Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

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jack000
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von jack000 »

schokoschendrezki hat geschrieben: So 18. Sep 2022, 09:07 Wirklich und wirksam etwas tun gegen die Entdemokratisierung in Ungarn können die großen bundesdeutschen Unternehmen. Das können sie wirklich. BMW, Mercedes, Audi und viele andere haben wesentlich mehr Möglichkeiten zur Einflussnahme als die deutsche Regierung oder auch die Europäische Kommission als Exekutive der EU. Sie tun es aber nicht.
Warum sollten die das tun?
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Misterfritz
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von Misterfritz »

schokoschendrezki hat geschrieben: So 18. Sep 2022, 21:31Und da steht in der Präambel als erster Satz "Isten, áldd meg a magyart", Gott segne die Ungarn. Hungary first. Hungary first! Ungarn behält sich vor, nicht irgendein demokratisches, liberales, aufgeklärtes Land sondern vor allem und in erster Linie ein ungarisches Land zu sein.
Das können sie gerne sein - aber ausserhalb der EU. Und wenn es dazu nicht reicht, dann eben mit weniger Geld von der EU.
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schokoschendrezki
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von schokoschendrezki »

jack000 hat geschrieben: So 18. Sep 2022, 21:47 Warum sollten die das tun?
Tja. Aus ihrer Sicht gibts da tatsächlich keinen Grund.

Ich will die Problematik nochmal zusammenfassen. Aus meiner Sicht. Die beiden Hauptposten im EU-Haushalt (alles andere ist unter ferner liefen) ... sind die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) und die Regionalpolitik der Europäischen Union. Beide machen jeweils etwa 35 Prozent dieses Haushalts aus. Und der Gesamthaushalt macht etwa 1,2 Prozent des Gesamtnationaleinkommens der EU-Länder zusammen aus. Unter den fünf ESI-Fonds innerhalb der einen 35 Prozent (Europäischen Struktur- und Investitionsfonds) ist wiederum der Kohäsionsfond ("Projekte in den Bereichen Verkehr und Umwelt") der entscheidende Posten. Hier gilt für eine Nettoförderung die Regel, dass "das Bruttonationaleinkommen (BNE) pro Kopf weniger als 90 % des EU-Durchschnitts beträgt". Und genau da gehört Ungarn (zusammen mit Bulgarien, Estland, Griechenland, Kroatien, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Portugal, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik und Zypern) hin. Um diese Gelder geht es, wenn man so dahinsagt, dass ein Land wie Ungarn von der EU profitiert. Die Zahlendimensionen muss man sich doch ersteinmal vergegenwärtigen. (Mal ganz abgesehen von dem sehr häufig einfach vergessenen, aber ebenso relevanten Posten GAP und der Frage, wer hier eigentlich der Hauptprofiteur ist).

Es ist nun so. Erstens: Die Zahlungen für die Förderung im Bereich Verkehr und Umwelt gehen in erheblichem Maße in den Ausbau von Infrastruktur, die es den großen Investoren (an erster Stelle Unternehmen mit Sitz in Deutschland) ermöglicht, ihre Produkte auf kurzem Weg in die Empfängerländer zu transferieren. Kaum irgendwo in Europa kann man so preisgünstig produzieren und ist gleichzeitig so nahe am Endverbraucher wie in den Mittelosteuropa-Staaten. Dazu muss man einfach direkt vor Ort, in der Slowakei, in Tschechien, in Ungarn diesen Infrastrukturausbau beobachten. Die Antwort auf die Frage "Wer profitiert?" fällt deshalb eher anderstherum aus.

Zweitens: Die ungarische Regierung, die Regierungspartei, die Struktur der Ministerien, der Regionalverwaltungen usw. ... sind durch und durch korrupt. Ein erheblicher Teill dieser Infrastrukturgelder landet nicht da, wo eine Landung von Seiten der EU eigentlich intendiert ist. Die Macht namentlich der Fidesz speist sich unter anderem daraus, dass den Regionalfürsten der Partei selektiv diese Gelder zugespielt werden. Wer sich dem Orbán-Regime widersetzt, geht leer aus. Die Widerständigen kommen vor allem aus den großen Städten. Das ist überall in Mittelosteuropa so. Dennoch muss man immer die quantitativen Verhältnisse im Auge haben. Das eigentliche Geschäft ist die ziemlich gut laufende Wirtschaft.

Drittens: Dass Ungarn zu den Ländern mit weniger als 90% des BNE pro Kopf zählt, hängt in gewisser Weise mit der Konkurrenzfähigkeit seiner Wirtschaft zusammen. Normalerweise würde man (ich jedenfalls) denken: Je geringer die Wirtschaftskraft desto geringer das Durchschnittseinkommen. Es wurde aber die Landeswährung Forint abgewertet. Mit dem Ergebnis, dass Arbeitskräfte im Vergleich preiswert sind. Ohne dass das erstmal etwas an der Standortqualität ändert. Und dann kommen die Infrastrukturgelder der EU dazu.

