Gutmensch » Do 14. Jun 2012, 12:19 hat geschrieben:
Hier stoßen also Interpretation auf Interpretation. Ihnen wäre der Satz zu absolut und PublicEye kann den Satz nur so interpretieren, wie er ihn vorfand. Inhaltlich sehen Sie und PublicEye das gleiche und kritisieren es auf ihre Weise. Sie kritisieren den Absolutheitsanspruch, PublicEye den Inhalt und die darin enthaltene Verhaltensvorschrift. Im Grunde ist Absolutheit aber ein zentraler Anspruch fast aller Religionen. Mich wundert es nicht, wenn ein Islamgelehrter Vorschriften so formuliert, dass sie absolut klingen. Wenn Sie mich fragen, die Vorschriften klingen nicht nur absolut, sie sind so gemeint. Der Islam erhebt so wie das Christentum auch den Anspruch im Besitz der universell gültigen Wahrheit zu sein. Absoluter geht nicht mehr.
eine religion wird sicher zumeist die existenz einer absoluten wahrheit annehmen.
das hindert den gläubigen aber nicht notwendigerweise an der erkenntnis, dass zumindest die wahrheit, die er erkennen kann, relativ ist. es hindert den gläubigen auch nicht notwendigerweise an der erkenntnis, dass es auch keine absoluten vorschriften geben kann, sondern nur vorschriften, die relativ sind zum entwicklungsstand einer gesellschaft, wobei idealerweise mit fortschreitender entwicklung die verhaltensweisen des menschen immer besser, ethisch "einwandfreier" werden.
um noch einmal - unter vorbehalt - al-ghazali zu bemühen:
"die wirkung des handelns besteht darin, das zu beseitigen, was nicht sein soll, das streben nach wissen darin, das zu erlangen, was sein soll. die beseitigung dessen, was nicht sein soll, bedingt, dass platz gemacht wird für das, was sein soll. das bedingte ist das ziel; es ist edler als die bedingung. [...]" (mizan al-'amal, vi. übersetzung von el-shazli.)
und weiter:
"du hast bereits erfahren, dass die seele zwei kräfte besitzt: die eine richtet sich nach oben, wodurch sie die wahrheiten der universellen, notwendigen und theoretischen wissenschaften von den höheren scharen der engel empfängt. dies sind die sicheren, [immer und ewig]* wahrhaftigen wissenschaften, die sich niemals durch den wandel der zeiten und der völker ändern können, wie zum beispiel das wissen über den erhabenen gott, seine eigenschaften, seine engel, seine bücher, seine gesandten und die art seiner geschöpfe in der welt. darüber hinaus [gehört zu der summe der wissenschaften]*, dass verneinung und bejahung über ein und dieselbe sache niemals gleichzeitig wahr sein können. so verhält es sich in den wahrhaftigen wissenschaften; denn sie sind wahrhaftige weisheit.
die zweite kraft richtet sich nach unten, ich meine in richtung des körpers, den sie lenkt und führt, wodurch die seele unter den handlungen die guten erfasst. sie wird die "praktische vernunft" genannt, mit der der mensch seine eigenen fähigkeiten, die bewohner seines landes und seine familie leitet. sie als weisheit zu bezeichnen, trifft im uneigentlichen sinne wie eine metapher zu, weil ihre erkenntnisse wie quecksilber veränderlich und nicht von dauer sind. [...]" (mizan al-'amal, xvi)
[]* fehlt in handschrift el escorial.
auch ghazali unterscheidet also grundsätzlich zwischen "absoluter" und "relativer" wahrheit. der glaube an gott (und noch einige andere dinge, über die man sich im einzelnen streiten kann) ist für ihn unveränderlicher bestandteil der islamischen religion, ethische, soziale oder politische handlungsanweisungen aber nicht.
es gibt meines erachtens keine aus der klassischen islamischen lehre herleitbare, geschweige denn aus dem koran begründbare
verpflichtung zur lüge. der islam ist aber, so schwer mancher das heute vielleicht glauben mag, eigentlich nicht als märtyrerreligion angelegt. der muslim hat das recht, sich zu verteidigen, wenn er angegriffen wird, und er darf das unter umständen auch mittels normalerweise nicht sozialkonformer maßnahmen wie lüge oder tötung des angreifers tun.
ich halte das für eine notwendige konzession an den überlebensinstinkt und das überlebensrecht des menschen.
Gutmensch » Do 14. Jun 2012, 12:19 hat geschrieben:
Allerdings stellt sich eine weitere Frage: Spricht dieser Gelehrte für alle Muslime? Wer schreibt die Richtlinien für den Glauben aller Muslime vor, wer passt sie dem Zeitgeist an, wer wacht über "die richtige" Interpretation des Islam? Hier finden wir keine Antwort, denn es gibt keine solche zentrale Stelle. Jetzt stellt sich die Frage, ob dieses Lügen als erlaubte Verhaltensvorschrift festgehalten werden darf oder ob man das Lügen grundsätzlich "verbieten" muss, wie bei den Christen.
Glauben Sie das Verbot zu Lügen habe Folgen in der Entwicklung einer Gemeinschaft? Wie ist es beim Erlauben der Lüge in besonderen Ausnahmen, die dem Nutzen der Gemeinschaft dient. Wie entwickelt sich eine solche Gemeinschaft, wenn Lügen (unter Einschränkung) erlaubt sind?
Wer stellt fest, ob die Intention rein genug war, um das Lügen als legitim und islamkonform einzustufen? Jeder Muslim für sich?
vor gott trägt jede seele ihre bürde an der lüge allein, vor gott ist jeder selbst für seine handlungen verantwortlich - daher haben sie recht, wenn sie suggestiv fragen, ob jeder muslim für sich selbst zu entscheiden hat, ob eine lüge "islamkonform" ist oder nicht. die lügen, die ich als "islamkonform" empfinde, verstoßen aber jedenfalls gegen kein irdisches gesetz; weder in europäischen noch in arabischen gesellschaften. es gibt aber gleichfalls durchaus möglichkeiten, schaden und nutzen einer handlung für täter, opfer und gesellschaft und daraus auch ihre etwaige strafbarkeit intersubjektiv zu bestimmen.
und genau deshalb sind etwa betrug, meineid und falsche verdächtigung strafbar.
und das übrigens auch im klassischen islamischen recht und auch in allen mir bekannten ländern mit muslimischer mehrheitsbevölkerung.