Wenn das so sein sollte, ist mir das Phänomen AfD noch rätselhafter...sünnerklaas hat geschrieben: ↑Mittwoch 4. Juni 2025, 23:21 Ich sage es mal so und aus meiner direkten Anschau: die AfD ist der gelebte Gesellschaftskonflikt. Sie ist die Partei der offenen Rechnungen mit der deutschen Gesellschaft.
Denn tatsächlich gibt es zwar Ereignisse, Entwicklungen und Krisen in den letzten Jahren, die dazu geeignet sind, Menschen zu verunsichern, zu verärgern, die Gesellschaft zu polarisieren:
- vorrangig ist das meiner Meinung nach, womit auch die USA kämpfen: Die Globalisierung in Kombination mit Neo-liberaler Wirtschaftspolitik kennt viele Gewinner, aber auch jede Menge Verlierer/Abgehängte; auf den daraus entstehenden Frust der "Abgehängten" haben auch sozial-liberale Regierungen bisher keine Antwort gefunden
- das Handling der Covid-Pandemie hat polarisiert
- ... die Flüchtlingskrise ebenso
- manche gesellschaftliche Entwicklungen gehen nicht wenigen zu weit (Stichworte: LGBTQ+, "gendern", "Wokeness")
Nur: Das war in der (zumindest) bundesrepublikanischen Geschichte doch nie anders! Internationale Krisen, die auch uns trafen, sowie gesellschaftliche/innenpolitische Entwicklungen, die stark polarisierten, gab es doch immer. Ein paar Stichworte in loser Reihenfolge:
- in den 60er/70ern/80er lebte man permanent unter dem Damoklesschwert, dass der "Kalte Krieg" jederzeit "heiß" werden konnte, mit ultimativen Folgen
- im Anschluss an das "Wirtschaftswunder" direkt massive Strukturkrisen der Schwerindustrie z.B. im Ruhrgebiet
- Studentenunruhen Ende der 60er, Straßenschlachten, später RAF, Straßenkontrollen, Rasterfahndung
- Startbahn-West-Proteste, Steinewerfer, Geknüppel, Wasserwerfer
- ...ählich ging es bei Anti-Akw-Protesten regelmäßig ab
- Massenarbeitslosigkeit in den 80ern
- Kulturstreit um Weizsäckerrede, "Historikerstreit"
- Streit um §218
- Tabuthema Homosexuelle, "Weltgeißel" AIDS
- Uneinigkeit über das "Wie" der Wiedervereinigung
- Euro- und Finanzkrisen der 00er Jahre
... nur kam damals niemand auf die Idee, deswegen gleich unseren demokratischen Rechtsstaat in Frage zu stellen und - entgegen aller eigenen Erfahrungen und aktuellen Anschauungsobjekte wie Putin-Russland oder der Erdogan-Türkei - sein Heil bei rechten Rattenfängern/Autokraten/Diktatoren zu suchen.
Was also hat sich in den letzten 5-10 Jahren verändert? Tickten 20% der deutschen Wähler früher auch schon so, hatten nur eben keine "Alternative" und wählten deshalb "zähneknirschend" die jeweilige Opposition?
Ich wehre mich gegen diese Einschätzung. Krisen, die uns herausfordern, gab es immer.
Neu ist diese destruktive Haltung, die sich in 20% Zustimmung für die AfD ausdrückt. Und die ist, wenn Du mich fragst ganz eng an die Wirkungsweise der sozialen Medien und deren Echokammern gekoppelt.
Und dabei dann ist es noch ironischerweise so, dass die Krisen, die sich tatsächlich in ihrer Wirkung und Bedeutung auf unser Leben und unsere Sicherheit in einer ganz anderen Qualität auswirken (Klimawandel, Putins Angriffskrieg, die Unterwanderung der EU durch Leute wie Orban, der Wegfall der USA als zuverlässigem Verbündeten) als sämtliche zuvor genannten Krisen gerade nicht die sind, die die AfD-Klientel beunruhigen ...
Aber vielleicht ist das ja auch eine Erkenntnis: In einer immer fragmentierter werdenden Gesellschaft, die sich eben nicht mehr wie in den seligen 80ern am Samstag Abend zu "Wetten, dass!?" um den Fernseher versammelt, muss die Mehrheit akzeptieren, einen Anteil "politischer Komplettverweigerer" einfach dauerhaft auszuhalten?