Eine populistische Aussage wie "die leben von 'unserem' Geld" verstellt einfach die Einsicht in das eigentliche und grundlegende gesellschaftliche Problem: Die Revitalisierung der Bindung an die Nation. So gut wie alle Entdemokratisierungen werden in irgendeiner Weise im Namen der "ungarischen Nation", des "Ungarntums", der Ungarnvolkstümelei durchgeführt. Dieses Gemisch ist es: Eine verhältnismäßig positive wirtschaftliche Entwicklung, ein ländlicher Raum mit kleineren Städten, die ordentlich aussehen, intakt sind und in denen es zwar keine Migranten zuhauf aber korrupte Fidesz-Politiker gibt ... und dann sind es am Ende diese komischen Leute aus Budapest, Prag oder Wien, die den Frieden und die Ruhe stören. Und dann wird die Fidesz-Partei mit gro0er Mehrheit wiedergewählt. Eine kritische Presse, eine unabhängige Justiz ... das sind einfach irgendwie "Linke".
Zuletzt geändert von schokoschendrezki am Mo 19. Sep 2022, 11:48, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von Vongole »

schokoschendrezki hat geschrieben: Mo 19. Sep 2022, 11:41 (Fullquote)

Eine populistische Aussage wie "die leben von 'unserem' Geld" verstellt einfach die Einsicht in das eigentliche und grundlegende gesellschaftliche Problem: Die Revitalisierung der Bindung an die Nation. So gut wie alle Entdemokratisierungen werden in irgendeiner Weise im Namen der "ungarischen Nation", des "Ungarntums", der Ungarnvolkstümelei durchgeführt. Dieses Gemisch ist es: Eine verhältnismäßig positive wirtschaftliche Entwicklung, ein ländlicher Raum mit kleineren Städten, die ordentlich aussehen, intakt sind und in denen es zwar keine Migranten zuhauf aber korrupte Fidesz-Politiker gibt ... und dann sind es am Ende diese komischen Leute aus Budapest, Prag oder Wien, die den Frieden und die Ruhe stören. Und dann wird die Fidesz-Partei mit gro0er Mehrheit wiedergewählt. Eine kritische Presse, eine unabhängige Justiz ... das sind einfach irgendwie "Linke".
Wenn das die in Ungarn vorherrschende Einstellung ist, dann sollte das Land die EU verlassen und ausprobieren, wie weit es ohne EU-Gelder kommt, und ob die positive wirtschaftliche Entwicklung, abgekoppelt
von europ. Handesverträgen und Vereinbarungen, erhalten bleibt. Die Fidesz kann ja mal in GB nachfragen.
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schokoschendrezki
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von schokoschendrezki »

Vongole hat geschrieben: Mo 19. Sep 2022, 11:47 Wenn das die in Ungarn vorherrschende Einstellung ist, dann sollte das Land die EU verlassen und ausprobieren, wie weit es ohne EU-Gelder kommt, und ob die positive wirtschaftliche Entwicklung, abgekoppelt
von europ. Handesverträgen und Vereinbarungen, erhalten bleibt. Die Fidesz kann ja mal in GB nachfragen.
Eine Abkopplung von der EU ist doch überhaupt nicht zwangsläufig mit einer Abkopplung vom EU-Binnenmarkt verbunden. Warum das in UK so konsequent durchgesetzt wird, ist nochmal eine andere Frage. Ungarn, das kann ich dir versichern, kommt ohne irgendein Problem ohne diese EU-Gelder aus. Die Frage ist eher, ob Unternehmen wie Daimler, Bosch, Audi usw. usf. ohne die Produktions- und Entwicklungsstandorte in Ländern wie Ungarn auskommen. Das glaube ich nicht. Daimler etwa hat in Ungarn eine Milliarde für den Aufbau eines ersten Werks mit der Full-Flex-Methode investiert. Wo mit ein- und derselben Produktionsanlage Fahrzeuge völlig unterschiedlicher Typen produziert werden können. Dazu braucht man günstige Bedingungen, gute Ingenieure, gute IT-Leute. Ich kann mir kaum vorstellen, dass man da in einem Land wie D heute noch weit kommt. Man wird auf die Bedingungen, wie sie in Ungarn herrschen keinesfalls verzichten wollen.

