sünnerklaas hat geschrieben:(04 Jan 2022, 11:45)
Verhandlungen oder gar Kompromisse werden als totale Niederlagen gedeutet. Entweder Sieg oder der eigene Tod.
Und es hat schon eine andere Qualität, wenn man sich anschaut, wie Leute inzwische quasi Selbstmord begehen. Nicht aus Verzweiflung, sondern aus Wut und Hass. Letzte Worte sind des öftere wüsteteste Flüche und Beschimpfungen.
Und bemerkenswert, welche Vorbilder so manche inzwischen haben - zum Beispiel die "Helden" des Bauernkriegs und der Bundschuh-Bewegung im 16. Jahrhundert. Ergebnis damals: total gescheitert, alle Helden und ihre glühenden Anhänger nahmen ein sehr böses und übles Ende.
Fragt sich natürlich: warum hängen die Herrschaften solchen nachweislich total gescheiterten Aktionen hinterher und glorifizieren sie?
Ja, das kann man sich schon fragen. Weder die jugoslawische Gesellschaft vor 1945 und Anfang der 1990er noch zum Beispiel das mittelalterliche al-Andalus waren frei von ethnischen und religiösen SPannungen. Aber es haben nun mal Kroaten, Serben und Albaner nebeneinander gelebt und sich nicht nur nicht gegenseitig erschossen sondern sogar nicht selten gegenseitig geheiratet. Und in einigen Artikeln zu al-Andalus ist gar von einer jüdisch-muslimischen "Symbiose" die Rede. Und das in der Zeitung eines als ziemlich konservativ geltenden Verlagshauses.
https://www.welt.de/geschichte/article1 ... ingen.html
Zur Widerlegung einer allgemeinen These genügt bekanntlich bereits ein Gegenbeispiel. Allein durch die beiden angeführten Gegenbeispiele wird zumindest eine These grundsätzlich widerlegt: Dass Dinge wie Aggressivität, Kriegslüsternheit, Ungebildetheit, Märtyrertodeslust grundsätzliche, essenzielle Merkmale einer Kultur oder Religion oder auch ganz allgemein anthropolgische Konstanten, "Menschenmerkmale" sind. All diese Dinge befinden sich immer in einem gesellschaftlichen, politischen, sozialen Wandel. Keine Gruppe von Menschen "ist eben so".
Konkret bezogen auf diese "Querdenker-Szene" ist meine These: Das sind Menschen, die in irgendeiner Art und Weise Selbstwirksamkeit für sich entdeckt haben. Wenn auch meist eine der destruktiven und in vielen Fällen auch selbstdestruktiven Art. Immer noch besser als vorm Fernseher hocken. Oder eine gescheiterte Beziehungsgeschichte hinter sich zu haben, ein langweiliges Berufsleben oder was auch immer. Es handelt sich doch - oder? - keineswegs um klassische soziale Problemfälle. Dienste wie telegram sind da keineswegs die Ursachen sondern nur die technologischen Vehikel.
Das was die westlichen Konsumgesellschaften sonst noch so an Möglichkeiten zum Erleben von Selbstwirksamkeit bietet, ist in der Regel mit viel viel Mühe verbunden. Und mit dem Willen, sich irgendwie von der Normalgesellschaft abzuheben. Ein Instrument lernen. Ein Buch schreiben. Sich in ein Forschungsthema einarbeiten. Ein Unternehmen gründen. Eine Geschäftsidee verwirklichen. Bei der Querdenkerei gehts im Unterschied zum Individualismus leichter. Schließe dich an. Gehöre zu den Wissenden ohne zu den Lernenden zu gehören. Zu den wenigen, die das "System" durchschauen.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)