Was ist eigentlich "Kultur"?

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imp
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von imp »

Die Asiaten haben eine fortschrittliche Klosettkultur. Da kann Deutschland nicht mithalten. Vor allem Japan.
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krone
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von krone »

[email protected] hat geschrieben:(14 Nov 2017, 19:26)

Die Asiaten haben eine fortschrittliche Klosettkultur.
Blödsinn.
In Asien scheissen 0.00001% in Schüsseln aus puren Gold.

Der Rest scheisst wo er gerade steht .
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Sextus Ironicus
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Sextus Ironicus »

Selina hat geschrieben:(14 Nov 2017, 19:10)

Ach? Hier geht es um einen "wissenschaftlichen Kulturbegriff"? Alles klar. Welchen von den vielen wissenschaftlichen Kulturbegriffen bevorzugst du denn?
Den ich im Nachbarthread schon gepostet habe heute, wonach der Kulturbegriff "eine jeweilige Gesamtheit symbolischer, ideeler und materieller Ausdrucksformen umfasst. Diese können sich auf konkrete Interaktionsverhältnisse, Institutionen, gruppen- oder gesellschaftsspezifische Ritualisierungen beziehen, die bewusst oder unbewusst vollzogen werden und somit als Stabilität garantierende normen- und wertbezogene Bindungen verstanden werden."

Der scheint mir brauchbar, auch wenn er nicht der Weisheit letzter Schluss sein muss. Zumindest ist frei von allen romantischen, ideellen und normativen Inhalten. Was für Diskussionen um Kultur schon immer ein großer Vorteil ist - zumindest wenn man nicht nur ideologische Steinchenwerferei miteinander betreiben möchte. Man muss sich ja nicht auf den Kulturbegriff selbst einigen, aber wenigstens darüber, worum man eigentlich streitet.
… habe ich mich sorgsam bemüht, menschliche Tätigkeiten nicht zu verlachen, nicht zu beklagen und auch nicht zu verdammen, sondern zu begreifen. (Spinoza)
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Selina
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Selina »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(14 Nov 2017, 19:40)

Den ich im Nachbarthread schon gepostet habe heute, wonach der Kulturbegriff "eine jeweilige Gesamtheit symbolischer, ideeler und materieller Ausdrucksformen umfasst. Diese können sich auf konkrete Interaktionsverhältnisse, Institutionen, gruppen- oder gesellschaftsspezifische Ritualisierungen beziehen, die bewusst oder unbewusst vollzogen werden und somit als Stabilität garantierende normen- und wertbezogene Bindungen verstanden werden."

Der scheint mir brauchbar, auch wenn er nicht der Weisheit letzter Schluss sein muss. Zumindest ist frei von allen romantischen, ideellen und normativen Inhalten. Was für Diskussionen um Kultur schon immer ein großer Vorteil ist - zumindest wenn man nicht nur ideologische Steinchenwerferei miteinander betreiben möchte. Man muss sich ja nicht auf den Kulturbegriff selbst einigen, aber wenigstens darüber, worum man eigentlich streitet.
Naja, ich weiß nicht. Ich hatte ja schon oft geschrieben, dass es eine große Vielfalt an Kulturbegriffen gibt und die sich in ständigem Wandel befinden. Damit muss man halt leben können. Aber auch das hier hatten schon mehrere User im Thread als Versuch einer Definition angeboten. Scheint mir am praktikabelsten zu sein:

Zitat:

Bereits die Herkunft des Wortes "Kultur", das vom lateinischen "colere" (pflegen, urbar machen) bzw. "cultura" und "cultus" (Landbau, Anbau, Bebauung, Pflege und Veredlung von Ackerboden) abgeleitet ist, also aus der Landwirtschaft stammt, verweist auf einen zentralen Aspekt sämtlicher Kulturbegriffe: Sie bezeichnen das "vom Menschen Gemachte" bzw. "gestaltend Hervorgebrachte" – im Gegensatz zu dem, was nicht vom Menschen geschaffen, sondern von Natur aus vorhanden ist.

http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/k ... urbegriffe
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Sextus Ironicus
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Sextus Ironicus »

Selina hat geschrieben:(15 Nov 2017, 09:15)

Naja, ich weiß nicht. Ich hatte ja schon oft geschrieben, dass es eine große Vielfalt an Kulturbegriffen gibt und die sich in ständigem Wandel befinden. Damit muss man halt leben können. Aber auch das hier hatten schon mehrere User im Thread als Versuch einer Definition angeboten. Scheint mir am praktikabelsten zu sein:

Zitat:

Bereits die Herkunft des Wortes "Kultur", das vom lateinischen "colere" (pflegen, urbar machen) bzw. "cultura" und "cultus" (Landbau, Anbau, Bebauung, Pflege und Veredlung von Ackerboden) abgeleitet ist, also aus der Landwirtschaft stammt, verweist auf einen zentralen Aspekt sämtlicher Kulturbegriffe: Sie bezeichnen das "vom Menschen Gemachte" bzw. "gestaltend Hervorgebrachte" – im Gegensatz zu dem, was nicht vom Menschen geschaffen, sondern von Natur aus vorhanden ist.

http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/k ... urbegriffe
Naja, die Unterscheidung Kultur/Natur ist selbst schon wieder eine, die ab dem 16. JH in Europa aufkam, während es immer noch andere Kulturen gibt, die diesen Dualismus nicht kennen. Und er hilft für das, worum es wirklich geht, überhaupt nicht weiter. Mal ein paar unordentliche Gedanken dazu:

Die Fragestellung "Was ist eigentlich Kultur" ist eine zutiefst deutsche. Die deutsche Sprache ist sehr nominal- und damit absolut substanzlastig, während zum Beispiel das Englische eher verbal- und damit prozess-/funktionslastig ist. Das wirkt sich, da alles Denken sprachlich ist, natürlich aus, denn "was ist" giert nach abschließenden Definitionen, während "wie geht/funktioniert das" Beschreibungen verlangt. Man kann also bei letzterem viel häufiger auch zeigen statt reden. In Ost- und Südostasien ist es ähnlich, dort herrscht, plakativ gesprochen eher Prozessontologie als Substanontologie vor.

Für die Frage nach der Kultur hat das Folgen. Die sozialwissenschaftliche BEGRIFFSDEFINITION, die ich gab, richtet sich etwas mehr auf Prozesse.

Ob es eine Vielfalt an Kulturbegriffen gibt, ist auch gar nicht spannend - es gibt schließlich (noch) eine Vielfalt an Kulturen, auch wenn die Zahl ständig abnimmt. Von den aktuell 6.000 Sprachen werden um die Jahrhundertmitte etwa die Hälfte verschwunden sein, und mit jeder Sprache verschwindet eine Kultur. Was übrigens nicht ausschließt, dass sich theoretisch eine Kultur von einer anderen Kultur nur in kleinsten Nuancen unterscheidet. Auf die Vielfalt komme ich vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt, falls hier eine Diskussion entsteht, zurück. Wobei das besser in den anderen Thread passen würde. Hier würde es reichen festzuhalten: So wie die Frage "Was ist Erdanziehungskraft?" nur prozesstheoretisch und nicht substanztheoretisch beantwortet werden kann, so gilt das auch für "Was ist Kultur?" Im Grunde weiß das auch jeder, aber die Deutschen sind gerne normativ verspannt und neigen dazu, die Existenz von einfachen "Dingen" an normative Bedingungen zu knüpfen. Am Kulturbegriff wird das am sinnfälligsten. Wie und warum genau, kann man anhand der anderen Frage im anderen Thrread diskutieren.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Dark Angel »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(14 Nov 2017, 10:31)

Ob es "untergeordnet" wird, weiß ich nicht genau, aber es wird getrennt betrachtet. Huntington hatte auch nicht vom Kampf der Kulturen gesprochen, sondern eigentlich "Clash of Civilisation" gesagt. Leider verwischt sich das im deutschen titel und wird dadurch dramatisiert.

Die Definition finde ich unschärfer als meine, die ich aus dem Bourdieu-Handbuch im anderen Kulturthread gegeben habe.