Dieser Status ... das ist doch im Prinzip auch die Perspektive der Ukraine in Bezug auf die EU. Das muss man überhaupt nicht negativ sehen.
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jack000
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von jack000 »

schokoschendrezki hat geschrieben: Mo 19. Sep 2022, 11:41 Tja. Aus ihrer Sicht gibts da tatsächlich keinen Grund.
Gibt es ja auch nicht ...
Eine populistische Aussage wie "die leben von 'unserem' Geld"
Die gibt es hier, aber in Ungarn nicht ... und die Ungarn wollen das es so bleibt ...
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von Misterfritz »

schokoschendrezki hat geschrieben: Mo 19. Sep 2022, 12:00 Eine Abkopplung von der EU ist doch überhaupt nicht zwangsläufig mit einer Abkopplung vom EU-Binnenmarkt verbunden. Warum das in UK so konsequent durchgesetzt wird, ist nochmal eine andere Frage. Ungarn, das kann ich dir versichern, kommt ohne irgendein Problem ohne diese EU-Gelder aus. Die Frage ist eher, ob Unternehmen wie Daimler, Bosch, Audi usw. usf. ohne die Produktions- und Entwicklungsstandorte in Ländern wie Ungarn auskommen. Das glaube ich nicht. Daimler etwa hat in Ungarn eine Milliarde für den Aufbau eines ersten Werks mit der Full-Flex-Methode investiert. Wo mit ein- und derselben Produktionsanlage Fahrzeuge völlig unterschiedlicher Typen produziert werden können. Dazu braucht man günstige Bedingungen, gute Ingenieure, gute IT-Leute. Ich kann mir kaum vorstellen, dass man da in einem Land wie D heute noch weit kommt. Man wird auf die Bedingungen, wie sie in Ungarn herrschen keinesfalls verzichten wollen.

Dieser Status ... das ist doch im Prinzip auch die Perspektive der Ukraine in Bezug auf die EU. Das muss man überhaupt nicht negativ sehen.
Die Firmen suchen sich dann andere Standorte, hat man beim Brexit ja schon gesehen.
Und wenn die ungarischen IT-ler keine Jobs mehr in Ungarn finden, werden sie woanders hingehen.

Wenn die Ungarn in der Mehrheit meinen, ihre Regierung müsste Verträge, die beim Eintritt in die EU unterschrieben wurden, nicht mehr einhalten, dann müssen sie mit Konsequenzen rechnen.

Als Europäer kann ich mit Verteidigern von Ungarn/Polen oder so absolut nichts anfangen. Wo wären die Ungarn denn jetzt ohne die EU und den Binnenmarkt?
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H2O
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von H2O »

Misterfritz hat geschrieben: Mo 19. Sep 2022, 13:48 Die Firmen suchen sich dann andere Standorte, hat man beim Brexit ja schon gesehen.
Und wenn die ungarischen IT-ler keine Jobs mehr in Ungarn finden, werden sie woanders hingehen.

Wenn die Ungarn in der Mehrheit meinen, ihre Regierung müsste Verträge, die beim Eintritt in die EU unterschrieben wurden, nicht mehr einhalten, dann müssen sie mit Konsequenzen rechnen.

Als Europäer kann ich mit Verteidigern von Ungarn/Polen oder so absolut nichts anfangen. Wo wären die Ungarn denn jetzt ohne die EU und den Binnenmarkt?
Das ist weitgehend auch meine Sicht der Dinge in Polen und Ungarn. Nur hätte ich gern eine Rechtsgrundlage für das Vorgehen gegen Ungarn. Im Fall Polens liegen die rechtlichen Dinge klar zu Tage; so noch freundschaftlich festgestellt von der "Venedig-Kommission", anschließend durch Gerichtsbeschluß des Europäischen Gerichtshofs. Und nun läuft das Strafverfahren, bis der vertragliche Frieden wieder hergestellt wurde. Das nenne ich sauberes und geordnetes Vorgehen gegen Vertragsbruch.

Das wünsche ich mir im Falle Ungarn auch. Aus der Ferne betrachtet ist aber außer öffentlicher Mängelrüge nichts in mein Bewußtsein gedrungen. Ok, das mag eine Androhung sein. Aber vor dem Vollzug dann doch bitte ein gerichtlich abgesichertes Verfahren mit klarer Vorgabe, wie der vertragliche Zustand wieder hergestellt werden könnte.
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peterkneter
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von peterkneter »

Orban teilt wieder gegen die EU aus und fordert die Aufhebung der Sanktionen gegen Russlane - wurden nicht erst gestern von allen EU Außenministern neue Sanktionen beschlossen?

https://www.spiegel.de/ausland/ukrainek ... 9ac3bc60e7
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Tom Bombadil
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von Tom Bombadil »

Wie wäre es eigentlich mit einem Tauschangebot an Putin: er bekommt Ungarn und wir die Ukraine?
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Christdemokrat
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von Christdemokrat »

Viktor Orban handelt im Interesse seines Volkes. Das ist die Aufgabe eines Ministerpräsidenten.

