Erasmus hat geschrieben: ↑Mi 27. Apr 2022, 11:50
"Untergang" wäre mir eine zu starke Vokabel. Ich sprach von Gefährdung.
Aber auch das ist doch falsch. Bestimmte und durchaus relevante Teile des Industriestandorts Deutschland sind temporär gefährdet. Das wäre eine adäquate Formulierung. Nicht aber der gesamte Industriestandort Deutschland. Zumal beide Formulierung letztlich ziemlich ungenau sind. -
Es passt insofern zusammen, als ich die kurzfristige kriegs- oder kriegszielverkürzende oder -verhindernde Wirkung als eher gering ansetze. Wirksamer scheint mir auf einige Monate hin gedacht, die Ukraine mit allem notwendigen und verfügbaren Gerät auszustatten und nebenbei Russland Schritt für Schritt zu isolieren, ohne selbst abzustürzen.
Wir sind ja auch bei Deutschen Interessen, oder? Eine Person des amerikanischen Verteidigungsministeriums hat es passend formuliert. Sinngemäß: Das Ziel muss es sein, dass Russland nicht mehr in der Lage ist, Kriege wie in der Ukraine zu führen. D.h. unser Interesse beschränkt sich ja nicht nur auf den Ukraine-Konflikt, sondern auch mittelfristig auf andere Regionen in Europa. Moldawien, Georgien, Litauen, Lettland usw. Wie wir an den aktuellen Ereignissen in den besetzten Gebieten Moldawiens sehen, gibt es durchaus weitere Bestrebungen Russlands. In der russischen Öffentlichkeit wird gar der Angriff auf Polen diskutiert. Die Sanktionen, wenn konsequent und schnell umgesetzt, ermöglichen es mindestens mittelfristig, dass Russland keine Angriffskriege in Europa führen kann.
Wir sind uns ja scheinbar einig, dass dieser Krieg noch mindestens Monate dauern wird. Wieso denkst du, dass ein sofortiger Handelsstopp seine Auswirkungen nicht innerhalb von Monaten entfalten könnte? Ich kann erneut die unmittelbaren Effekte für Russland aufzählen: Millionen Arbeitslose, Halbierung der Exporteinahmen, Leere Regale, Kaputte Lieferketten in Massen, Niedergang der Industrie, Absturz der Börsen und des Rubels.... Ich finde, dass sind Effekte, die ziemlich direkt den Krieg betreffen werden.
Ich weise moralische Gründe nicht grundsätzlich zurück. Allerdings sollte einem die Moral nicht den Blick verstellen, sodass man das, was sein soll, nicht mit dem verwechselt, was ist (was bewirkt wird).
Das Problem ist, nach wie vor, dass ich nicht moralisch argumentiere. Es ist lediglich ein zusätzliches Argument. Es ist in unserem unmoralischen Interesse, dass Russland keine Angriffskriege in Europa führen kann, keine Cyberangriffe auf Unternehmen und Infrastruktur verüben kann, keine europäischen Politiker einkaufen kann, keine Desinformationskampagnen finanzieren kann, dass die russische Grenze sich nicht bis Polen verschiebt usw.
Er wird mit seinem vorhandenen Gerät Wirklichkeiten schaffen, die kurzfristig (in Monaten gerechnet) nicht zu verhindern sein werden durch Sanktionen. Ich wiederhole mich: Er sitzt nicht physisch aber geistig im Bunker. Es ist ihm und seinen Speichelleckern alles egal. Er wird sein Ziel, die Ukraine vom schwarzen Meer abzuschneiden und den Osten zu erobern, nicht aufgeben. Und wir hindern ihn nicht, indem wir morgen den Gashahn zudrehen.
Wie kommst du darauf, dass ihm und der russischen Führungselite alles egal ist? Auch die Führungselite hat Interesse. Auch Putin hat Interessen, die sich nicht auf die Eroberung der Ukraine beschränken.
