Die Behauptung, ganz Donbass würde die Separatisten unterstützen, ist falsch. Die nördlichen Gebiete des Lugansker Umlandes etwa standen von Anfang an sowohl den selbsternannten Gouverneuren wie der Idee des Referendums skeptisch gegenüber. Heute ist es so, dass es in den Orten, wo es keinen Separatismus gibt, auch keine Bombardements gibt. Ich stamme aus dem Lugansker Umland, wo die Separatisten nichts zu sagen haben, dort leben meine Freunde, meine Verwandten. Natürlich beruhigt mich die Tatsache, dass sie all diese Zeit unter dem Schutz der ukrainischen Nationalgarde leben. Meine Freunde in Donezk und Lugansk dagegen kann nur der Zufall schützen.
Was spielt sich in Donbass ab? Offiziell nennt sich das Ganze "Antiterroroperation". Diese Definition trifft nicht ganz zu, denn nach (offiziellen) Angaben der ukrainischen Armee (und noch wichtiger: nach den unoffiziellen Berichten von Soldaten) kämpft unser Militär im Osten gegen gut ausgebildete russische Soldaten, die bewaffnet sind mit russischen Waffen.
Die Ukraine kämpft um ihr Territorium und ihre Grenzen, Russland bewaffnet Freischärler und beschießt ukrainische Grenzschützer. Ein Teil der örtlichen Bevölkerung unterstützt die Separatisten, ein Teil schließt sich freiwillig ukrainischen Paramilitäreinheiten an.
Der Großteil der Bevölkerung, all die Zivilisten, von denen so oft die Rede ist, befinden sich in einer hoffnungslosen Lage - zwischen zwei Feuern. Die Bevölkerung des Donbass dient den Separatisten als Geisel
Wer heute in Lugansk oder Donezk lebt - egal, ob er noch vor wenigen Monaten den Milizen zugejubelt hat, ob er seitdem seine Begeisterung bereut oder von Anfang an den Separatismus abgelehnt hat - jeder lebt mit der Perspektive, dass ihm eine Mine ins Fenster fliegt. Die ukrainische Armee betont, sie würde nicht auf Zivilisten schießen. Als ob irgendjemand bei solchen Gefechten in der Lage wäre, irgendwas zu garantieren oder zu kontrollieren. Aber man braucht schon viel Phantasie, um von einem "Protest der Lokalbevölkerung" zu sprechen. Dafür hat diese Lokalbevölkerung viel zu viele schwere Waffen und kann mit diesen viel besser umgehen, als man von Bergkumpeln erwartet.
Es entsteht eine "Volksarmee", weil ein Teil der ukrainischen Gesellschaft begriffen hat, dass niemand außer den Ukrainern ihre Armee versorgen kann. Das klingt ungewöhnlich für den westeuropäischen Leser, aber für uns Ukrainer ist es leider Realität: Bürger sorgen seit Monaten dafür, dass die Armee etwas zum Essen und zum Anziehen hat, sie spenden, was sie können, von Unterwäsche bis zu Panzertransporten
Die meisten Ukrainer haben all die Jahre zwar ihr Land geliebt, aber keine Sympathien für ihren Staat gehegt. Wir wussten um die Kampfuntauglichkeit unserer Armee, aber wozu braucht man eine Armee, wenn man nicht vorhat zu kämpfen? Wir verstanden, wie tief unsere Polizei korrumpiert ist, aber irgendwie erwartete eh keiner, dass die Polizei einem hilft. Wir ahnten, dass unsere Grenzen auf eine Art geschützt werden, die vor allem diejenigen ernähren soll, die diese Grenzen schützen.
Und heute stellt sich heraus, dass außer uns niemand diesen Staat schützen kann. Es stellt sich heraus, dass es kein Problem ist, über unsere Grenze zu marschieren und Krieg in unserem Land zu führen. Und zum ersten Mal keimt das Bewusstsein, dass wir unser Land und unsere Freiheit selber verteidigen müssen. Krieg raubt dir nicht immer dein Leben, aber er raubt dir immer deine Illusionen. Man kann nur bedauern, dass vieles für uns erst dann offensichtlich wird, wenn Städte zerstört und Menschen getötet werden.
Ich weiß nicht, wann der Krieg zu Ende geht. Dafür reicht es nicht, dass die Milizen sich für Verhandlungen bereit erklären. Sie müssen verschwinden. Alles andere wäre eine Legitimierung von Terror. Wie Tausende Ukrainer suche ich diese Tage nach Freunden und Bekannten in Lugansk und Donezk, ich versuche sie zu unterstützen, wie ich kann. Einige meiner Freunde haben diese Städte verlassen und versuchen sich woanders zurechtzufinden.
Ich will nicht, dass Zivilisten sterben. Dass Soldaten sterben. Dass der Donbass zerstört wird. Wichtig ist, dass wenn hier wieder Frieden herrscht, all diejenigen zur Verantwortung gezogen werden, die diesen Krieg entfacht haben und die heute Öl ins Feuer gießen, um Karriere oder Geld zu machen. Es geht nicht um Rache. Es geht um Gerechtigkeit.
Aus dem Russischen von Tim Neshitov
Zur Person: Der Schriftsteller und Musiker Serhij Zhadan, geboren 1974, lebt in Charkow. Für seinen Roman "Die Erfindung des Jazz im Donbass" (Suhrkamp) erhielt er im Juli den Literaturpreis "Brücke Berlin".
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