In der hier gegebenen ist ("die Menschen als Teil der Gesellschaft in sozialem Lernen erworben haben") müsste es wenigstens heißen "die Menschen als Teil EINER Gesellschaft in sozialem Lernen erworben haben."
Zustimmung, diese Aussage ist konkreter. Aus dieser Aussage/Definition, lässt sich (auch) besser ableiten, wie kulturelle Unterschiede entstehen. :thumbup:
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von schokoschendrezki »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(15 Nov 2017, 09:48)
Hier würde es reichen festzuhalten: So wie die Frage "Was ist Erdanziehungskraft?" nur prozesstheoretisch und nicht substanztheoretisch beantwortet werden kann, so gilt das auch für "Was ist Kultur?" Im Grunde weiß das auch jeder, aber die Deutschen sind gerne normativ verspannt und neigen dazu, die Existenz von einfachen "Dingen" an normative Bedingungen zu knüpfen. Am Kulturbegriff wird das am sinnfälligsten. Wie und warum genau, kann man anhand der anderen Frage im anderen Thrread diskutieren.
Eine "prozesstheoretische" Definition ist dabei nicht etwa die einfachere, anschaulichere, praktikablere sondern in der Regel die abstraktere und oft auch schwerer verständliche. In der Schule wird ein "Vektor" als eine "gerichtete Größe im 2- oder 3-dimensionalen Raum" eingeführt. Bei der abstraktest möglichen wird der eigentliche Kern des Begriffs über das Verhalten von Vektoren bei Operationen definiert. Deshalb sind tatsächlich Fragen wie etwa "Wie vermittelt sich Kultur" näher am Wesen des Begriffs dran als normative Was-ist-Fragen. Ich habe unlängst einen Artikel gelesen, der der (oft gewählten) Definition von Kultur als "Landkarte der Bedeutungen" entgegensetzt, Kultur sei nicht etwa eine solche statisch gegebene Landkarte sondern der (individuelle oder in Gruppen vollzogene) spezifische dynamische Prozess der Entschlüsselungen und Interpretationen dieser Bedeutungen.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Dark Angel »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(14 Nov 2017, 17:50)

Natürlich meine ich das so - weil das, was ich mit "Entdeckungen" ansprach nichts mit der Ebene zu tun hatte, auf der sich das Beispiel mit der Reisegruppe bewegt hat. Ein einstein, ein Hawking und auch jeder normale Tüftler, Bastler, Theoretiker, der im Zuge der theoretischen Neugier "entdeckt", folgt dem, was in seiner Kultur an Vorwissen usw. aber auch an Möglichkeiten vorhanden ist. Dass Einstein oder Hawking zu einer ganz bestimmten Zeit in einer ganz bestimmten Kultur (westlich, analytisch geprägt) auftauchen und nicht im Mittleren Osten oder in Amazonien hat kulturelle Gründe. Und wenn man aus dieser Tatsache und den bestehenden kulturellen Unterschieden keine moralische Tatsache und keine moralischen Unterschiede oder gar irgendwie biologischen Ableitungen macht, sondern eine, die sich eben aus den Bedingungen und den Möglichkeiten ergeben hat, dann ist das völlig rational. Wo wäre das Problem?
Eine m.M.n sehr wichtige und entscheidende Aussage, die jedoch von einigen ideologisch verblendeten Zeitgenossen nicht akzeptiert wird bzw werden kann.
Für die ist jeder wertneutrale Vergleich, verschiedener Kulturen miteinander und die Beschreibung von vorhandenen Unterschieden (auch Antagonismen) grundsätzlich wertend. Diese Zeitgenossen unterstellen jedem, der es wagt, auf Unterschiede hinzuweisen und zu beschreiben eine (moralisch) wertende Überhöhung der "eigenen" Kultur und damit auch eine moralische Abwertung jeder anderen Kultur.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Sextus Ironicus »

schokoschendrezki hat geschrieben:(15 Nov 2017, 10:38)

Eine "prozesstheoretische" Definition ist dabei nicht etwa die einfachere, anschaulichere, praktikablere sondern in der Regel die abstraktere und oft auch schwerer verständliche.
Zustimmung, und damit trägt man im Falle der Kultur ihrer wirklich unendlichen Komplexität Rechnung. Und es fördert das Hinschauen. Im Human Brain Project schaffen sie es nicht einmal, das neuronale Netzwerk des Gehirns im Maßstab 1:1 hinzubekommen, und gleichzeitig verlangt man im Grunde auf eine Frage wie "Was ist (eine bestimmte) Kultur?", die Interaktionen von riesigen Menschengruppen beinhaltet, mit einer simplen Definition zu beantworten.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Sextus Ironicus »

Dark Angel hat geschrieben:(15 Nov 2017, 10:44)

Eine m.M.n sehr wichtige und entscheidende Aussage, die jedoch von einigen ideologisch verblendeten Zeitgenossen nicht akzeptiert wird bzw werden kann.
Für die ist jeder wertneutrale Vergleich, verschiedener Kulturen miteinander und die Beschreibung von vorhandenen Unterschieden (auch Antagonismen) grundsätzlich wertend. Diese Zeitgenossen unterstellen jedem, der es wagt, auf Unterschiede hinzuweisen und zu beschreiben eine (moralisch) wertende Überhöhung der "eigenen" Kultur und damit auch eine moralische Abwertung jeder anderen Kultur.
Es gibt einen schönen Gedanken des österreichischen Philosophen Konrad Paul Liessmann in seinem Büchlein "Lob der Grenze", in dem er darauf hinweist, dass am Anfang jeder Erkenntnis die Einsicht stehe, dass etwas genau dieses und nicht jenes ist.

Nachtrag: Bekanntermaßen gilt ja das Primat des Normativen vor dem Ontologischen sowieso. :D
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Dark Angel »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(15 Nov 2017, 11:03)

Es gibt einen schönen Gedanken des österreichischen Philosophen Konrad Paul Liessmann in seinem Büchlein "Lob der Grenze", in dem er darauf hinweist, dass am Anfang jeder Erkenntnis die Einsicht stehe, dass etwas genau dieses und nicht jenes ist.
:D Diesen Satz sollten sich einige Zeitgenossen aber ganz dick hinter die Ohren schreiben (oder ins Poesiealbum schreiben lassen).

Der bedeutet nix anderes, als dass eben nichts (in diesem Fall Kultur) beliebig ist oder beliebig austauschbar und schon gar kein Einheitsbrei.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Sextus Ironicus »

Dark Angel hat geschrieben:(15 Nov 2017, 11:36)

:D Diesen Satz sollten sich einige Zeitgenossen aber ganz dick hinter die Ohren schreiben (oder ins Poesiealbum schreiben lassen).

Der bedeutet nix anderes, als dass eben nichts (in diesem Fall Kultur) beliebig ist oder beliebig austauschbar und schon gar kein Einheitsbrei.
Die Spezies Sozialkonstruktivus vulgaris würde jetzt aber nach dem Paddington-Prinzip der Unzufriedenheit ("Paddington gave him a hard stare") reagieren und intervenieren :D

Und ja, so wie beispielsweise Frau Merkel nicht Lady Gaga ist, ist halt die Kultur x nicht die Kultur y. Was immer das dann auf welcher Ebene auch bedeuten mag.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von pikant »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(15 Nov 2017, 12:03)



Und ja, so wie beispielsweise Frau Merkel nicht Lady Gaga ist, ist halt die Kultur x nicht die Kultur y.
grossartige Erkenntnis, die man mal aussprechen sollte fuer die Menschen, die nicht Frau Merkel und auch nicht Lady Gaga kennen - Danke!
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Sextus Ironicus »

pikant hat geschrieben:(15 Nov 2017, 12:07)

grossartige Erkenntnis, die man mal aussprechen sollte fuer die Menschen, die nicht Frau Merkel und auch nicht Lady Gaga kennen - Danke!
Keine Ursache. Es ist ja kein Unglück, beide nicht zu kennen. Daraus aber abzuleiten, es gäbe keine von beiden, wäre eine andere Nummer.

Womit wir wieder zur Kulturfrage zurückkehren können, die oft so tiefenunentspannt und schnappatmig geführt wird. Und bei der es schon ein Gewinn wäre, wenn man Sätze wie "es gibt keine (spezifische) deutsche/thailändische/chilenische usw." als unsinnig erkennen würde.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von pikant »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(15 Nov 2017, 12:44)

Keine Ursache. Es ist ja kein Unglück, beide nicht zu kennen. Daraus aber abzuleiten, es gäbe keine von beiden, wäre eine andere Nummer.

Womit wir wieder zur Kulturfrage zurückkehren können, die oft so tiefenunentspannt und schnappatmig geführt wird. Und bei der es schon ein Gewinn wäre, wenn man Sätze wie "es gibt keine (spezifische) deutsche/thailändische/chilenische usw." als unsinnig erkennen würde.
die Kultur ist vielfaeltig, was man ja auch an der Musik sieht!
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Sextus Ironicus »

pikant hat geschrieben:(15 Nov 2017, 12:52)

die Kultur ist vielfaeltig, was man ja auch an der Musik sieht!
Ist denn jede Kultur gleichermaßen vielfältig? Und wäre eine Kultur, die nicht vielfältig ist, keine Kultur mehr? Kann sie zur Vielfalt gezwungen werden? Wer bestimmt, wann einer Kultur die Eigenschaft "vielfältig" zugeschrieben wird? Welche Voraussetzung müsste eine Kultur erfüllen? Und ist das immer positiv? Ist Vielfalt eher Qualität oder eher Quantität? Oder ist Vielfalt ein moralisches Gebot innerhalb einer Kultur? Wie oder wodurch entsteht Vielfalt?

