird also anders gehandhabt als in Ihrer Heimat.
Spirek hat geschrieben: ↑Donnerstag 26. Juni 2025, 12:30
Zunächst einmal ist es eine historisch falsche Behauptung von türkisierung zu Zeiten des feudalen Osmanischen Reichs zu sprechen. Der Begriff „Türkisierung“ entstammt der Moderne. Eine türkisierung oder gar eine aktiv verfolgte Türkisierungspolitik gab es im osmanischen Reich schlicht und einfach nicht.
Ich erkläre Ihnen warum:
Die osmanische Herrscherfamilie - obwohl natürlich türkischer Ethnie angehörig - betrachteten sich, ebensowenig wie die restliche osmanische Elite, als Türken im heutigen Sinne. Trotz türkischer Sprache.
Vielmehr betrachtete sich die osmanische Elite als Teil islamischer, im entfernteren Sinne auch als Teil persischer Hochkultur. Der Begriff „türk“ (zu dt. Türke) hatte über eine lange Zeit einen negative Konnotation. „Türken“ galten im osmanischen Selbstverständnis als einfache Landbevölkerung - Bauern, Nomaden, Analphabeten.
Das mag zunächst Paradox klingen, lässt sich aber historisch belegen. Um die komplexen Verhältnisse der Osmanen zu ihrer eigenen Identitätskonstruktion zu ergründen, wird ein tieferes Verständnis für die Historie anatolisch beheimateter Turkvölker benötigt.
Ein Verständnis, welches Sie offenbar nicht haben oder bewusst nicht nutzen.
Die Argumentation, die osmanische Elite habe sich nicht als "Türken" im heutigen Sinne verstanden und deshalb könne man nicht von türkischer Hegemonie oder Türkisierung sprechen, ist ein beliebter, aber irreführender Taschenspielertrick. Sie verkennt sowohl die gesellschaftlichen Realitäten des Osmanischen Reiches als auch die Mechanismen von Macht und Identitätsbildung in vormodernen Vielvölkerreichen. Unterm Strich kann ich dazu nur sagen: Nicht das Etikett zählt, sondern die Praxis.
Sie und andere türkische Forenteilnehmer:innen fokusieren sich sehr auf Begrifflichkeiten im modernen Sinne. Fakt ist aber: Machtstrukturen und kulturelle Hegemonie funktionieren nicht erst seit der Moderne.
Entscheidend war immer wer Zugang zu den Machtzentren hatte. Welche Sprache, Religion und Kultur waren Voraussetzung für gesellschaftlichen Aufstieg? Na, merken Sie es?
Die osmanische Elite war türkischsprachig, der Hof sprach Osmanisch, die Verwaltungssprache war Osmanisch-Türkisch. Der Islam war die absolute Grundlage der Legitimation – aber innerhalb der Muslime dominierten türkischsprachige Sunniten die Machtapparate. Die Tatsache, dass der Begriff "Türke" für Bauern und Nomaden abwertend verwendet wurde, ist ein klassisches Phänomen vormoderner Elitenkultur: Die Elite grenzt sich sozial von der Landbevölkerung ab. Nichtsdestotrotz blieb die osmanische Elite faktische Trägerin der eigenen Sprache und Kultur. Also so komplex und paradox wie Sie es hinstellen, war es auch nicht.
Pauschal zu behaupten, die Osmanen betrachteten sich als Teil der persischen Hochkultur, offenbart viel mehr, dass Sie gar kein Verständnis für die Geschichte anatolisch-iranisch beheimateter Turkvölker besitzen. Die Osmanen übernahmen zu Beginn ihrer Geschichte viele Elemente der sogenannten "Persianate culture": persische Literatur, höfische Etikette und Teile der Verwaltungssprache, wie es im gesamten islamischen Osten (siehe Zentralasien) üblich war. Bei den russischen Zaren war das ähnlich: Da wurde auch gerne am Hof Französisch gesprochen. Wer würde aber deshalb die russische Hegemonie abstreiten? Zurück zu den Osmanen: Trotz dieses anfänglichen persischen Einflusses etablierten die Osmanen sehr früh Osmanisch-Türkisch als Verwaltungssprache und als Zeichen eigener Identität. Spätestens ab dem späten 16. Jahrhundert wurde Türkisch zur dominanten Amtssprache und zur Sprache der Elite. Das war ein bewusster Bruch mit der persischen Tradition, wie auch der Schock der Mughals (die ebenfalls türkischen Background hatten) in Indien zeigt, als die Osmanen Persisch als Hofsprache aufgaben. Die osmanische Elite verstand sich als eigenständige Macht: weder als Perser noch als Araber, sondern als Osmanen – mit einer klar türkischsprachigen, sunnitisch-islamischen Identität.