In Deutschland handelt die Regierung gegen ihr eigenes Volk.
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von Hitman »

Christdemokrat hat geschrieben: Do 22. Sep 2022, 13:53 Viktor Orban handelt im Interesse seines Volkes. Das ist die Aufgabe eines Ministerpräsidenten.

In Deutschland handelt die Regierung gegen ihr eigenes Volk.

Er handelt zunächst mal im Eigeninteresse und im Interesse des Möchtegernzaren in Moskau ( sein bester Freund im Geiste) und weniger im Interesse seines eigenen Landes.
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H2O
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von H2O »

Aus meiner Sicht tut die Politik am allermeisten für das deutsche Volk, wenn es seine wirtschaftlichen und kulturellen Verbindungen zu anderen Völkern so tiefgreifend wie irgend möglich gestaltet. Unserem Volk und Land geht es nicht dadurch gut, daß wir uns in ein politisches Schneckenhaus und in Selbstisolation zurück gezogen haben, sondern unsere weltweite Zusammenarbeit schafft auch bei uns Werte... bei unseren Partnern hoffentlich auch!

Ungarns vergleichsweise gute wirtschaftliche Lage ist nicht nur das Ergebnis begabter und fleißiger Ungarn, sondern der Wohlstand Ungarns ist auch durch die nahezu schrankenlose Zusammenarbeit innerhalb der EU und im Schengenraum entstanden. Aus meiner Sicht ist der ungarische Wohlstand in Gefahr, wenn Ungarn Extratouren mit Rußland gegen die zusammenwachsende EU unterstützt. Dieser Lernprozeß steht erst am Anfang. Er beginnt mit ausbleibenden Geldern aus dem Wiederaufbaufonds infolge erwiesener Zweckentfremdung dieser Mittel, ausbleibenden Investitionen aus der EU. Weitere Schritte sind möglich, aber sollten nicht gleich am Anfang stehen.

Herr Orban hat das auch erkannt... und treibt nun überstürzte Reformen voran, um die absehbaren Folgen seiner gemeinschaftsschädlichen Extratouren ab zu wenden. In Polen laufen ähnliche Bemühungen. Dort haben die Menschen auch erkannt, daß dümmlicher Chauvinismus das Land in die Isolation treibt und den Wohlstand des Landes gefährdet. Der Regierung droht Umfragen zufolge die Abwahl in den Parlamentswahlen 2023.
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von Troh.Klaus »

Christdemokrat hat geschrieben: Do 22. Sep 2022, 13:53 Viktor Orban handelt im Interesse seines Volkes. Das ist die Aufgabe eines Ministerpräsidenten.
In Deutschland handelt die Regierung gegen ihr eigenes Volk.
Erklär mal - was macht der Hr. Orban denn so Tolles im Interesse seines Volkes?
Und inwiefern handelt die deutsche Regierung im Vergleich dazu gegen das deutsche Volk?
Und was sollte sie Deiner Meinung nach stattdessen tun?
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Christdemokrat
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von Christdemokrat »

Troh.Klaus hat geschrieben: Sa 24. Sep 2022, 22:41 Erklär mal - was macht der Hr. Orban denn so Tolles im Interesse seines Volkes?
Und inwiefern handelt die deutsche Regierung im Vergleich dazu gegen das deutsche Volk?
Und was sollte sie Deiner Meinung nach stattdessen tun?
Die deutsche Bundesregierung sollte umgehend "Nordstream 2" in Betrieb nehmen, die Waffenlieferungen in das Kriegsgebiet einstellen und die Wirtschaftssanktionen beenden, um die sichere Energieversorgung Deutschlands zu gewährleisten und die schlimmsten wirtschaftlichen Schäden für die deutschen Bürger und Unternehmen doch noch abzuwenden.
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von herzfürdiesache »

Christdemokrat hat geschrieben: Sa 24. Sep 2022, 23:16 Die deutsche Bundesregierung sollte umgehend "Nordstream 2" in Betrieb nehmen, die Waffenlieferungen in das Kriegsgebiet einstellen und die Wirtschaftssanktionen beenden, um die sichere Energieversorgung Deutschlands zu gewährleisten und die schlimmsten wirtschaftlichen Schäden für die deutschen Bürger und Unternehmen doch noch abzuwenden.
... und dann fällt zufällig ne NS2-Pumpe "aus".
Troh.Klaus
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von Troh.Klaus »