Das wären so ein paar Fragen, die allein zum Thema Vielfalt zu stellen wären. Aber damit die sich stellen, darf die spezifische Grundlage nicht selbst in Frage gestellt werden. Vielfalt entsteht nur dort, wo vieles, also beispielsweise unterschiedliche spezifische Kulturen vorhanden ist ---> siehe den zitierten Gedanken von Liessmann, ohne den wir Vielfalt gar nicht denken könnten. Denn ist alles unterschiedslos eines, wäre der Begriff nicht mehr verständlich, also nicht existent.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von schokoschendrezki »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(15 Nov 2017, 11:03)

Es gibt einen schönen Gedanken des österreichischen Philosophen Konrad Paul Liessmann in seinem Büchlein "Lob der Grenze", in dem er darauf hinweist, dass am Anfang jeder Erkenntnis die Einsicht stehe, dass etwas genau dieses und nicht jenes ist.
Und das gilt nicht nur für das (geographische) Nebeneinander verschiedener Kulturen sondern auch für das zeitliche Nacheinander der Kultur in ein- und derselben geographischen Region. Panta Rhei.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von pikant »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(15 Nov 2017, 13:04)

Ist denn jede Kultur gleichermaßen vielfältig? Und wäre eine Kultur, die nicht vielfältig ist, keine Kultur mehr? Kann sie zur Vielfalt gezwungen werden? Wer bestimmt, wann einer Kultur die Eigenschaft "vielfältig" zugeschrieben wird? Welche Voraussetzung müsste eine Kultur erfüllen? Und ist das immer positiv? Ist Vielfalt eher Qualität oder eher Quantität? Oder ist Vielfalt ein moralisches Gebot innerhalb einer Kultur? Wie oder wodurch entsteht Vielfalt?
.
1. Jeder Teilbereich einer Kultur ist unterschiedlich vielfaeltig

2. doch

3. nein

4. jeder selbst

5. muss jeder selbst entscheiden

6. kommt auf die subjektive Sichtweise an

7. Vielfalt ist Vielfalt und hat nichts mit Qualitaet oder Quantitaet zu tun

8. Vielfalt hat mit Moral nichts zu tun

9. Vielfalt entsteht durch Angebot
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Selina »

schokoschendrezki hat geschrieben:(15 Nov 2017, 10:38)

Eine "prozesstheoretische" Definition ist dabei nicht etwa die einfachere, anschaulichere, praktikablere sondern in der Regel die abstraktere und oft auch schwerer verständliche. In der Schule wird ein "Vektor" als eine "gerichtete Größe im 2- oder 3-dimensionalen Raum" eingeführt. Bei der abstraktest möglichen wird der eigentliche Kern des Begriffs über das Verhalten von Vektoren bei Operationen definiert. Deshalb sind tatsächlich Fragen wie etwa "Wie vermittelt sich Kultur" näher am Wesen des Begriffs dran als normative Was-ist-Fragen. Ich habe unlängst einen Artikel gelesen, der der (oft gewählten) Definition von Kultur als "Landkarte der Bedeutungen" entgegensetzt, Kultur sei nicht etwa eine solche statisch gegebene Landkarte sondern der (individuelle oder in Gruppen vollzogene) spezifische dynamische Prozess der Entschlüsselungen und Interpretationen dieser Bedeutungen.
Genau. Diese Definition ist mir am sympathischsten. Das kommt auch dem sehr nahe, was ich mit "vielen verschiedenen Kulturbegriffen" meinte. Auf die Gefahren eines zu starren abgrenzenden Kulturbegriffes wird hier hingewiesen:

Zitat

Insgesamt unterstreicht gerade die Vielfalt der Kulturbegriffe die Einsicht, dass "Kultur" als ein diskursives Konstrukt zu begreifen ist, das auf unterschiedlichste Weise begriffen, definiert und erforscht werden kann. Eine wichtige Funktion von Kultur besteht darin, dass "sie nach innen hin integrativ, nach außen hin hierarchisch und ausgrenzend funktioniert". Einerseits trägt Kultur zur individuellen und kollektiven Identitätsbildung bei; andererseits gehen die für Kulturen kennzeichnenden Standardisierungen des Denkens, Fühlens und Handelns oft mit einer Ausgrenzung des Anderen einher. Der Kulturbegriff verleitet dazu, Kulturen zu stark als homogene Gemeinschaften wahrzunehmen und ihre interne Heterogenität zu vernachlässigen. Dem wirken neue Ansätze, die sich mit Inter-, Multi- und Transkulturalität beschäftigen, entgegen.

http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/k ... urbegriffe
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Sextus Ironicus »

Selina hat geschrieben:(15 Nov 2017, 13:13)

Genau. Diese Definition ist mir am sympathischsten. Das kommt auch dem sehr nahe, was ich mit "vielen verschiedenen Kulturbegriffen" meinte. Auf die Gefahren eines zu starren abgrenzenden Kulturbegriffes wird hier hingewiesen:

Zitat

Insgesamt unterstreicht gerade die Vielfalt der Kulturbegriffe die Einsicht, dass "Kultur" als ein diskursives Konstrukt zu begreifen ist, das auf unterschiedlichste Weise begriffen, definiert und erforscht werden kann. Eine wichtige Funktion von Kultur besteht darin, dass "sie nach innen hin integrativ, nach außen hin hierarchisch und ausgrenzend funktioniert". Einerseits trägt Kultur zur individuellen und kollektiven Identitätsbildung bei; andererseits gehen die für Kulturen kennzeichnenden Standardisierungen des Denkens, Fühlens und Handelns oft mit einer Ausgrenzung des Anderen einher. Der Kulturbegriff verleitet dazu, Kulturen zu stark als homogene Gemeinschaften wahrzunehmen und ihre interne Heterogenität zu vernachlässigen. Dem wirken neue Ansätze, die sich mit Inter-, Multi- und Transkulturalität beschäftigen, entgegen.

http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/k ... urbegriffe
Das sind aber zwei vollkommen unterschiedliche Kulturbegriffe. Der erste ist ein deskriptiver, der zweite stammt aus dem postmodernen Sozialkonstruktivismus und ist zu 100 % normativ konstruiert. Dort möchte man jeden Kulturbegriff durch normative Prämissen legitimieren oder entsprechend delegitimieren. Das entspricht dem Prinzip vom Primat des Normativen, was unwissenschaftlicher Unfug ist, in diesem Falle eine Art Prozesstheologie.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von BlueMonday »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(15 Nov 2017, 09:48)

Die Fragestellung "Was ist eigentlich Kultur" ist eine zutiefst deutsche. Die deutsche Sprache ist sehr nominal- und damit absolut substanzlastig, während zum Beispiel das Englische eher verbal- und damit prozess-/funktionslastig ist. Das wirkt sich, da alles Denken sprachlich ist, natürlich aus, denn "was ist" giert nach abschließenden Definitionen, während "wie geht/funktioniert das" Beschreibungen verlangt..
Auch englisch sprechende Menschen fragen sich, was "culture" ist oder noch viel häufiger, was Kunst/art ist.
Das eigentliche Problem bei solchen Fragen ist oft die Hypostase/Reifikation, also dass man damit anfängt, nach den Begriffen als fassbare und wirksame Dinge zu suchen. Diese Dinge als wirksame Voraussetzung für etwas anderes, und gerade nicht als rein gedanklich folgendes Konstrukt, als Résumé von etwas längst Getanem und immer wieder Getanem, das man dann einen Namen gibt, damit man auch darüber sprechen kann.

So musste dann eine englisch denkende und sprechende Margaret Thatcher erst explizit zu ihren Landsleuten werden mit ihrem berühmten Satz: "There's no such thing as society". Und so sucht man auch nach einem Ding namens Kultur, und man findet es freilich nicht als etwas Fassbares, so wenig wie man die Gesellschaft, das Volk oder den Staat finden wird, dem man gegenübertreten könnte.

Also: man kann wohl etwas "kulturvoll" tun und dann im Gegensatz auch nicht. Das, was man ganz beiläufig, ohne jede Erwähnung, ohne jede Notiznahme, ohne jedes besondere Bewusstsein tut ... ist wohl kulturlos, alles andere kulturvoll.

