Ich fange mal mit meiner eigenen Biographie an: Als Kind war ich noch religiös. Ich hatte vor der Pubertät zeitweilig sogar den Berufswunsch, katholischer Priester zu werden. Irgendwann hatte ich aber Angst vor der christlichen Apokalypse. Bzw. den ganzen anderen Geschichten, die in der Bibel stehen. Religion als solche hat für mich folglich etwas irrational-beängstigendes, aber nicht tröstliches. Die Tatsache, dass ich dann zum Atheisten wurde, empfand ich zunächst als Befreiung von einem Teil meiner Ängste. Ich sehe mich seitdem eher als rationalen und analytischen Menschen. Aber macht mich diese Selbstbefreiung von der Religion hin zum Atheismus hin automatisch zu einem glücklicheren Menschen? Offensichtlich nicht.
Meine Beobachtung bei anderen Leuten ist diese: Religiöse Menschen sind unfähig, sich selbst zu lieben. Deswegen brauchen sie dieses Hilfskonstrukt „Gott“. Im besten Fall können sie sich selbst lieben, weil sie glauben, dass ihr imaginierter „Gott“ sie liebt. Sehr viele richtig religiöse und spirituelle Menschen erscheinen mir aber lebenslang unerlöst zu sein. Sie leiden. Weil sie das Problem falsch anpacken. Ich selbst wiederum bin zwar seit über dreißig Jahren befreit von der Religion. Aber „gottlos glücklicher“ war ich seitdem nicht. Das musste ich leider irgendwann feststellen. Religion mag zwar nach Karl Marx „Opium des Volkes“ sein. Wobei ich mich eher für Nietzsche interessierte, der den „Tod Gottes“ propagierte. Aber ganz ohne echte Erdung lebt es sich trotzdem nicht viel besser.
In der letzten Zeit kam mir die Idee, dass der Schlüssel in mir selbst liegen muss. Nur wenn man wirklich fähig ist, sich selbst zu lieben, kann man auch andere lieben. Ansonsten sind Beziehungen überhaupt oder positive Beziehungen nicht möglich. Man bleibt entweder alleine oder gerät in toxische zwischenmenschliche Beziehungsmodelle. Wer sich selbst richtig lieben kann, braucht dann auch keine Hilfskonstruktion „Gott“. Und ich will auch nicht zurück. Ebenso wenig ist er dann auch von der Anerkennung anderer abhängig.
Doch was ist Liebe? Was ist Selbstliebe? Und was nicht? Narzissmus und Egoismus gehören nicht dazu. Ich lese im Übrigen gerade das Buch „Mit mir sein. Selbstliebe als Basis für Begegnung und Beziehung“ des österreichischen Psychotherapeuten Michael Lehofer. Dieser liefert mir derzeit ein paar sehr gute Gedanken. Man muss demnach zuerst einmal lernen, sich selbst zu lieben und die eigenen Bedürfnisse zu achten. Da dies bei den meisten Menschen zu kurz kommt, können auch die restlichen Beziehungen zu den anderen Mitmenschen leiden. Und das Selbst leidet auch. Viele Menschen flüchten sich in Süchte, nur um vor sich selbst zu fliehen. Andere flüchten sich in Konsum oder sie streben nach Macht und Reichtum. Doch auch dies stellt der Autor als sinnloses Unterfangen dar, da man sich selbst dadurch keinen Schritt näher kommt. Selbstliebe ist aber notwendig, um erstens seelisches Wachstum zu erlangen und zweitens mit anderen Menschen wirkliche Beziehungen zu führen. Oder der Autor erwähnt auch die sogenannten Lebenshungrigen, die nur leben, um irgendwann in der Zukunft ihrem eigenen Wunschbild von sich selbst zu entsprechen. Aber Freiheit ist nur möglich, wenn man ja sagen kann zu sich selbst. Wenn man sich dagegen viele Möglichkeiten offenhalten will, um „Wahlfreiheit“ zu erlangen, so macht dies Angst. Angst beispielsweise davor, etwas zu verpassen. Angst ist aber das Gegenteil von Freiheit. Nur wer bedingungslos ja sagen kann zu sich selbst, wird von dieser Angst erlöst.
Die Liebe als solche ist auch nur dann echt, wenn sie bedingungslos ist. In diesem Sinne hält er auch von den Religionen nichts. Natürlich gibt es das Theodizee-Problem. Und den Spruch „Und der Mensch schuf sich seinen Gott nach seinem Angesichte“. Der Autor meint aber sinngemäß, dass die sogenannte Gottesliebe nicht bedingungslos sei. Ich sage es mal in meinen Worten: Der christliche oder der islamische Gott zum Beispiel liebt seine Jünger nur unter der Bedingung, dass diese sich an seine Regeln halten. Ansonsten droht ihnen die ewige Höllenstrafe. Und natürlich, was nicht genannt wurde in dem Buch: Das Christentum kennt ja auch noch die Erbsünde. Und wie kann man sich selbst lieben, wenn man doch potentiell böse und schlecht sei? Da die Liebesvorstellung der Religionen, in der alles kleinlich aufgewogen wird, nicht bedingungslos ist, hält der Autor nichts davon. Er fragt sich, warum die Geistlichen des Christentums immer noch versuchen, die sogenannte Liebe zu ihrem Gott zu erlangen -ein Gott, der in meinen eigenen Augen auch rachsüchtig und eifersüchtig ist-, anstatt zu sehen, dass die Lösung in ihnen selbst liegt.
Religionen sind also nur Scheinlösungen. Man giert nach der Liebe eines imaginierten Gottes. Und dieser soll einem dann helfen, dass man sich selbst lieben kann. Atheismus alleine bringt einen jedoch noch nicht dazu, sich selbst und seine Mitmenschen zu lieben. Man kann auch als Atheist zu einem zynischen Nihilisten werden, der weder sich selbst noch seine Mitmenschen wirklich lieben kann. Solche Leute sind nicht unbedingt „gottlos glücklicher“. Ich selbst sehe mich eher als Humanisten. Jedoch denke ich mittlerweile, dass nach der Phase der Religionsgläubigkeit und des einfachen Atheistendaseins eine dritte Phase in meinem Leben kommen muss. Ich weiß noch nicht, wie diese aussehen wird. Aber der Schlüssel zu allen Problemen sehe ich in mir selbst. Nur wenn man fähig ist, sich selbst zu lieben und mit sich Frieden zu schließen, wird man fähig sein, zufriedenstellende Beziehungen mit anderen Leuten zu führen bzw. mit dem Rest der Welt in Frieden zu leben und seelisch zu wachsen.
Ich habe dieses Buch noch nicht ganz durchgelesen. Ich werde sicher noch mehr gute Ideen daraus schöpfen. Vielleicht kann ich auch dann besser erläutern, wie die Selbstliebe besser funktionieren kann. Bis dahin will ich hiermit diesen Text hier diskutieren. Und vielleicht weiß auch der oder die eine oder andere, wie man es besser schaffen kann, „gottlos glücklicher“ zu leben.