Wenn Sie wirklich an diesem Thema interessiert sind, und nicht einfach plump versuchen wollen, die tausendjährige Hegemonie der Türken in Anatolien reinzuwaschen und zu relativieren, könnten Sie auch einen Blick auf die Safawiden-Dynastie richten. Ein Vergleich zwischen dem Osmanischen Reich und dem Reich der Safawiden widerlegt nämlich klar Ihre "These". Die Safawiden sowie die meisten anderen iranischen Dynastien nach ihnen waren ja türkischen Ursprungs (also zumindest sprachen sie Aserbaidschanisch-Türkisch). Auf die Ethnogenese der iranischen Azeris möchte ich hier jedoch nicht näher eingehen.
Fakt ist, dass die Safawiden (und spätere turkmenische Herrscher des Irans) eine explizit persische Staatsidentität etablierten: Sie machten Persisch zur Verwaltungssprache, förderten persische Literatur, Kunst und Architektur und stellten die iranische Identität in den Mittelpunkt ihrer Herrschaft. Die Safawiden schufen mit der Einführung des Zwölfer-Schiismus und der Förderung persischer Kultur das Fundament für das moderne iranische Nationalbewusstsein. Auch andere Dynastien vor und nach den Safawiden, deren Herrscher oft turkstämmig waren (Qajaren), übernahmen die persische Sprache und Kultur und verstanden sich als Teil der persischen Tradition. Einer der bekanntesten Herrscher des Irans war beispielsweise Nadir Shah, ein Turkmene. Nur welcher Historiker würde heute bei seiner Afschariden-Dynastie von einem turkmenischen Reich sprechen?
Spirek hat geschrieben: ↑Donnerstag 26. Juni 2025, 12:30
Die verschiedenen oghusisch-türkischen Stammesverbände, waren ursprünglich Anhänger eines indigenen, zentralasiatischen Schamanismus. Dem sogenannten Tengrismus.
Im Zuge der Islamisierung der Turkvölker im 10./11. Jahrhundert kamen türkische Steppenreiche immer weiter an die Grenzen islamische geprägter Hochkulturen. Allen voran an die der Perser. Da den Turkvölkern als Steppennomaden jegliche Form einer klassischen Staatsführung fremd war, übernahmen Sie nach und nach die persisch/islamisch geprägte Verwaltung, Hofetikette und Kultur.
Allen voran leiteten die Seldschuken den Einzug der Turkvölker nach Anatolien ein. Zu diesem Zeitpunkt war die seldschukische Elite schon so weit von islamisch-persischen Einflüssen „korrumpiert“, dass sie sich selbst nicht mehr als bloße Nachkommen zentralasiatischer Nomaden verstanden.
Die Verwaltungssprache war persisch, die Dichtkunst und Gelehrsamkeit wurde auf persisch gepflegt. Während das „einfache“ Volk türkischsprachig blieb.
Bleiben wir bei den Fakten: Die Türkei sieht die Seldschuken als Teil ihrer Staatstradition, der Iran hingegen nicht. Und das hat seine Gründe. Natürlich übernahmen die Seldschuken nach ihrer Eroberung Irans und Anatoliens die persische Sprache als Hof- und Verwaltungssprache. Keine Frage. Das machte sie nicht zu "korrumpierten Persern". Die Seldschuken führten ihren Stammbaum und ihre Herrschaftslegitimation explizit auf die Oghusen zurück. Nicht nur deshalb wurden sie in zeitgenössischen arabischen, persischen und byzantinischen Quellen durchgehend als Türken oder Turkmenen bezeichnet und klar von Persern oder Arabern abgegrenzt. Seldschukische Herrscher und Eliten unterschieden sich in Kleidung, Symbolik und Hofritualen bewusst von Arabern und Persern. Sie trugen typische türkische Militärtracht (z.B. Pelzmützen, kurze Kaftane). Als offizielles Emblem wurde die Tughra verwendet, ein türkisches Herrschersymbol.