Der Winter kommt, die Schleimhäute sind gereizt und in Bewegung, sondern Flüssigkeiten und Schleim ab. Und wie man sich nun diesem Schleim entledigt, dafür kann man eine Kultur entwickeln, also ein Bewusstsein, ein extra angefertiges Schnäuztuch, eine Kultur des Naseschnäuzens... oder man spuckt das Ganze achtlos und kulturlos aus oder schluckt es herunter, aus gedankenloser Notwendigkeit. Man kratzt sich, weil es kratzt. Oder man macht auch daraus eine (Gegen)Kultur, einen Kult.
ensure that citizens are informed that the vaccination is not mandatory and that no one is under political, social or other pressure to be vaccinated if they do not wish to do so;
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Selina »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(15 Nov 2017, 13:21)

Das sind aber zwei vollkommen unterschiedliche Kulturbegriffe. Der erste ist ein deskriptiver, der zweite stammt aus dem postmodernen Sozialkonstruktivismus und ist zu 100 % normativ konstruiert. Dort möchte man jeden Kulturbegriff durch normative Prämissen legitimieren oder entsprechend delegitimieren. Das entspricht dem Prinzip vom Primat des Normativen, was unwissenschaftlicher Unfug ist, in diesem Falle eine Art Prozesstheologie.
Könntest du bitte in verständlichen Worten sagen, was das bedeuten soll? Danke.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Sextus Ironicus »

BlueMonday hat geschrieben:(15 Nov 2017, 13:52)

Auch englisch sprechende Menschen fragen sich, was "culture" ist oder noch viel häufiger, was Kunst/art ist.
Tun sie, aber sie sind dabei weniger besessen vom substanziellen Verstehen, sondern konzentrieren sich mehr auf das prozessurale oder funktionale Verstehen. Ihre Sprache bietet ihnen da auch viel mehr Verbalisierungswerkzeuge.
BlueMonday hat geschrieben:(15 Nov 2017, 13:52)
Das eigentliche Problem bei solchen Fragen ist oft die Hypostase/Reifikation, also dass man damit anfängt, nach den Begriffen als fassbare und wirksame Dinge zu suchen. Diese Dinge als wirksame Voraussetzung für etwas anderes, und gerade nicht als rein gedanklich folgendes Konstrukt, als Résumé von etwas längst Getanem und immer wieder Getanem, das man dann einen Namen gibt, damit man auch darüber sprechen kann.

So musste dann eine englisch denkende und sprechende Margaret Thatcher erst explizit zu ihren Landsleuten werden mit ihrem berühmten Satz: "There's no such thing as society". Und so sucht man auch nach einem Ding namens Kultur, und man findet es freilich nicht als etwas Fassbares, so wenig wie man die Gesellschaft, das Volk oder den Staat finden wird, dem man gegenübertreten könnte.

Also: man kann wohl etwas "kulturvoll" tun und dann im Gegensatz auch nicht. Das, was man ganz beiläufig, ohne jede Erwähnung, ohne jede Notiznahme, ohne jedes besondere Bewusstsein tut ... ist wohl kulturlos, alles andere kulturvoll.

Der Winter kommt, die Schleimhäute sind gereizt und in Bewegung, sondern Flüssigkeiten und Schleim ab. Und wie man sich nun diesem Schleim entledigt, dafür kann man eine Kultur entwickeln, also ein Bewusstsein, ein extra angefertiges Schnäuztuch, eine Kultur des Naseschnäuzens... oder man spuckt das Ganze achtlos und kulturlos aus oder schluckt es herunter, aus gedankenloser Notwendigkeit. Man kratzt sich, weil es kratzt. Oder man macht auch daraus eine (Gegen)Kultur, einen Kult.
So, schauen wir mal, was mir hierzu einfällt.

Die eiserne Lady hat das Zitat, wenn ich mich recht erinnere, beim Hayek geklaut.

Ob man Volk, Gesellschaft usw. nicht findet, ihnen nicht gegenübertreten kann, weil man nichts Fassbares findet? Heißt das im Ergebnis: Es gibt keine Gesellschaft, kein Volk? Für Hayek und Thacher war das eine politische Frage, keine erkenntnistheoretische! Eine Gegenfrage lautet: Hat unser Sprechen einen Sinn? Verwirklichen wir also beispielsweise in einem Sprechakt etwas, was es ohne ihn nicht geben könnte, wie auch manche annehmen? Und was bedeutet "gegenübertreten"? Wenn jemand in der 30er-Zone 100 fährst, wird ihm der Staat in Form irgendeiner seiner Institutionen ggf. unabhängig von jedem Ding-Begriff gegenübertreten und zur Kasse bitten. Und unser Grundgesetz mag nun auch nicht von einem Ding sprechen, wenn es das Volk meint. Was genau es ist, ist dabei (erst einmal) egal.

Was den letzten Absatz angeht: Sehr nettes Beispiel, da zeigt sich der deutsche Pferdefuß des "Begriffes" (nicht zu verwechseln mit der Sache selbst). Hier kann man an Tausende von Begriffen den Begriff "Kultur" anhängen, um einer Sache eine Art höhere Bedeutung zu verleihen. Dieser rein sprachliche, meist irgendwelchen Interessen geschuldete Akt ist halt ein Teil der deutschen Kultur aufgrund unserer Sprache. Funktioniert nicht überall auf der Welt so.

Die Frage der Vergegenständlichung ist nun wieder rein philosophisch und würde wohl weit wegführen. Meine zitierte Definition und ein paar andere hier reichen als Grundlage wohl aus.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Sextus Ironicus »

Selina hat geschrieben:(15 Nov 2017, 14:41)

Könntest du bitte in verständlichen Worten sagen, was das bedeuten soll? Danke.
Kurz gesagt behaupte ich, dass der Kulturbegriff dort von einem Sollen abhängig gemacht wird. Das ist Religion.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Selina »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(15 Nov 2017, 15:11)

Kurz gesagt behaupte ich, dass der Kulturbegriff dort von einem Sollen abhängig gemacht wird. Das ist Religion.
Kann ich nicht sehen. Dort wird einfach beschrieben, was es derzeit so gibt an Kulturbegriffen und wie der praktische Umgang mit ihnen ist. Das ist reine Beschreibung und Analyse des momentanen Ist-Zustandes, kein "Sollen". Daher nochmal der kurze Ausschnitt aus dem Zitat (Quelle hatte ich bereits angegeben):

"Einerseits trägt Kultur zur individuellen und kollektiven Identitätsbildung bei; andererseits gehen die für Kulturen kennzeichnenden Standardisierungen des Denkens, Fühlens und Handelns oft mit einer Ausgrenzung des Anderen einher. Der Kulturbegriff verleitet dazu, Kulturen zu stark als homogene Gemeinschaften wahrzunehmen und ihre interne Heterogenität zu vernachlässigen. Dem wirken neue Ansätze, die sich mit Inter-, Multi- und Transkulturalität beschäftigen, entgegen."
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Sextus Ironicus »

Selina hat geschrieben:(15 Nov 2017, 15:33)

Kann ich nicht sehen. Dort wird einfach beschrieben, was es derzeit so gibt an Kulturbegriffen und wie der praktische Umgang mit ihnen ist. Das ist reine Beschreibung und Analyse des momentanen Ist-Zustandes, kein "Sollen". Daher nochmal der kurze Ausschnitt aus dem Zitat (Quelle hatte ich bereits angegeben):

"Einerseits trägt Kultur zur individuellen und kollektiven Identitätsbildung bei; andererseits gehen die für Kulturen kennzeichnenden Standardisierungen des Denkens, Fühlens und Handelns oft mit einer Ausgrenzung des Anderen einher. Der Kulturbegriff verleitet dazu, Kulturen zu stark als homogene Gemeinschaften wahrzunehmen und ihre interne Heterogenität zu vernachlässigen. Dem wirken neue Ansätze, die sich mit Inter-, Multi- und Transkulturalität beschäftigen, entgegen."

Der Kulturbegriff verleitet dazu, Kulturen zu stark als homogene Gemeinschaften wahrzunehmen und ihre interne Heterogenität zu vernachlässigen. Dem wirken neue Ansätze, die sich mit Inter-, Multi- und Transkulturalität beschäftigen, entgegen.

Ich habe mal markiert. Also unmissverständlicher kann man doch nicht sagen, dass man moralischen Mängeln abhelfen möchte. Das heißt, Kultur soll nicht so beschrieben werden, wie sie wahrgenommen WIRD, sondern wie sie wahrgenommen werden SOLL. Das ist ja gut, wenn es so deutlich und ohne großes nebelkerziges Herumreden ausgesprochen wird. Das Sollen soll das Bewusstsein bestimmen, das ist das, was ich als säkulare Theologie bezeichne.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Selina »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(15 Nov 2017, 16:03)

Der Kulturbegriff verleitet dazu, Kulturen zu stark als homogene Gemeinschaften wahrzunehmen und ihre interne Heterogenität zu vernachlässigen. Dem wirken neue Ansätze, die sich mit Inter-, Multi- und Transkulturalität beschäftigen, entgegen.

