Ogmios hat geschrieben: ↑Di 22. Nov 2022, 21:09
In dem Spaltungsstrang hatte ich schon geschrieben, dass ich eine Identität aus einer biologischen Existenz für einen weißen Schimmel halte, weil jemand immer schon Mann oder Frau ist. Dass damit manche ein Problem haben, ist ja heiß diskutiert unter dem Thema Gender und diverse (im Sinne von viele) Geschlechter.
Warum dieses Thema so viele Leute aufregt bzw. warum bestimmte Parteien damit so gern Wahlkampf machen ... das möchte ich auch gern mal wissen. Thema "Genderforschung" zum Beispiel. Das kostet so gut wie nix. In manchen Diskussionen hat man aber den Eindruck, als wenn ein möglicher Niedergang Deutschlands nicht zuletzt durch die Professorenstellen für Gender Studies herbeigeführt wird. Ich bin kein Psychologe. Ich weiß einfach nicht, warum sich soviele Leute soviel darüber aufregen können. Haben die eine Vorstellung davon, was man an Geld für naturwissenschaftliche oder ingeneurtechnische Fachbereiche in Forschung und Lehre aufwenden muss?
Ich suche eine Antwort auf Folgendes:
Damit ein Mensch sagen kann: Ich fühle mich nicht als A, sondern als B, müsste er genau angeben können, wie er sich fühlen müsste, um A und nicht B zu sein. Und er müsste angeben können, wie man sich als A UND als B fühlen müsste, wenn er weder A noch B sondern C (zum Beispiel: nicht-binär) sein möchte. Daher lautet die Frage: Wie müsstest du dich fühlen, um A und/oder B zu sein?
Kann diese Frage nicht beantwortet werden, dann ist der Satz "Ich fühle mich als C" insofern wahr, als er eine Aussage über ein Gefühl enthält, darüber hinaus aber nicht verstanden werden kann, weil sich als A oder B fühlen nicht definiert werden kann. Dem Satz kommt also keine weitere Bedeutung zu, die über eine Gefühlsäußerung hinausginge. Und genau hier beginnt die soziale Frage, welche Art privater Gefühlsäußerungen eigentlich welchen Anspruch auf welche Art von Anerkennung haben. Wann verweigert das eine Gesellschaft, und kann es überhaupt objektive Verweigerungsgründe geben, wenn sich alles nur noch im radikal Subjektiven abspielt?
Ein Mensch fühlt sich nicht als A, B oder C sondern als der Mensch, der er unverwechselbar
ist. Das genau bedeutet ja auch Identität. Im Unterschied zu "gleich" bedeutet "identisch" nicht einfach in irgendeiner Hinsicht gleich (Muttersprache, Körpergröße, Geburtsort, biologisches oder soziales Geschlecht oder was auch immer ...) sondern - schon von der Wortherkunft - ganz genau und nur dies: Ein und dasselbe sein. Von daher gibt es grundsätzlich überhaupt nur eine denkbare Identität für einen Menschen: Nämlich die mit sich selbst. Was immer auch sonst in gefühlt tausend Artikeln täglich politisch, soziologisch oder sonstwie darüber geschrieben wird. "Identität" in einer relatonalen Datenbank läuft darauf hinaus, einen Datensatz
unterscheidbar von allen anderen zu machen. Das ist das Paradoxe: Ist von "Identität" in der politischen Diskussion die Rede, denken viele Menschen nicht an Unterschiedenheit sondern an Zugehörigkeit.
Radikal subjektiv zu sein können sich nur die leisten, die nicht mit Existenzkampf zu tun haben. Nicht mit der Überschwemmungskatastrophe in Pakistan oder mit dem Krieg in der Ukraine. Das erst mal vorweg. Aber das sind inzwischen eine ganze Menge Menschen.
Eines der großen politischen Gegenwartsprobleme sehe ich darin, dass zur identitären Politik von rechts in jüngerer Zeit auch und zunehmend eine identitäre Politik von links gekommen ist. Als Beispiel dafür wird häufig der Fall der schwarzen Autorin Janice Deul angeführt, die es ablehnte, dass ihr Gedicht "The Hill We Climb" von der weißen Niederländerin Marieke Lucas Rijneveld ins Niederländische übertragen wird. Weil sie den Inhalt angeblich nicht authentisch nachvollziehen könne. Diese Haltung ist genauso rechtsidentitär, rassistisch und sozusagen protofaschistisch wie die Haltung von AfD-Leuten gegenüber der angeblichen Unkultiviertheit von Muslimen oder Afrikanern. In Wirklichkeit liegt das gesamte Kulturgut der Menschheit als sozusagen Open Source Repository vor und jeder der möchte, kann dort zugreifen. Jeder der möchte kann Jude, Japaner oder Brite sein. Um es ganz unmissverständlich zu sagen. Auch wenn man denen, die meinen, nur sie wären aufgrund zum Beispiel von biologischer Herkunft die "echten" Juden, Japaner oder Briten es natürlich auch nicht verbieten kann, so zu denken. Jeder sein zu können ist Teil einer absoluten positiven Freiheit ("Freiheit zu"), die jeder Mensch nicht nur hat sondern zu der er in gewisser Hinsicht gezwungen ist.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)