Insbesondere im Militär und in der Organisation der Nomadenstämme pflegten die Seldschuken oghusisch-türkische Traditionen, was ein starkes ethnisches Bewusstsein widerspiegelt. Der entscheidende Faktor des seldschukischen Aufstiegs war natürlich ihre Armee. Und da vertrauten sie vor allem auf turkstämmige (oghusische/turkmenische) Stämme. Diese bildeten das Rückgrat ihrer Streitkräfte und später der zivilen Verwaltung. Die Bedürfnisse und Loyalität der turkmenischen Nomaden waren ein zentraler Faktor seldschukischer Politik und Machtbalance.
Das Entscheidende: Die Seldschuken vertrauten nicht nur im Militär auf turkmenische Stämme, sondern förderten gezielt die Ansiedlung türkischer Nomaden in Anatolien. Diese bewusste Politik führte zur dauerhaften Türkisierung der Region. Die Expansion nach Anatolien nach 1071 (Manzikert) war explizit ein "türkischer" Zug, der von der byzantinischen und arabischen Geschichtsschreibung als solche wahrgenommen wurde. Ab dem 12. Jahrhundert wurde Anatolien in europäischen Quellen als Turchia bezeichnet. Wenn ihre These stimmen würde, wäre das damals griechisch-byzantinische Anatolien nicht türkisiert sondern "persifiziert" worden.
In der iranischen Historiographie hingegen sind die Seldschuken zwar ein Kapitel der Geschichte, aber keine "Vorfahren" des iranischen Staates oder der persischen Identität. Sie werden als ausländische, turkstämmige Herrscher betrachtet, ähnlich wie die Mongolen oder Timuriden.
Spirek hat geschrieben: ↑Donnerstag 26. Juni 2025, 12:30
Später übernahmen die Osmanen diese Traditionslinie, deren Aufstieg aus der Peripherie Anatoliens sie dazu zwang, einen Spagat zwischen verschieden kulturellen Identitäten zu meistern. Das Ergebnis war, dass die osmanische Elite zwar Ihre Sprache behielten, letztlich aber noch weiter von ihren ethnisch-türkischen Wurzeln abrückten und stattdessen die Zugehörigkeit zu einer kosmopolitisch, islamisch-persisch geprägten Herrschaftsklasse betonten.
Die osmanische Sprache (das „Osmanlıca“) beispielsweise war ein bewusster Kunstgriff. Eine hochstilisierte Mischsprache mit erheblichem persischem und arabischem Anteil, die dem einfachen „Volkstürkisch“ diametral gegenüberstand.
Die osmanische Sprache war zwar stark mit arabischen und persischen Lehnwörtern angereichert, aber ihre Grammatik, Syntax und Grundstruktur blieben klar türkisch.
Die osmanische Dynastie und der Großteil der militärischen und administrativen Elite waren ethnisch und sprachlich türkisch geprägt. Die Sultane und ihre Familien sprachen Türkisch als Muttersprache. Viele Sultane und Wesire schrieben Gedichte auf Türkisch, förderten türkische Literatur und pflegten türkische Stammestraditionen. Die osmanische Verwaltung setzte sich überwiegend aus turkstämmigen Familien zusammen, insbesondere im Militär (Janitscharen ausgenommen, die jedoch zwangskonvertiert und türkisch sozialisiert wurden). Der Kosmopolitismus der Osmanen bestand darin, verschiedene Kulturen und Religionen im Reich zu integrieren. Das war aber kein Zeichen für den Verlust der eigenen Identität, sondern Ausdruck ihrer imperialen Bestrebungen.
Spirek hat geschrieben: ↑Donnerstag 26. Juni 2025, 12:30
Über Jahrhunderte hinweg war die Entwertung der „einfachen Türken“ durch die osmanische Elite nicht nur sprachlich, sondern auch sozial und wirtschaftlich spürbar. Sie hatten ebenso wie die anderen anatolischen Landbewohner, nur selten Zugang zu den Machtzentren in Verwaltung, Militär oder Bildung. Die „einfachen Türken“ standen somit auf einer ähnlichen Stufe wie andere marginalisierte Gruppen muslimischen Glaubens.