Ich habe mal markiert. Also unmissverständlicher kann man doch nicht sagen, dass man moralischen Mängeln abhelfen möchte. Das heißt, Kultur soll nicht so beschrieben werden, wie sie wahrgenommen WIRD, sondern wie sie wahrgenommen werden SOLL. Das ist ja gut, wenn es so deutlich und ohne großes nebelkerziges Herumreden ausgesprochen wird. Das Sollen soll das Bewusstsein bestimmen, das ist das, was ich als säkulare Theologie bezeichne.
Nochmal: Das ist schlicht eine Beschreibung/Analyse des Vorgefundenen. Und fasst im Übrigen auch gut zusammen, was hier oft diskutiert wird von einigen. Ein Kulturbegriff, der ausgrenzt, ist einfach nicht akzeptabel für aufgeklärte Menschen. Und um es mal auf eine praktische nachvollziehbare Ebene herunterzubrechen: Ich hab es immer schon als bereichernd empfunden, mit einer bunten Truppe von Leuten aus aller Herren Länder zusammenzusitzen, gemeinsam zu musizieren und Theater zu spielen statt immer nur mit den eigenen Landsleuten. Keine Kultur ist besser als die andere oder gar "mehr wert" als die andere, so dass sich daraus sowas Irrationales wie etwa eine "Leitkultur" erklären ließe.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Sextus Ironicus »

Selina hat geschrieben:(17 Nov 2017, 10:16)

Nochmal: Das ist schlicht eine Beschreibung/Analyse des Vorgefundenen. Und fasst im Übrigen auch gut zusammen, was hier oft diskutiert wird von einigen. Ein Kulturbegriff, der ausgrenzt, ist einfach nicht akzeptabel für aufgeklärte Menschen. Und um es mal auf eine praktische nachvollziehbare Ebene herunterzubrechen: Ich hab es immer schon als bereichernd empfunden, mit einer lustigen bunten Truppe von Leuten aus aller Herren Länder zusammenzusitzen, gemeinsam zu musizieren und Theater zu spielen als immer nur mit den eigenen Landsleuten. Keine Kultur ist besser als die andere oder gar "mehr wert" als die andere, so dass sich daraus der Anspruch einer "Leitkultur" erklären ließe.
Es ist für einen wissenschaftlichen Kulturbegriff vollkommen irrelevant. Aufgabe einer Beschreibung des Phänomens ist die Wirklichkeit wie sie ist, nicht wie sie sein soll. Und Leitkultur, wie ich erklärt hatte, ist ein politischer (Kampf)Begriff und kein Kulturbegriff. Du möchtest dass Kultur das ist, was sie nach deiner Meinung sein soll oder die Gültigkeit des Begriffes davon abhängig machen, welche Folgen das hätte.

Ich stelle mal zur Erklärung zwei Links ein:

https://de.wikipedia.org/wiki/Humes_Gesetz
https://bookofbadarguments.com/de/

(Seite 10 z.B.)
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Selina »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(17 Nov 2017, 10:25)

Es ist für einen wissenschaftlichen Kulturbegriff vollkommen irrelevant. Aufgabe einer Beschreibung des Phänomens ist die Wirklichkeit wie sie ist, nicht wie sie sein soll. Und Leitkultur, wie ich erklärt hatte, ist ein politischer (Kampf)Begriff und kein Kulturbegriff. Du möchtest dass Kultur das ist, was sie nach deiner Meinung sein soll oder die Gültigkeit des Begriffes davon abhängig machen, welche Folgen das hätte.

Ich stelle mal zur Erklärung zwei Links ein:

https://de.wikipedia.org/wiki/Humes_Gesetz
https://bookofbadarguments.com/de/

(Seite 10 z.B.)
Nö, die Realität ist einfach so, das hat nix mit irgendwelchen Wünsche von mir zu tun. Schau dich um an den Theatern, Hochschulen, in den Bibliotheken, Forschungseinrichtungen und Uni-Kliniken, dort geht es nun mal sehr gemischt zu und keiner denkt im Ernst daran, andere auszugrenzen oder sich selbst für etwas Besseres zu halten. Im Gegenteil: Ohne das Know-how aus dem Ausland würden wir manchmal ganz schön alt aussehen. Das ist einfach der Stand der Dinge. Das wird auch ein kleines Häufchen Neurechter nicht mehr ändern können. Zum Glück.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von schokoschendrezki »

Der primäre und wesentliche und objektiv gegebene gesellschaftliche Trend weltweit besteht darin, Kulturzugehörigkeiten aufzulösen. Völlig unabhängig davon, wie man das subjektiv bewertet. Daran besteht doch überhaupt kein Zweifel. Von der Jazzmusik bis hin zum Hollywood-Kino, vom Pizza-Lokal bis hin zum Yoga-Zentrum in jedem Winkel der Erde. Und ebensowenig Zweifel besteht daran, dass der Kulturzugehörigkeitswahn der letzten 10,20 Jahre im wesentlichen eine Gegenreaktion darauf ist. Es gibt aus meiner Sicht nur eine angemessene Reaktion darauf: Gelassen, distanziert und gleichzeitg kritisch als unabhängiger Beobachter daneben zu stehen.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Provokateur »

schokoschendrezki hat geschrieben:(17 Nov 2017, 10:41)
Der primäre und wesentliche und objektiv gegebene gesellschaftliche Trend weltweit besteht darin, Kulturzugehörigkeiten aufzulösen. Völlig unabhängig davon, wie man das subjektiv bewertet.
Das ist die eurozentrische und amerikozentrische Sichtweise. Allerdings wird sich mit dem (zwangsläufigen) Fall der amerikanischen Hochkultur (wann der erfolgt, ist fraglich, dass ein solcher Fall erfolgt, ist einen anthropologische Konstante) auch wieder der Drang zu "eigenen" Kulturen verstärken. Dass eine Hochkultur sämtliche Subkulturen überstrahlt, ist ja nichts neues, das Prinzip ist altbekannt.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Sextus Ironicus »

Selina hat geschrieben:(17 Nov 2017, 10:31)

Nö, die Realität ist einfach so, das hat nix mit irgendwelchen Wünsche von mir zu tun. Schau dich um an den Theatern, Hochschulen, in den Bibliotheken, Forschungseinrichtungen und Uni-Kliniken, dort geht es nun mal sehr gemischt zu und keiner denkt im Ernst daran, andere auszugrenzen oder sich selbst für etwas Besseres zu halten. Im Gegenteil: Ohne das Know-how aus dem Ausland würden wir manchmal ganz schön alt aussehen. Das ist einfach der Stand der Dinge. Das wird auch ein kleines Häufchen Neurechter nicht mehr ändern können. Zum Glück.
Ok, um auch mal ein sauschlechtes Argument in Frageform zu bringen: Die indigenen Völker Amazoniens, wo es nicht gemischt zugeht, wie ist das dort? Keine Kultur? Kein Kulturbegriff möglich?

Und noch einmal: Du machst die Realität, auf die du dich berufst, rein von dem abhängig, was sein soll (vielfalt, bunt etc.)

Falls man weiterkommen möchte: Nimm doch mal meine Definition von Bourdieu und erläutere, was daran falsch ist.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von schokoschendrezki »

Provokateur hat geschrieben:(17 Nov 2017, 10:50)

Das ist die eurozentrische und amerikozentrische Sichtweise. Allerdings wird sich mit dem (zwangsläufigen) Fall der amerikanischen Hochkultur (wann der erfolgt, ist fraglich, dass ein solcher Fall erfolgt, ist einen anthropologische Konstante) auch wieder der Drang zu "eigenen" Kulturen verstärken. Dass eine Hochkultur sämtliche Subkulturen überstrahlt, ist ja nichts neues, das Prinzip ist altbekannt.
Der Fall der amerikanischen Hochkultur hat ja schon begonnen ... Aber an die Stelle der USA als Übermacht sind internationale Riesenkonzerne getreten. Ich würde es eher als naturgesetzlich bezeichnen, dass sich lange gültige scheinbare anthropologische "Konstanten" als dann doch variabel erweisen. Die globale Vernetzung von heute ist die neue Wirklichkeit. Die ist nicht "altbekannt". Die gabs noch nicht.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Provokateur »

schokoschendrezki hat geschrieben:(17 Nov 2017, 10:57)

Der Fall der amerikanischen Hochkultur hat ja schon begonnen ... Aber an die Stelle der USA als Übermacht sind internationale Riesenkonzerne getreten. Ich würde es eher als naturgesetzlich bezeichnen, dass sich lange gültige scheinbare anthropologische "Konstanten" als dann doch variabel erweisen. Die globale Vernetzung von heute ist die neue Wirklichkeit. Die ist nicht "altbekannt". Die gabs noch nicht.
Das mit der Vernetzung ist richtig. Fraglich ist, ob sich hier ein nivellierender Impact eines erstmalig erscheinenden Globalismus bemerkbar macht oder ob die Gegentendenz, das "Othering" (welches ja sowohl bei Einzelpersonen als auch bei Gruppen zu beobachten ist) hier den dominierenden Part einnehmen wird.