Christdemokrat hat geschrieben: Sa 24. Sep 2022, 23:16 Die deutsche Bundesregierung sollte umgehend "Nordstream 2" in Betrieb nehmen, die Waffenlieferungen in das Kriegsgebiet einstellen und die Wirtschaftssanktionen beenden, um die sichere Energieversorgung Deutschlands zu gewährleisten und die schlimmsten wirtschaftlichen Schäden für die deutschen Bürger und Unternehmen doch noch abzuwenden.
Mit anderen Worten, das Schicksal der Ukrainer interessiert Dich einen feuchten Kehricht. "Germany first", nicht wahr.
Wir könnten Putin ja auch noch Panzer und andere Waffen liefern, da würde er uns das Gas praktisch schenken.
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von Schnitter »

Troh.Klaus hat geschrieben: So 25. Sep 2022, 01:09 Mit anderen Worten, das Schicksal der Ukrainer interessiert Dich einen feuchten Kehricht. "Germany first", nicht wahr.
Wir könnten Putin ja auch noch Panzer und andere Waffen liefern, da würde er uns das Gas praktisch schenken.
Trolle füttert man nicht.
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Christdemokrat
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von Christdemokrat »

Troh.Klaus hat geschrieben: So 25. Sep 2022, 01:09 Mit anderen Worten, das Schicksal der Ukrainer interessiert Dich einen feuchten Kehricht. "Germany first", nicht wahr.
Wir könnten Putin ja auch noch Panzer und andere Waffen liefern, da würde er uns das Gas praktisch schenken.
Die Ukraine ist kein NATO-Bündnispartner, daher besteht keine militärische Beistandspflicht.
Wir helfen der Ukraine auch nicht, indem wir unsere Wirtschaft zugrunde richten und unseren Wohlstand vernichten.
Als neutrales Land könnten wir eine glaubwürdige Vermittlerrolle zwischen den Konfliktparteien einnehmen und durch gute und geschickte Diplomatie einen wichtigen Beitrag zu einer möglichst raschen Beendingung dieses Krieges leisten.
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von Platon »

Christdemokrat hat geschrieben: So 25. Sep 2022, 02:30 Die Ukraine ist kein NATO-Bündnispartner, daher besteht keine militärische Beistandspflicht.
Wir helfen der Ukraine auch nicht, indem wir unsere Wirtschaft zugrunde richten und unseren Wohlstand vernichten.
Als neutrales Land könnten wir eine glaubwürdige Vermittlerrolle zwischen den Konfliktparteien einnehmen und durch gute und geschickte Diplomatie einen wichtigen Beitrag zu einer möglichst raschen Beendingung dieses Krieges leisten.
:D
Deutschland ist nicht neutral. Der Zug ist schon länger abgefahren. Wenn Deutschland aus der westlichen Gemeinschaft ausschert wird das in erster Linie Deutschland isolieren und wir würden uns in einer ähnlichen Paria-Rolle wie Ungarn finden. Die politischen und ökonomischen Folgen einer solchen Entscheidung wären weitaus katastrophaler als alles was Russland uns antun kann. Wir würden uns als Feind der USA und ganz Osteuropas positionieren. Sollte Scholz eine solche Entscheidung treffen, wäre seine Regierung am nächsten Tag Geschichte.

Russland ist nicht unser Verbündeter oder gar eine Alternative zum Westen. Deutschland ist mit den USA und der EU verbündet und entsprechend muss man sich auch verhalten.

Es ist eine völlige Verkennung der geopolitischen Tatsachen eine "glaubwürdige Vermittlerrolle" einnehmen zu wollen, die am Ende nur einem politischen Suizid gleichkommt.

Du siehst hier wirklich den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr.
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H2O
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von H2O »

Der Teilnehmer Christdemokrat sehnt sich nach dem guten alten Deutschen Reich zurück... warum, das weiß er sicher auch nicht. Das Reich hat sich zweimal in große Kriege verwickeln lassen oder sie angezettelt... ist eigentlich Wurst, auf jeden Fall Selbstüberschätzung. 1/3 des Reichsgebiets ist verspielt, Millionen Menschen verloren ihre Heimat oder ihr Leben.

Unser Platz ist in der EU, eng verflochten mit dem Schicksal unserer EU-Partner. Wir haben an einer beispielslosen Wohlfahrt in Europa und an 65 Jahre Frieden mitgewirkt. Wir haben unsere Wiedervereinigung bekommen, weil niemands mehr unser Land fürchten muß... im Gegenteil mit seiner Hilfsbereitschaft rechnen kann. Ja, das kostet oft unser Geld, aber wir bekommen auch Geld zurück.

Ich will nicht wieder in diese gute alte Isolation zurück. Einigkeit macht stark!
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von yogi61 »

Ungarn ist für die EU natürlich nicht verloren, weil man hoffen darf, dass die Ungarn eines Tages vielleicht wieder anders wählen, als sie es zuletzt getan haben.
Two unique places, one heart
https://www.youtube.com/watch?v=Ca9jtQhnjek
Michael_B
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von Michael_B »

Morgen früh können wir vermutlich einen analogen Thread für Italien aufmachen.