Die Behauptung, "einfache Türken" seien im Osmanischen Reich auf einer Stufe mit marginalisierten Minderheiten gestanden und hätten keinen Zugang zu Verwaltung, Militär oder Bildung gehabt, ist ahistorischer Unsinn und entbehrt jeder Grundlage. Natürlich gab es auch die türkischen Reyats (Handwerker, Bauern, Händler), aber türkische Muslime waren im Osmanischen Reich das privilegierte Staatsvolk. Sie galten als Eroberervolk und bildeten die Hauptsäule von Militär, Verwaltung und religiöser Elite. Zentrale Machtpositionen waren überwiegend Türken vorbehalten, während andere muslimische Ethnien wie Araber oder Kurden meist in den Randprovinzen blieben. Der Zugang zu Bildung, Ämtern und gesellschaftlichem Aufstieg war für Türken besonders offen – sie standen klar über anderen Gruppen. Die Eroberung und Besiedlung neu gewonnener Gebiete durch türkische Muslime war ein zentrales Element der osmanischen Herrschaftspraxis – Städte wurden nach der Einnahme gezielt mit Türken neu besiedelt, um die Kontrolle zu sichern.
Spirek hat geschrieben: ↑Donnerstag 26. Juni 2025, 12:30
Beide Gruppen, Türken wie Kurden, galten im städtisch-höfischen Milieu als rückständig, ungebildet und wurden aus dem gesellschaftlichen Aufstieg systematisch herausgehalten. So wie es eben für eine feudale Ständegesellschaft üblich war.
Während sich die Angehörigen der elitären Schichten – unabhängig davon, ob sie türkischer oder kurdischer Herkunft waren – nicht über ihre Ethnie, sondern über ihre Zugehörigkeit zur persisch-islamischen Hochkultur definierten.
Das Gerede von einer persisch-islamischen Hochkultur als einzige Eintrittskarte zur Elite ist ein Mythos. Die osmanische Hofkultur war zwar von persischen und arabischen Einflüssen geprägt, aber die Sprache der Macht, der Verwaltung und des Hofes blieb bis zum Ende Osmanisch-Türkisch. Die Identität der Elite war klar türkisch und sunnitisch-muslimisch geprägt – das war die Eintrittskarte zur Macht, nicht eine anonyme Hochkultur. Während anatolische Türken regelmäßig in höchste Staatsämter aufsteigen konnten, war dies für Kurden nur in Ausnahmefällen und meist auf regionale Herrschaftsbereiche beschränkt möglich. Die Vorstellung, beide Gruppen seien gleichermaßen marginalisiert gewesen, ist schlicht falsch und ignoriert die historische Realität.
Spirek hat geschrieben: ↑Donnerstag 26. Juni 2025, 12:30
Nebenbei erwähnt, sind diese Zusammenhänge übrigens der Grund, warum in extrem rechten nationalistisch-türkischen Kreisen der sogenannte „Neo-Osmanismus“ als verpönt gilt.
Achso, gilt die MHP nicht mehr als extrem rechts in der Türkei? Kann ich mir sogar vorstellen...
Die MHP zumindest verwendet in seinem Parteilogo die drei Halbmonde. Das Symbol stammt direkt von osmanischen Kriegs- und Herrschaftsfahnen. Es steht für die drei Kontinente (Asien, Afrika, Europa), auf denen das Osmanische Reich herrschte. Und so weit mir bekannt ist, erkennt jede rechte Gruppe in der Türkei auch die offizielle Flagge an. Die spezifische Kombination (Rot-Weiß-Farbgebung + Halbmond und Stern) sind osmanischen Ursprungs.
Aber ja, unter Kemalisten, die auch rechts sind (sich aber selbst nicht so sehen), ist der Neo-Osmanismus verpönt. Das stimmt. Aber was sagt es jetzt aus? Die Mehrheit der Türken empfindet nur Nostalgie und Verbundenheit, wenn sie an das Osmanische Reich denken. Die hegemonialen Ansprüche der Mehrheit der Türken stützen sich ja auf das Großreich der Osmanen.
Spirek hat geschrieben: ↑Donnerstag 26. Juni 2025, 12:30
Mit dem allmählich einsetzendem Zerfall der Hohen Pforte im 19. Jahrhundert begann unter dem Einfluss europäisch geprägter Nationalismus-Ideen, die Bildung türkisch-nationalistischer Bewegungen. Erst unter dem Einfluss eben jener Gruppen - allen voran den Jungtürken - ist der Versuch einer politische Neuordnung von einem religiös-imperialistischem Kalifat, hin zu einem national-imperialistischem explizit türkischem Großreich auszumachen. Die verfolgten Ideen dieser Gruppen wurden mit der Zeit jedoch - leider - soweit et absurdum geführt, dass sie zu anti-intellektuellen Ideologien degenerierten, welche u.a. im Armenischen Genozid gipfelten.