Ich kann mich nur wiederholen. Ich habe die direkten Effekte angeführt. Deine Argumentation könnte man auch auf Waffenlieferungen übertragen. Es dauert Monate, bis die Waffen aufgewartet sind und ukrainische Truppen damit umgehen können --> nicht liefern. Dein Argument behält vor allem dauerhafte "Gültigkeit", weil dieser Verweis immer funktionieren kann. Wenn der Krieg dann ein Jahr gegangen ist und immer noch kein Ende in Sicht ist, wirst du genauso argumentieren. Sein vorhandenes Gerät schwindet immer stärker. Krieg ist immer auch an Wirtschaft gebunden. Wer nicht mehr produzieren kann und auch sonst wirtschaftlich am Boden ist, verliert. Das sind natürlich komplexe Zusammenhänge und nicht direkt für jeden greifbar. Aber sie existieren.
Das ist das Ergebnis von 20 Jahren Politik. Das drehen wir nicht in sechs Wochen um. Ich verstehe die Ungeduld, den Frust über das, was man sich als Wähler eingebrockt hat. Aber mal kurz eine Millionen Leute in Arbeitslosigkeit schicken oder noch mehr schon wieder in Kurzarbeit- wer soll es zahlen? Auch wieder die künftige Generation?
Hast du so bei den Corona-Maßnahmen auch argumentiert? Wieso soll die jüngere Generation hierfür bezahlen müssen?
Wie kommst du denn mal kurz auf eine Million oder mehr? Drunter geht es nicht? Wer soll die hunderten Milliarden für die Sicherheitspolitik bezahlen, wenn Russland vor Polen steht? Wer soll die Millionen ukrainischen Flüchtlinge dauerhaft bezahlen? Wer soll die moldawischen Flüchtlinge finanzieren? Wer soll die noch größere Zerstörung durch einen längeren Krieg in der Ukraine bezahlen?
Angeblich ist Öl Putins Haupteinnahmequelle. Und hier ist es offensichtlich auch nicht ganz so schwierig, für Ersatz zu sorgen innerhalb kürzerer Fristen, obwohl nicht jedes Öl russisches einfach ersetzen kann innerhalb der Verarbeitungsprozesse. Umgekehrt wird Putin auch weniger Probleme haben, sein Öl woanders hin zu liefern.
Richtig. Öl ist mindestens gleichwertig mit Gas und hier ist es leichter gewesen, die Öl-Importe zu ersetzen, da man es auf teurem Wege ausgleichen kann. Bei Gas funktioniert das kurzfristig nicht. An wen verkauft den Russland das nicht mehr gekaufte Öl?
Was die "unabhängigen Wissenschaftler" angeht, so wissen die auch nicht alles und widersprechen einander ständig. Habecks Ministerium wird ganz sicher auch nicht ohne Unterstützung durch solche Modellierer arbeiten. Und jede einzelne Lieferkette kennen sie ohnehin nicht. Ihre Betrachtung wird immer nur Ausschnitte, nie die ganze Wirklichkeit der Unternehmen sehen.
Nochmal. Ich wiederhole mich (ganz schön oft). Ein wissenschaftliches Modell ist das Modell, was der Realität am nächsten kommt. Es kann die Realität nicht vollständig erfassen, aber es kann die Realität so nah wie es möglich ist erfassen und gibt uns damit das best-mögliche Bild. Zum Beispiel ein deutlich besseres als wenn hier ein Foren User angebliche Folgen heraufbeschwört. Die Modellierer von Habeck, oder genauer gesagt die Bundesbank, haben übrigens grundsätzlich das bestätigt, was auch die anderen wissenschaftlichen Studien angeht. Habeck hat keine andere wissenschaftliche Grundlage, er hat aber andere politische Zwänge. Natürlich kommen wissenschaftliche Modelle zu unterschiedlichen Ergebnissen. Das beruht u.a. auf unterschiedlichen Annahmen. Dennoch ist es bezeichnend, dass die Modelle die Folgen eines möglichen Gas-Embargos alle nicht als Untergangsszenario oder Ende der Volkswirtschaft beschreiben. Entscheidend ist, dass man ihre Annahmen nachvollziehen und sehr differenziert kritisieren kann. Das ist bei einer Aussage ohne wissenschaftliche Grundlage nicht möglich.