@Topic: Ich glaube, ohne eine Reform der EU, insbesondere Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips, geht es nicht mehr.
Troh.Klaus
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von Troh.Klaus »

Christdemokrat hat geschrieben: So 25. Sep 2022, 02:30 Die Ukraine ist kein NATO-Bündnispartner, daher besteht keine militärische Beistandspflicht.
Es gibt auch keine militärische Beistandspflicht, wenn es um ein NATO-Land geht.
Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.
Es gibt aber den Artikel 51 der UN-Charta, auf den sich auch die NATO explizit bezieht.
Wir helfen der Ukraine auch nicht, indem wir unsere Wirtschaft zugrunde richten und unseren Wohlstand vernichten.
Als neutrales Land könnten wir eine glaubwürdige Vermittlerrolle zwischen den Konfliktparteien einnehmen und durch gute und geschickte Diplomatie einen wichtigen Beitrag zu einer möglichst raschen Beendingung dieses Krieges leisten.
Die Einstellung der Waffenhilfe für die Ukraine, am besten von allen westlichen Ländern, würde sicherlich zu einer raschen Beendigung des Krieges führen. Dass die Ukraine dann auf Gedeih und Verderb den Launen Putins und seiner Schergen ausgesetzt wäre, was interessiert das schon einen "christlichen Demokraten". Unser Wohlstand ist das Einzige was zählt - der Rubel muss rollen. Germany first.
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von H2O »

Platon hat geschrieben: So 25. Sep 2022, 02:42 (...)
Russland ist nicht unser Verbündeter oder gar eine Alternative zum Westen. Deutschland ist mit den USA und der EU verbündet und entsprechend muss man sich auch verhalten.
(...)
An "Verbündeter" habe ich auch nie geglaubt, aber als Alternative zum Westen schon... insbesondere als Trump mit einigen Blütenträumen radikal Schluß machte und der BREXIT uns kalt erwischte. Ich sah in Rußland den Handelspartner und die Rohstoffquelle, unser Land als willkommenen und hochgeschätzten Partner bei der Landesentwicklung. Das war natürlich ein gefährlicher Irrtum... der Imperialismus hat die Führungsclique dort fest im Griff, dafür gefährdet sie sogar die Zukunft ihres Landes. Bis zum Überfall auf die Ukraine sah ich auch immer die Kanzlerin und Präsident Macron als anerkannte Vermittler, wenn die Russen einmal wieder verrückt spielen wollten. Das alles ist nun Vergangenheit, wir haben unsere Zeitenwende.

Wie stellen wir Deutschen uns denn auf, wenn die EU an innerer Auszehrung durch Chauvinisten zerbricht? Da hatte ich tatsächlich die enge wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Rußland gesehen. Die funktioniert aber nur mit einen freiheitlich demokratischen Partner... das habe ich dazu gelernt. Eine Riesenenttäuschung wie Rußland Vertrauensvorschuß gebrochen hat! Und dieser Vorschuß war ja vorhanden, wenn wir an das russische Betriebseigentum in Deutschland denken.
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von Neandertaler »

Christdemokrat hat geschrieben: Sa 24. Sep 2022, 23:16 Die deutsche Bundesregierung sollte umgehend "Nordstream 2" in Betrieb nehmen, die Waffenlieferungen in das Kriegsgebiet einstellen und die Wirtschaftssanktionen beenden, um ..
Das sind jetzt Forderungen die in erster Linie Putin nützen du deutsche aber ein hohes Risiko darsten(Isolation, Ansehenverlust) aber wenig Gewinn versprechen.
Ich bin linksliberal, ich habe mich testen lassen.
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von sünnerklaas »

Christdemokrat hat geschrieben: Sa 24. Sep 2022, 23:16 Die deutsche Bundesregierung sollte umgehend "Nordstream 2" in Betrieb nehmen, die Waffenlieferungen in das Kriegsgebiet einstellen und die Wirtschaftssanktionen beenden, um die sichere Energieversorgung Deutschlands zu gewährleisten und die schlimmsten wirtschaftlichen Schäden für die deutschen Bürger und Unternehmen doch noch abzuwenden.
Nordstream 2 ist kaputt. Das Gas ist raus, die Pipeline nicht mehr funktionstüchtig. Gründe dafür sind unbekannt. Es gab ein Leck bei Bornholm. Unter der Ostsee.

https://www.finanzen.net/nachricht/rohs ... m-11742035

Nach der Geschichte mit dem Riesenrad in Moskau habe ich eine Ahnung, was der Grund sein könnte.
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Frank_Stein
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von Frank_Stein »

Atalanttore hat geschrieben: Mo 13. Apr 2020, 20:02 Bei der Parlamentswahl in Ungarn 2018 haben über zwei Drittel aller Wähler ihre Stimme einer rechtspopulistischen bzw. rechtsextremen Partei gegeben. Ein Großteil der ungarischen Bevölkerung möchte (Wähler) oder macht es nichts aus (Nichtwähler) in einer rechten Autokratie zu leben.