Die Schuld für ALLES anderen zuschieben. Ein bekanntes Muster.
Es ist historisch falsch zu behaupten, im Osmanischen Reich habe es vor dem Einfluss des europäischen Nationalismus keinerlei eigene Vorformen von Nationalismus oder kollektiver Identität gegeben.
Schon vor dem 19. Jahrhundert war die osmanische Gesellschaft nach religiösen Gemeinschaften (Millets) organisiert, die als Nationen galten. Diese klare Abgrenzung förderte ein kollektives Bewusstsein innerhalb der Gruppen, auch wenn es primär religiös und nicht ethnisch motiviert war. Auch innerhalb der muslimischen Mehrheit gab es eine klare Unterscheidung zwischen Türken, Arabern, Kurden und anderen Gruppen. Die osmanische Elite war sprachlich und kulturell türkisch dominiert, und das Bewusstsein, Staatsvolk zu sein, war tief verankert – auch wenn es nicht im modernen nationalstaatlichen Sinn formuliert wurde. Die privilegierte Stellung der türkischen Muslime im Reich, ihre Rolle als Eroberervolk und Träger der Staatsmacht sowie die soziale und rechtliche Hierarchie zwischen den Gruppen schufen ein Bewusstsein für kollektive Zugehörigkeit und Differenz.
Mit dem Aufkommen des europäischen Nationalismus im 18. und 19. Jahrhundert wurde das ethnische und sprachliche Moment stärker betont. Die Jungtürken und späteren Nationalisten griffen auf bereits vorhandene Identitätsmuster zurück und radikalisierten sie auf Basis europäischer Ideologien. Die Konzepte von Ottomanism und später Türkismus entstanden als Reaktion auf die Krise des Vielvölkerreichs und die Bedrohung durch separatistische Bewegungen. Diese Ideen waren keine bloßen Importe, sondern entwickelten sich aus der spezifischen osmanischen Realität heraus und wurden mit eigenen Elementen gefüllt. In a nutshell: Der türkische Nationalismus (im modernen Sinn) entwickelte sich nicht einfach als Kopie, sondern als spezifische Reaktion auf den Zerfall des multiethnischen Reiches, Gebietsverluste und den Aufstieg christlicher Nationalismen auf dem Balkan.
Der Genozid an den Armeniern und anderen Christen war aus
türkischer Sicht die präventive Verhinderung weiterer potenzieller Gebietsverluste (was selbstverständlich keine Rechtfertigung für dieses Menschheitsverbrechen war). Das die kolonialen Bestrebungen der Russen und Briten sowie die christlichen Missionare eine Rolle gespielt haben ist nicht zu leugnen. Das ändert nichts an der Eigenverantwortung der Jungtürken-Regierung für die Planung und Durchführung des Völkermords an den Armeniern.
Spirek hat geschrieben: ↑Donnerstag 26. Juni 2025, 12:30
Damit zeichnet sich ab, der türkische Nationalismus und die davon abgeleiteten Begriffe wie „türkisierung“ oder „Türkentum“ sind keine Begriffe der Vormoderne. Sie haben eine moderne Konnotation. Von einer „1000-Jährigen Assimilationspolitik“ zu sprechen offenbart lediglich Ihr ideologisches Täter-Opfer Narrativ - oder aber ihr defizitäres Geschichtsverständnis
Defizitäres Geschichtsverständnis

Wirft mir die Person vor, die das Seldschukenreich und Osmanische Reich der iranischen Staatstradition zuschreiben möchte.
Türkische Hegemonie und Assimilation sind keine modernen Mythen, sondern seit 1000 Jahren belegte Realität. Die Verdrängung, Assimilation und Hegemoniepolitik der Türken in Anatolien ist durch Quellen belegt. Wer das leugnet, betreibt Geschichtsklitterung. Bereits byzantinische und armenische Quellen sprechen im Mittelalter von Türkisierung, um den Identitätswandel der Bevölkerung Anatoliens zu beschreiben. Bereits ab dem 11. Jahrhundert betrieben Seldschuken gezielte Türkisierung: Umsiedlung turkstämmiger Gruppen nach Anatolien, Privilegierung türkischer Muslime und Marginalisierung anderer Ethnien. Das setzten die Osmanen fort und führten zudem das Devshirme-System (Knabenlese) und Zwangsansiedlungen ein.