Ob die amerikanische Hochkultur schon fällt - das stelle ich in Frage. Eine Hochkultur dominiert über mehrere Jahrhunderte. Amerika ist erst seit dem ersten Weltkrieg eine Weltmacht.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von schokoschendrezki »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(17 Nov 2017, 10:53)

Ok, um auch mal ein sauschlechtes Argument in Frageform zu bringen: Die indigenen Völker Amazoniens, wo es nicht gemischt zugeht, wie ist das dort? Keine Kultur? Kein Kulturbegriff möglich?

Und noch einmal: Du machst die Realität, auf die du dich berufst, rein von dem abhängig, was sein soll (vielfalt, bunt etc.)

Falls man weiterkommen möchte: Nimm doch mal meine Definition von Bourdieu und erläutere, was daran falsch ist.
Ich weiß nicht. Für Bordieu ist Kultur ja "Kapital". Vor allem im Kampf um Aufstieg und Wohlstand. Das mag ja sogar stimmen. Aber welcher Anteil daran ist denn tatsächlich "volksbezogen". Was an logischem Denkvermögen, Kenntnissen in Java-Programmierung und so weiter ist auch nur irgendwie spezifisch für irgendeine Nation, Ethnie, Religion oder Weltregion.

Oder anders gefragt: Ist der wiederaufgelebte Rückbezug auf eine spezifische Kultur tatsächlich ein bewusstes kluges Ergreifen einer wirksamen Waffe oder nicht doch eher ein Ausdruck der Ohnmächtigkeit und der Flucht in die Vergangenheit angesichts der Globalisierung.

Ich würde auch noch mal dringend darauf hinweisen, dass zwischen "Kulturalismus" als "Rassismus ohne Rassen" und der schönen Buntheit des "Multikulturalismus" gar kein so wesentlicher Unterschied besteht. In beiden Fällen wird "Kultur" als essenziell und bestimmend gesehen. Wenn man schon das "Sein" anstelle des "Sollens" betont, würde ich mich als reales Zukunftsschicksal des Menschen eher auf ein "auf-sich-selbst-Gestelltsein" einrichten.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Selina »

schokoschendrezki hat geschrieben:(17 Nov 2017, 10:41)

Der primäre und wesentliche und objektiv gegebene gesellschaftliche Trend weltweit besteht darin, Kulturzugehörigkeiten aufzulösen. Völlig unabhängig davon, wie man das subjektiv bewertet. Daran besteht doch überhaupt kein Zweifel. Von der Jazzmusik bis hin zum Hollywood-Kino, vom Pizza-Lokal bis hin zum Yoga-Zentrum in jedem Winkel der Erde. Und ebensowenig Zweifel besteht daran, dass der Kulturzugehörigkeitswahn der letzten 10,20 Jahre im wesentlichen eine Gegenreaktion darauf ist. Es gibt aus meiner Sicht nur eine angemessene Reaktion darauf: Gelassen, distanziert und gleichzeitg kritisch als unabhängiger Beobachter daneben zu stehen.
Genau. Du sagst es. Da sind vielfältige Prozesse schon so lange im Gange, als eine Art kulturelle Internationalisierung, die keiner aufhalten kann. Diese zunehmenden Verflechtungen auf vielen Gebieten zu beschreiben und zu diskutieren, fände ich zum Beispiel viel interessanter, als permanent so eine Nabelschau zu betreiben. "Kulturzugehörigkeitswahn", ja, das beschreibt es perfekt, was ich oben gemeint hatte.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Sextus Ironicus »

schokoschendrezki hat geschrieben:(17 Nov 2017, 11:37)

Wenn man schon das "Sein" anstelle des "Sollens" betont, würde ich mich als reales Zukunftsschicksal des Menschen eher auf ein "auf-sich-selbst-Gestelltsein" einrichten.
Das ist vermutlich die Klammer, die die Vertreter der Libertären und der ethischen Universalisten verbindet (Carolin Emcke ist hier die legitime Schwester von Ayn Rand) - wenn auch mit unterschiedlichen Interessenlagen, aber es läuft unterm Strich fürs Individuum hierauf hinaus. Aber daraus würde sich (woran ich ohnehin aus anthropologischer Skepsis heraus grundsätzlich zweifle) nur dann ein Frieden in der vollkommen Einfalt (kulturell) ergeben, wenn allgemeiner Wohlstand herrscht. Für mich reine Illusion. Die Möglichkeiten aus meiner Sicht sind ein Rückfall in die alten vorstaatlichen Clanstrukturen oder aber es gibt einen Egalitarismus, wie er beispielsweise in Margaret Atwoods "Der Report der Magd" beschrieben ist, wobei das digitale Zeitalter natürlich noch ganz andere Möglichkeiten der Totalitarität bietet.

Mir geht es beim Kulturbegriff nur darum, dass er helfen würde zu verstehen, wie man geworden ist, was man ist (die Gesellschaft in ihrer aktuellen Form, nicht der Einzelne). Aber sobald man die Realität eben unter diesen Sollensvorbehalt stellt, betreibt man Theologie oder Heilsgeschichte.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von schokoschendrezki »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(17 Nov 2017, 12:30)

Das ist vermutlich die Klammer, die die Vertreter der Libertären und der ethischen Universalisten verbindet (Carolin Emcke ist hier die legitime Schwester von Ayn Rand) - wenn auch mit unterschiedlichen Interessenlagen, aber es läuft unterm Strich fürs Individuum hierauf hinaus. Aber daraus würde sich (woran ich ohnehin aus anthropologischer Skepsis heraus grundsätzlich zweifle) nur dann ein Frieden in der vollkommen Einfalt (kulturell) ergeben, wenn allgemeiner Wohlstand herrscht.
Die Separierungsbestrebungen etwa in Katalonien scheinen auf den ersten Blick eine Art Gemeinschaftsprojekt im Namen einer verbindenden Kultur und Sprache zu sein. Sie sind aber auch in nicht geringem Anteil eine Entsolidarisierung. Mit den etwas ärmeren Regionen Spaniens. Konsequent weitergedacht, wird sich diese Entsolidarisierung auch "innerkatalonisch" fortsetzen. Und in der Tendenz auf ein "auf-sich-selbst-Gestelltsein" wenn nicht vielleicht einzelner Individuen so doch - vielleicht ist der Ausdruck ja ganz richtig - einzelner Clans landen. Ich sage ja nicht, dass ich das uneingeschränkt positiv finde.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Sextus Ironicus »

schokoschendrezki hat geschrieben:(17 Nov 2017, 13:17)

Die Separierungsbestrebungen etwa in Katalonien scheinen auf den ersten Blick eine Art Gemeinschaftsprojekt im Namen einer verbindenden Kultur und Sprache zu sein. Sie sind aber auch in nicht geringem Anteil eine Entsolidarisierung. Mit den etwas ärmeren Regionen Spaniens. Konsequent weitergedacht, wird sich diese Entsolidarisierung auch "innerkatalonisch" fortsetzen.
Ja, den ökonomischen Aspekt sehe ich ebenso. Nüchtern betrachtet war halt "interessant", dass es trotz Berufung auf Kultur und Sprache sehr "unausgrenzerisch" gegen Nicht-Katalanisches war (kein Vergleich zu anderen nationalistischen Strömungen). Und die weitere nüchterne Botschaft ist: Sezession ist nur mit Gewalt durchzusetzen. Menke und Garcia Düttmann haben das schön formuliert:
die Demokratie kann nur dann eine lebendige sein, wenn sie ihren Ort auch außerhalb der Verfassung hat, dort, von wo aus allein Anstöße zu Verfassungsänderungen kommen können. So problematisch der Bezug zwischen einem Innen und einem Außen der Verfassung in der Demokratie sein mag, wenn sie sich gegen antidemokratische Tendenzen und bloße Willkür schützen will, so klar ist, dass ein Legalismus, der den Bezug auf die Demokratie jenseits der Verfassung einfach leugnet, sie bereits preisgegeben und Naturwüchsigkeit an die Stelle von Geschichte gesetzt hat.
(Quelle: http://www.zeit.de/2017/44/spanien-kata ... tie-europa