Hat sich dieses Land und seine Bevölkerung mit starker rechter Ausrichtung damit bereits als untauglich für die EU erwiesen?
Hu lauter Geisterfahrer ... am Ende sind die Deutschen, die einzigen, die auch der richtigen Seite unterwegs sind. :?:
Ceterum censeo Carthaginem esse delendam.
It is not racism, but pattern recognition.
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relativ
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von relativ »

Christdemokrat hat geschrieben: So 25. Sep 2022, 02:30 Die Ukraine ist kein NATO-Bündnispartner, daher besteht keine militärische Beistandspflicht.
Wir helfen der Ukraine auch nicht, indem wir unsere Wirtschaft zugrunde richten und unseren Wohlstand vernichten.
Als neutrales Land könnten wir eine glaubwürdige Vermittlerrolle zwischen den Konfliktparteien einnehmen und durch gute und geschickte Diplomatie einen wichtigen Beitrag zu einer möglichst raschen Beendingung dieses Krieges leisten.
Wenn die Industrie dann wieder billiges Gas hat , welche Geschäfts/Handelspartnerpartner hat sie dann Mittelfristig und Langfristig noch, wenn die deutsche Regierung so ein Schritt tun würde?
Wohl Hauptsächlich nur noch Diktaturen, einen solchen Verrat an dem westlichen Bundnis und den westlichen Idealen wird es nicht geben bei deutschen Regierungen mit demokratischen Parteien in deren Führung.
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von peterkneter »

Frank_Stein hat geschrieben: Mi 28. Sep 2022, 19:57 Hu lauter Geisterfahrer ... am Ende sind die Deutschen, die einzigen, die auch der richtigen Seite unterwegs sind. :?:
hmm? nein. eigentlich im Moment hauptsächlich nur Ungarn, was abdriftet. Kann sein, dass Schweden oder Italien folgen - kann man im Moment nicht sagen aber alle anderen scheinen doch einigermaßen an einem Strang zu ziehen.
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von Frank_Stein »

peterkneter hat geschrieben: Do 29. Sep 2022, 14:58 hmm? nein. eigentlich im Moment hauptsächlich nur Ungarn, was abdriftet. Kann sein, dass Schweden oder Italien folgen - kann man im Moment nicht sagen aber alle anderen scheinen doch einigermaßen an einem Strang zu ziehen.
Es ziehen immer alle an einem oder mehreren Stränge. Die einen nur eben in eine andere Richtung.
Ich sehe Polen, Tschechien, die Slowakei, Dänemark, Schweden, Italien, Ungarn, Österreich, Griechenland ... und einige weitere Länder, die in der Migrationsfrage durchaus eine andere Haltung entwickelt haben, also die "Komme wer da wolle"-Mentalität von der Rot-Grünen Bundesregierung.

Letztlich ist auch UK auch deswegen aus der EU ausgetreten.
Ceterum censeo Carthaginem esse delendam.
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von peterkneter »

Die Migrationsfrage habe ich damit gar nicht verbunden. Da wird sicher noch was kommen. Ein neues zuwanderungsgesetz wäre da z.b. aber im Moment hat sich Ungarn besonders durch seinen anti EU-Kurs und den Anbiederungskurs an Russland von allen anderen abgewendet.
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von H2O »

Ist das Verhalten Ungarns von den EU-Verträgen gedeckt...oder nicht? Darauf kommt es doch an. Im Fall Polens waren sehr klare Rechtsbrüche zu nennen in Sachen Rechtsstaatlichkeit. Und da hat es Strafen gesetzt und Sperrung von EU-Mitteln für den Wiederaufbau der Wirtschaft nach der harten Phase der Pandemie.

Mir ist nicht klar, wie weit Einigkeit in der Außenpolitik der Mitgliedsstaaten in Verträgen festgelegt ist. Insofern ist Ungarn ein sehr unangenehmer Partner, aber doch kein Rechtsbrecher. Ich meine, der große Aufhänger ist die Willkür der Mittelverteilung aus Zuwendungen der EU. Ist aber Ungarn darin so einzigartig innerhalb der EU? Da liegt doch der Hase im Pfeffer!
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von schokoschendrezki »

Misterfritz hat geschrieben: Mo 19. Sep 2022, 13:48 Die Firmen suchen sich dann andere Standorte, hat man beim Brexit ja schon gesehen.
Und wenn die ungarischen IT-ler keine Jobs mehr in Ungarn finden, werden sie woanders hingehen.