Wenn türkische Nationalisten die Kritik an Türkisierung und Fremdherrschaft als Opfererzählung abtun, ist das nichts anderes als ein Versuch, die historische Realität von Eroberung, Unterdrückung und systematischer Marginalisierung zu delegitimieren und unsichtbar zu machen. Ähnlich wie die Terrorismus-Keule und Obsession mit der PKK, ist der Vorwurf des Opfer-Narrativs nichts weiter als ein Ablenkungsmanöver.
Spirek hat geschrieben: ↑Donnerstag 26. Juni 2025, 12:30
Sie konstruieren auch mit diesen Worten ein ideologisches Opfer-Narrativ. Das osmanische Reich war eine imperialistische Großmacht unter einer absoluten Monarchie. Das ist kein Ausdruck spezifisch kurdischer Unterdrückung, es ist typisch imperial-feudale Ordnung, in der Loyalität über Rechte entschied. Derartige Systeme bestraften Dissens - völlig gleich welcher Herkunft.
Sie verurteilen dies als gezielte ethnische Feindlichkeit, blenden aber aus, dass auch arabische, balkanische oder sogar anatolisch-türkische Bevölkerungsgruppen in gleicher Weise behandelt wurden, sobald sie die Macht des Sultans infrage stellten.
Ihre Aussagen grenzen an suggestiver Manipulation. Ein allgemeines Herrschaftsprinzip nachträglich ethnisierend umzudeuten, erfüllt alle Merkmale gezielter Viktimisierungsrhetorik.
Dass imperiale Systeme Loyalität fordern und Dissens bestrafen, ist unbestritten. Aber das ändert nichts am kolonialen und hegemonialen Charakter der osmanisch-türkischen Herrschaft über die Kurden. Dass auch Araber, Balkanvölker oder anatolische Türken bei Auflehnung bestraft wurden, hebt nicht auf, dass die Kurden (wie auch andere Minderheiten) unter einer dauerhaften Fremdherrschaft standen.
Das Verhältnis zwischen Kurden und Osmanen war vielleicht komplex, aber unterm Strich immer Besetzte vs. Besatzer. Das ist eine historische Tatsache. Keine Opfererzählung. Wie bereits in diesem Strang beschrieben: Die Osmanen gewährten den Kurden zunächst Autonomie, weil sie mit anderen Fronten und der Sicherung ihres Reiches beschäftigt waren. Doch sobald die Zentralisierung und der Aufbau eines modernen Nationalstaats im 19. Jahrhundert in den Vordergrund traten, wurde die Politik gegenüber den Kurden radikal repressiv und auf Assimilation ausgerichtet. In der türkischen Republik wurde es noch schlimmer - dann kam die Leugnungspolitik hinzu. Bis heute tun sich ja die meisten Türken "schwer" mit dem Begriff Kurdistan. Ziemlich irrational, wenn man bedenkt, dass schon die Seldschuken und Osmanen diesen Namen verwendeten.
Spirek hat geschrieben: ↑Donnerstag 26. Juni 2025, 12:30
Bemessen an heutigen humanistisch-moralischen Maßstäben ist die Feudalordnung eines jeden historischen Großreichs zwangsläufig zu kritisieren. Historisch ist das aber nicht relevant. Im Kontext seiner Zeit war das osmanische Reich kein Unterdrückungsregime. Es war ein Imperium, welches (religiösen) Minderheiten wie Juden, Christen aber auch Kurden Autonomie gewährte - sofern sie sich loyal verhielten.
Ziehen Sie einen vergleich mit dem christlichen Europa der damaligen Jahrhunderte, das für viele Minderheiten ein Ort der Verfolgung, Vertreibung und Progrome war.
Der Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung ist so alt wie die Geschichte der Unterdrückung selbst. Wer Kritik an osmanischer Fremdherrschaft als anachronistisch abtut, ignoriert die Stimmen und Kämpfe derer, die schon lange vor dem modernen Humanismus für ihre Rechte eingetreten sind. Das ist nicht Geschichtsbetrachtung, sondern Rechtfertigung von Unrecht. Der Hinweis auf Verfolgung im christlichen Europa ist kein Freibrief für osmanische Unterdrückung. Die Tatsache, dass auch anderswo Minderheiten verfolgt wurden, ändert nichts am kolonialen, hegemonialen Charakter der osmanisch-türkischen Herrschaft über Nicht-Türken.