Aber die Entsolidarisierung wird sich in größeren oder kleineren Einheiten ohnehin fortsetzen. Wie könnte es auch anders sein, wenn jede Gruppenzugehörigkeit immer schon unter Generalverdacht gestellt wird?
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von schokoschendrezki »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(17 Nov 2017, 13:50)
Aber die Entsolidarisierung wird sich in größeren oder kleineren Einheiten ohnehin fortsetzen. Wie könnte es auch anders sein, wenn jede Gruppenzugehörigkeit immer schon unter Generalverdacht gestellt wird?
Den Fingerzeig habe ich wohl verstanden ... :) Aber die Kausalrichtung ist umgekehrt. Gruppen werden, noch bevor man ihnen misstrauisch begegnet, immer schon vor einen ideologischen Karren gespannt: Vor dem Misstrauen gegenüber "Klassenbewusstsein" steht die Erfahrung des realen Sozialismus. Vor dem Misstrauen gegenüber Religionszugehörigkeit stehen Mittelalter, Inquisition und später die Ehe zwischen der protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus. Vor dem Misstrauen gegenüber Nationenzugehörigkeit steht der Nationalismus samt seinen Auswüchsen. Irgendwann ist Schluss und die Ablehnung von Gruppenzugehörigkeit könnte sich noch als sozusagen vorgreifende Inanspruchnahme und Besetzung der individualistischen Position erweisen, die (noch) mit humanistischem Inhalt ausgefüllt werden kann, bevor sie von der rabiaten Ökonomisierung ausgefüllt wird.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Sextus Ironicus »

schokoschendrezki hat geschrieben:(17 Nov 2017, 15:25)

Den Fingerzeig habe ich wohl verstanden ... :) Aber die Kausalrichtung ist umgekehrt. Gruppen werden, noch bevor man ihnen misstrauisch begegnet, immer schon vor einen ideologischen Karren gespannt: Vor dem Misstrauen gegenüber "Klassenbewusstsein" steht die Erfahrung des realen Sozialismus. Vor dem Misstrauen gegenüber Religionszugehörigkeit stehen Mittelalter, Inquisition und später die Ehe zwischen der protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus. Vor dem Misstrauen gegenüber Nationenzugehörigkeit steht der Nationalismus samt seinen Auswüchsen. Irgendwann ist Schluss und die Ablehnung von Gruppenzugehörigkeit könnte sich noch als sozusagen vorgreifende Inanspruchnahme und Besetzung der individualistischen Position erweisen, die (noch) mit humanistischem Inhalt ausgefüllt werden kann, bevor sie von der rabiaten Ökonomisierung ausgefüllt wird.
Mhm, ich würde das nicht rundum als vor ideologischen Karren spannen bezeichnen. Gruppen sind erst einmal schlicht eine anthropologische Geschichte, oder nicht? Das menschliche Erfolgsmodell basiert ja auf Kooperation (die Tomasello als Ursprung für die Moral setzt). Und im innersten Zirkel braucht man für die hierzu erforderliche Loyalität (mir gefällt dieser Begriff Michael Walzers besser als Moral) wenig ideologiefähige Beschreibung. Je weiter wir uns nach außen bewegen in dieser konzentrischen Anordnung, desto dichter werden die Beschreibungen (nach Walzers Modell), und je dichter die Beschreibungen desto stärker spielen Machtfragen (und damit Ideologiefragen) für die Durchsetzung/Erzwingung von Loyalität eine Rolle. Aber umgekehrt scheint es mir auch so, als würde die Ausmerzung von Gruppenzugehörigkeit aufgrund des Umstands ihrer Abgrenzungsbedürfnisse nicht nur alle Loyalitäten auflösen, sondern auch das größte Kapital zerstören, das erfolgreiche Gesellschaften/Gruppen aufweisen, nämlich das Vertrauen. Was man auch daran ablesen kann, dass Vertreter von sehr universalistischen Modellen eine umfassende Verrechtlichung von gesellschaftlichen Beziehungen anstreben, wobei, wie Rorty vor 25 Jahren schon festgestellt hat mit Blick auf seine Gesellschaft, nur noch Identitätspolitik betrieben wird, aber die sozialen, die ökonomischen Aspekte außen vor bleiben. Was kein Wunder ist angesichts derjenigen, die da zugange sind. Würde man Marx alte Lumpenproletariatsdefinition aufgreifen und modifizieren, müsste man diese Identitätspolitiker dem oberen Lumpenproletariat zuordnen. :D

Was die Ausfüllung individualistischer Positionen mit humanistischen Inhalten angeht, so hab ich mir neulich mal notiert: Einem Gedanken der Aufklärung zufolge ist der Mensch von Natur aus dumm und roh, aber erziehbar. Man braucht, selbst als möglicher Zweifler oder notorischer Pessimist, diese Vorstellung nicht in Bausch und Bogen zu verdammen, sie nicht grundsätzlich als Ammenmärchen abtun. Jedoch ließe sich die rein behavioristische Pointe der Hoffnung präzisieren und wieder auf ihre anthropologische Ebene stellen, indem man »erziehbar« durch »korrumpierbar« ersetzt.

Nach dem Ende des Wohlstands kehrt der Mensch wieder zu seinen Ursprüngen zurück.

Dann wird also entleert werden :D
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

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Selina hat geschrieben:(17 Nov 2017, 11:49)

"Kulturzugehörigkeitswahn", ja, das beschreibt es perfekt, was ich oben gemeint hatte.
Bevor du überhaupt Mama oder Papa denken kannst, gehörst du schon zu einer Kultur. Alles, was du wirst, insbesondere in der Zeit in der sich dein Gehirn entwickelt, ist immer schon kulturell vermittelt, bevor es Gegenstand deines Nachdenkens werden kann. Ob Händeschütteln oder Rentenversicherung, ob Geschwindigkeitsbegrenzung oder Minirock, verganes Essen oder Rauchen, Weintrinken oder Robbenessen, du bewegst dich immer in einem ganz bestimmten kulturellen Horizont. Dass der nicht hermetisch abgeriegelt ist in einer von Mobilität geprägten Welt, ist dabei eine Binsenweisheit.

Dein Kulturbegriff ist ein vollkommen reduktionistischer, ein normativer, ein heilsgeschichtlicher. Er muss nicht empirisch belegt werden, sondern geglaubt werden. Aus genau diesem Grund hat sich die Kirche gegen Aufklärung und Wissenschaft gewehrt. Sie wusste, dass ihre naturrechtliche und normengestützte Weltsicht nicht zu halten war.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Selina »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(17 Nov 2017, 18:28)

Bevor du überhaupt Mama oder Papa denken kannst, gehörst du schon zu einer Kultur. Alles, was du wirst, insbesondere in der Zeit in der sich dein Gehirn entwickelt, ist immer schon kulturell vermittelt, bevor es Gegenstand deines Nachdenkens werden kann. Ob Händeschütteln oder Rentenversicherung, ob Geschwindigkeitsbegrenzung oder Minirock, verganes Essen oder Rauchen, Weintrinken oder Robbenessen, du bewegst dich immer in einem ganz bestimmten kulturellen Horizont. Dass der nicht hermetisch abgeriegelt ist in einer von Mobilität geprägten Welt, ist dabei eine Binsenweisheit.

Dein Kulturbegriff ist ein vollkommen reduktionistischer, ein normativer, ein heilsgeschichtlicher. Er muss nicht empirisch belegt werden, sondern geglaubt werden. Aus genau diesem Grund hat sich die Kirche gegen Aufklärung und Wissenschaft gewehrt. Sie wusste, dass ihre naturrechtliche und normengestützte Weltsicht nicht zu halten war.
Meine Intentionen sind ganz andere. Selbstverständlich leben wir immer in bestimmten kulturellen Zusammenhängen, lernen oft in Gruppen (Elternhaus, Geschwister, Schulklasse, Seminar an der Hochschule etcpp), das ist ne Binse. Ich finde halt nur, dass diese Diskussion, die seit einigen Jahren über Kulturen und den "Kampf der Kulturen" geführt werden, immer auch gleichzeitig etwas mit Abgrenzung und Zensuren-Verteilen (um im Schulbild zu bleiben) zu tun haben. Hier kann man es seit Wochen nachlesen. Aber die verschiedenen Kulturen sind nun mal, wie sie sind, sie durchdringen sich global immer mehr und wenns gut läuft, befruchten sie auch einander. Und es gibt auch eine bestimmte "Kultur des Kapitals", die künstliche Grenzen errichtet, zwischen Arm und Reich, zwischen Leuten mit und ohne Chancen, zwischen Regionen mit Prosperität und abgehängten dahindämmernden Regionen usw.usf. Diese scheinbar kulturellen Widersprüche sind in Wahrheit also zutiefst ökonomische, die mit der jetzigen Form des Kapitalismus zu tun haben. Mit einem der vielen Kulturbegriffe kannst du diese Prozesse nicht adäquat beschreiben.
Drüben im Walde kängt ein Guruh - Warte nur balde kängurst auch du. Joachim Ringelnatz
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Sextus Ironicus
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Sextus Ironicus »