Schon vor dem europäischen Humanismus lehnten sich Völker gegen osmanische (und andere imperiale) Fremdherrschaft auf. Die zahllosen Aufstände von Serben, Griechen, Bulgaren, Albanern, Armeniern, Kurden, Arabern und anderen zeigen, dass der Drang nach Autonomie, Würde und kultureller Selbstbehauptung universell und zeitlos ist – und nicht erst mit modernen Menschenrechtsideen begann. Chroniken, Lieder, Gedichte und Briefe aus den betroffenen Völkern berichten von Unterdrückung, Ausbeutung, Zwangsumsiedlung, religiöser und ethnischer Diskriminierung. Diese Quellen belegen, dass die Menschen ihre Lage als Fremdherrschaft und Unrecht empfanden – ganz ohne moderne Maßstäbe. Bezüglich der Pogrome sowie Völkermord: die gab es auch im Osmanischen Reich.
Spirek hat geschrieben: ↑Donnerstag 26. Juni 2025, 12:30
Selbstverständlich haben die Kurden - wie jedes Volk - das Recht auf unterdrückungsfreie Lebensverhältnisse.
Doch woraus leiten Sie das Recht ab, dass sich daraus ein territorial geschlossener, souveräner kurdischer Nationalstaat ergeben müsse? Die Grenzen dieser Fiktion sind gemeinhin bekannt und sie decken sich grob mit kurdischen Siedlungs- und Kulturräumen.
Aber, diese Gebiete sind nicht ausschließlich von Kurden bewohnt. Weder historisch noch gegenwärtig. Aramäer, Assyrer, Araber, Armenier, Aserbaidschaner, Turkmenen, Belutschen - all diese Ethnien leben oder lebten in genau diesen Regionen.
Wenn Sie nun kurdische Siedlungsgebiete als Geburtsrecht auffassen und daraus einen politischen Alleinvertretungsanspruch ableiten, müssen Sie konsequenterweise akzeptieren, dass dieselbe Logik - ob als „Historisches Erbe“ oder „Geburtsrecht“ kann hier dahinstehen - auch von anderen Gruppen angewendet wird.
Ihr Konzept „Kurdistan“ läuft also selbst Gefahr, zu einer „hegemonialen Idee“ zu korrumpieren - eben auf dem Rücken anderer, kleinerer Ethnien, deren Geschichte Sie dabei genauso ignorieren, wie Sie es der türkischen Seite vorzuwerfen versuchen.
Ihr Verweis auf die vermeintliche türkische Hegemonialmacht, unter die sich alle anderen unterzuordnen hätten, ist also kein taugliches Argument. Es offenbart vielmehr den blinden Fleck ihrer eigenen Argumentation.
Netter Versuch türkischen Kolonialismus zu legitimieren, nur hinkt der Vergleich gewaltig.
Die kurdischen Hauptsiedlungsgebiete – das, was als Kurdistan bezeichnet wird – sind fast ausschließlich von Kurden bewohnt. Minderheiten existieren, bilden aber nirgendwo eine Mehrheit oder zusammenhängende Enklaven, sondern sind zahlenmäßig klein und räumlich verstreut. Das ist ein fundamentaler Unterschied zur türkischen Herrschaft in Kurdistan: Hier wird eine klare regionale Mehrheit von einer fremden Macht regiert, unterdrückt und ihrer Selbstbestimmung beraubt.
Wer das gleichsetzt, verharmlost Kolonialismus und ignoriert die demografische und historische Realität.
Spirek hat geschrieben: ↑Donnerstag 26. Juni 2025, 12:30
Sie fragen wo sie Türken diffamieren? Dabei bezeichnen Sie im selben Beitrag die Mehrheit des türkischen Volkes als Faschisten. Genau diese Form der Verallgemeinerung erfüllt die Definition von Diskriminierung und gruppenbezogener Feindlichkeit. Wer mit solchen Begriffen hantiert, muss sich eben den Vorwurf gefallen lassen, genau jene Vorurteile zu schüren, die man anderen vorwirft.
Faschismus im politischen Sinne bedeutet, dass nationale oder ethnische Überlegenheit als Rechtfertigung für Diskriminierung, Gewalt oder Entrechtung dient. Genau das ist in der türkischen Mehrheitsgesellschaft – wie Wahlergebnisse, politische Rhetorik und gesellschaftliche Einstellungen zeigen – weit verbreitet. Fakt ist nunmal, dass die gesamte relevante türkische Parteienlandschaft (AKP, MHP, IYI, CHP, Saadet) offen offen nationalistische, autoritäre oder explizit anti-kurdische Positionen vertritt. Die systematische Ausgrenzung, Repression und Kriminalisierung kurdischer Parteien und Politiker wird von der Mehrheit der Gesellschaft (also den türkischen Wähler:innen) mitgetragen oder zumindest toleriert. Die Ablehnung von Gleichberechtigung und Selbstbestimmung für Kurden ist kein Randphänomen, sondern gesellschaftlicher Konsens in der politischen Mitte und Rechten der Türkei. Wer die eigene nationale Identität und Machtposition über die Rechte einer anderen Volksgruppe stellt und deren Unterdrückung akzeptiert, erfüllt nach gängiger politikwissenschaftlicher Definition zentrale Merkmale faschistischer Ideologie. Damit gebe ich die Realität in der Türkei und dem türkisch-besetzten Kurdistan wieder. Das ist keine Diffamierung.
Spirek hat geschrieben: ↑Donnerstag 26. Juni 2025, 12:30
Was das „Selbstbestimmungsrecht“ betrifft: Sie sprechen es den Türken zwar nicht ausdrücklich ab, aber aus Ihrer Argumentation ergibt sich doch genau das. Nach Ihrer Logik sind Völker nur dann Selbstbestimmt, wenn sie bereits einen eigenen Nationalstaat haben. Gleichzeitig erklären Sie die kurdischen Siedlungsgebiete in mehreren souveränen Staaten pauschal zu „besetzten“ Gebieten und leiten daraus ein Recht auf einen kurdischen Staat ab.
Dabei – wie bereits oben erwähnt – wird völlig ausgeblendet, dass innerhalb der heutigen oder angestrebten Grenzen eines fiktiven Kurdistan ebenfalls zahlreiche andere Minderheiten leben, die nach derselben Logik ebenfalls Anspruch auf einen eigenen Staat oder weitgehende Selbstbestimmung erheben könnten. Das betrifft etwa die o.g. Völker, die seit Jahrhunderten in diesen Regionen ansässig sind oder waren. Ihre Argumentation würde letztlich in eine endlose Kette von Gegeneinander aufgerechneten Ansprüchen führen – und am Ende das Existenzrecht eines nahezu jeden Staates infrage stellen, einschließlich der Türkei, deren Bevölkerung ursprünglich ja eben nicht aus Anatolien stammt.
Ihre Anführungsstriche zeigen doch wie Sie tatsächlich zum Selbstbestimmungsrecht stehen. Sie denken durch und durch kolonial. Ihr einziger Antrieb hier im Forum ist es türkische Hegemonie zu legitimieren - mehr nicht.
Ich hatte es ja oben schon beschrieben, aber hier noch einmal: Kurdische Selbstbestimmung bedeutet nicht, anderen Völkern Rechte abzusprechen, sondern das Recht der kurdischen Mehrheit in ihren eigenen Siedlungsgebieten anzuerkennen – eine Realität, die durch Demografie gedeckt ist. In den kurdischen Hauptsiedlungsgebieten stellen Kurden fast überall die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung – oft 80 % oder mehr. Sezession ist völkerrechtlich kein Automatismus für jede Minderheit, sondern setzt voraus, dass eine Gruppe in einem zusammenhängenden Gebiet die deutliche Mehrheit stellt. Wo wäre das in Kurdistan gegeben??
Und zu den Türken: In den heutigen türkischen Siedlungsgebieten sehen sich die Menschen als Türken – das ist eine demografische und gesellschaftliche Realität, die niemand leugnet. Die Forderung nach einem unabhängigen Kurdistan spricht den Türken ihr Selbstbestimmungsrecht nicht ab. Die türkische Bevölkerung lebt weiterhin in ihren eigenen, überwiegend türkisch besiedelten Gebieten, in denen sie ihre nationale Identität und politische Selbstbestimmung ausübt. Und genau das ist der Kern des Problems. Die türkische Mehrheitsgesellschaft will diese Hegemonie nicht aufgeben - im Gegenteil. Neo-Osmanismus und alte Gebietsansprüche sind die Realität. Dieselbe Entwicklung erleben wir in der russischen Mehrheitsgesellschaft.
Make Kurdistan Free Again...