Selina hat geschrieben:(17 Nov 2017, 18:48)

Meine Intentionen sind ganz andere. Selbstverständlich leben wir immer in bestimmten kulturellen Zusammenhängen, lernen oft in Gruppen (Elternhaus, Geschwister, Schulklasse, Seminar an der Hochschule etcpp), das ist ne Binse. Ich finde halt nur, dass diese Diskussion, die seit einigen Jahren über Kulturen und den "Kampf der Kulturen" geführt werden, immer auch gleichzeitig etwas mit Abgrenzung und Zensuren-Verteilen (um im Schulbild zu bleiben) zu tun haben. Hier kann man es seit Wochen nachlesen. Aber die verschiedenen Kulturen sind nun mal, wie sie sind, sie durchdringen sich global immer mehr und wenns gut läuft, befruchten sie auch einander. Und es gibt auch eine bestimmte "Kultur des Kapitals", die künstliche Grenzen errichtet, zwischen Arm und Reich, zwischen Leuten mit und ohne Chancen, zwischen Regionen mit Prosperität und abgehängten dahindämmernden Regionen usw.usf. Diese scheinbar kulturellen Widersprüche sind in Wahrheit also zutiefst ökonomische, die mit der jetzigen Form des Kapitalismus zu tun haben. Mit einem der vielen Kulturbegriffe kannst du diese Prozesse nicht adäquat beschreiben.
Nein, Begriffe sind nicht die Sache selbst, da stimme ich zu. Es gibt Tomaten und das Wort Tomate. Zum Kampf der Kulturen hatte ich auch schon geschrieben - Huntington hatte civilisation und nicht culture gesagt, aber leider machen wir im Deutschen die Differenzierung nicht analog zum Englischen. "Eine Kultur des Kapitals" gibt es auch nicht, das ist eine politische Metapher, mit der auf einen bestimmten, innerhalb der kulturellen Institutionen ablaufenden Prozess verwiesen wird. Und Prozesse des Abgrenzens und der Zensuren (sprich: des moralischen Urteilens) gibt es in allen Kulturen. Und um mein Anliegen noch einmal klar zu machen: Eigentlich möchte ich den Begriff der Kultur vor dem Zugriff des Politischen retten bzw. ihn nicht darauf reduzieren. Und alle, vom Nationalisten über den Liberalen bis zum Genderisten und Kommunisten, sind scharf darauf, zur Durchsetzung ihrer politischen Interessen Zugriff auf den Kulturbegriff zu bekommen. Aber Kultur ist viel mehr - sofern man sich nicht die Losung "Das Private ist politisch" zu eigen macht. Politik ist ein Teilbereich der Kultur.
… habe ich mich sorgsam bemüht, menschliche Tätigkeiten nicht zu verlachen, nicht zu beklagen und auch nicht zu verdammen, sondern zu begreifen. (Spinoza)
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Selina
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Selina »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(17 Nov 2017, 19:36)

Nein, Begriffe sind nicht die Sache selbst, da stimme ich zu. Es gibt Tomaten und das Wort Tomate. Zum Kampf der Kulturen hatte ich auch schon geschrieben - Huntington hatte civilisation und nicht culture gesagt, aber leider machen wir im Deutschen die Differenzierung nicht analog zum Englischen. "Eine Kultur des Kapitals" gibt es auch nicht, das ist eine politische Metapher, mit der auf einen bestimmten, innerhalb der kulturellen Institutionen ablaufenden Prozess verwiesen wird. Und Prozesse des Abgrenzens und der Zensuren (sprich: des moralischen Urteilens) gibt es in allen Kulturen. Und um mein Anliegen noch einmal klar zu machen: Eigentlich möchte ich den Begriff der Kultur vor dem Zugriff des Politischen retten bzw. ihn nicht darauf reduzieren. Und alle, vom Nationalisten über den Liberalen bis zum Genderisten und Kommunisten, sind scharf darauf, zur Durchsetzung ihrer politischen Interessen Zugriff auf den Kulturbegriff zu bekommen. Aber Kultur ist viel mehr - sofern man sich nicht die Losung "Das Private ist politisch" zu eigen macht. Politik ist ein Teilbereich der Kultur.
Das ist schon klar, dass es keine "Kultur des Kapitals" gibt, hier dienen die Anführungszeichen, die ich setzte, der Ironisierung. Wenn schon, dann müsste es "Unkultur des Kapitals" heißen :D Die Aussage "Politik ist ein Teilbereich der Kultur" kann man so und so bewerten. Nimmst du den weiteren Kulturbegriff, könnte man sie gelten lassen. Der engere Kulturbegriff schließt dagegen die Politik nicht mit ein.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von unity in diversity »

Selina hat geschrieben:(17 Nov 2017, 20:02)

Das ist schon klar, dass es keine "Kultur des Kapitals" gibt, hier dienen die Anführungszeichen, die ich setzte, der Ironisierung. Wenn schon, dann müsste es "Unkultur des Kapitals" heißen :D Die Aussage "Politik ist ein Teilbereich der Kultur" kann man so und so bewerten. Nimmst du den weiteren Kulturbegriff, könnte man sie gelten lassen. Der engere Kulturbegriff schließt dagegen die Politik nicht mit ein.
Die Straßen werden im westlichen Finanzkapitalismus immer abenteuerlicher und die Fahrzeuge immer unglaubwürdiger.
Deshalb hat man neue Hinweispiktogramme erfunden:
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Sextus Ironicus »

Selina hat geschrieben:(17 Nov 2017, 20:02)

Das ist schon klar, dass es keine "Kultur des Kapitals" gibt, hier dienen die Anführungszeichen, die ich setzte, der Ironisierung. Wenn schon, dann müsste es "Unkultur des Kapitals" heißen :D Die Aussage "Politik ist ein Teilbereich der Kultur" kann man so und so bewerten. Nimmst du den weiteren Kulturbegriff, könnte man sie gelten lassen. Der engere Kulturbegriff schließt dagegen die Politik nicht mit ein.
Den engeren Kulturbegriff in dem Sinne gibt es nicht. Alles Handeln, alle Institutionen sind Teil der Kultur. Es gibt kein "Außen" der Kultur. Unser GG in seinen Maximen ist ebenso ein Ausdruck der Kultur wie die Art, wie wir einander im Leben jenseits des Politischen begegnen und uns die hand geben zur Begrüßung oder dabei die Hände vorm Körper falten. Und "Unkultur" ist ein moralisches Urteil auf Basis deiner Moral/Wertvorstellungen. Das ist erneut so ein Beispiel, wo etwas, was (nicht) sein soll, angeblich (nicht) ist. Das ist wieder Theologie, säkulare halt.
… habe ich mich sorgsam bemüht, menschliche Tätigkeiten nicht zu verlachen, nicht zu beklagen und auch nicht zu verdammen, sondern zu begreifen. (Spinoza)
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Selina »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(17 Nov 2017, 21:56)

Den engeren Kulturbegriff in dem Sinne gibt es nicht. Alles Handeln, alle Institutionen sind Teil der Kultur. Es gibt kein "Außen" der Kultur. Unser GG in seinen Maximen ist ebenso ein Ausdruck der Kultur wie die Art, wie wir einander im Leben jenseits des Politischen begegnen und uns die hand geben zur Begrüßung oder dabei die Hände vorm Körper falten. Und "Unkultur" ist ein moralisches Urteil auf Basis deiner Moral/Wertvorstellungen. Das ist erneut so ein Beispiel, wo etwas, was (nicht) sein soll, angeblich (nicht) ist. Das ist wieder Theologie, säkulare halt.
Naja, da biste schon etwas frei in der Interpretation meiner Worte. Ich finde einfach, du überbetonst die Rolle der Kultur.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

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Sextus Ironicus hat geschrieben:(17 Nov 2017, 21:56) Alles Handeln, alle Institutionen sind Teil der Kultur.
Das ist - bezogen auf das Handeln - falsch.
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Re: Was ist eigentlich "Kultur"?

Beitrag von Sextus Ironicus »

Selina hat geschrieben:(17 Nov 2017, 22:55)

Naja, da biste schon etwas frei in der Interpretation meiner Worte. Ich finde einfach, du überbetonst die Rolle der Kultur.
Kannst du mal ein Beispiel für menschliches Handeln geben, das außerhalb eines kulturellen Kontextes vollzogen werden kann?
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