Wenn die Ungarn in der Mehrheit meinen, ihre Regierung müsste Verträge, die beim Eintritt in die EU unterschrieben wurden, nicht mehr einhalten, dann müssen sie mit Konsequenzen rechnen.

Als Europäer kann ich mit Verteidigern von Ungarn/Polen oder so absolut nichts anfangen. Wo wären die Ungarn denn jetzt ohne die EU und den Binnenmarkt?
Willst Du damit andeuten, ich würde zu den Verteidigern der gegenwärtigen ungarischen Regierung gehören? Das ist nicht der Fall. Ich sehe die ungarische Regierungspolitik so kritsch wie nur irgendetwas. Der kritischste Punkt dabei ist mit Abstand das in der neuen Verfassung von 2012 schon in der Präambel festgeschriebene und ausdrücklich so genannte "Nationale Bekenntnis". Danach ist Ungarn nicht einfach eine liberale Gesellschaft und ein Land mit einem souveränen Staatsterritorium sondern ein ungarisches Ungarn. Eine ethnisch-kulturell definierte Nation. Die einen bestimmten und vorgegebenen ethnisch-kulturell-religiösen Charakter zu haben hat.

Ich stehe zu jedem Land und ganz grundsätzlich und einschließlich des Landes, dessen Staatsbürger ich bin, in einer kritischen Distanz. "Verteidiger von Ungarn oder Polen". Wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert. Da gab es auch in Deutschland und wirklich solche glühenden Verteidiger von Nationen. Auch der polnischen Nation. Das war die Zeit dieses sogenannten Nationenfrühlings.

Ich lebe aber regelmäßig und z.T. auch etwas längere Zeit hier vor Ort in Ungarn. Bin grad auch wieder da. Und ich kenne die Leute hier. Ich kenne auch die Verhältnisse hier aus eigener, gründlcher und langer Erfahrung. Und ich sage dir: Ungarn ist auf die Zahlungen aus dem EU-Haushalt nicht notwendig angewiesen. Auch wenn kein EU-Land jemals auf irgendetwas freiwillig verzichten wird. Erstens. Und zweitens: Die Investoren, die hier massiv wirtschaftliche Kapazitäten aufgebaut haben, werden diese selbst bei einem formalen EU-AUstritt nicht stehen und liegen lassen. Sie bauen sie immer noch weiter aus. Schon weil die Randbedingungen (Infrastruktur, Bildung, qualifiziertes Personal, die geographische Lage und noch einiges mehr) kaum irgendwo in Europa so günstig sind. Und wie Länder wie Schweiz oder Norwegen zeigen, ist eine Teilnahme am europäischen Wirtschaftsraum nicht zwangsläufig an eine formale EU-Mitgliedschaft gebunden.

Das was ich über Brexit-Konsequenzen in wirtschaftlicher Hinsicht weiß, lässt mich z.T. ratlos zurück, weil es auf eine gewissen Irrationalität in den politischen Entscheidungen hindeutet. Zumindest Politiker wie Viktor Orbán bzw. Politiker seiner Partei sind jedoch durch und durch Opportunisten und Pragmatiker. Das unterscheidet sie meiner Ansicht nach auch von einigen religiös-ideologisch getriebenen Politikern in Polen. Die werden den Teufel tun und irgendetwas entscheiden, was am Ende dazu führt, dass Benzin teurer oder sonst irgendwie ein schönes Leben beeinträchtigt wird.


... es ist ja nicht das erstemal, dass ich mit solchen seltsamen Argumentationen konfrontiert bin. Sie haben aus meiner Sicht mit der irrigen Annahme zu tun, dass jeder Mensch in seinem politischen Weltbild irgendwie ein Land, ein Volk, eine Region "als Freund" (oder auch als "Feind") haben kann. Ich hab nur mich selbst und die Menschen meiner persönlichen Umgebung als Freund oder Feind.

Diese Vermenschlichungen sind völlig fehl am Platz. Die Welt ist ein großes Feld der Interessenswahrehmungen. Und aus denen resultiert die politische Entwicklung. Es gibt bezogen auf Ungarn ein starkes Interesse verschiedener großer Wirtschaftsunternehmen, dort ihre Standorte zu betreiben. Dieses Interesse wird nachlassen, wenn entweder die Durchschnittsgehälter rapide zunehmen oder sich die sonstigen Bedingungen (Bildung, Infrastruktur usw.) ändern. Das steht aber überhaupt nicht in Aussicht.
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von Misterfritz »

schokoschendrezki hat geschrieben: Mo 3. Okt 2022, 05:27 Und ich sage dir: Ungarn ist auf die Zahlungen aus dem EU-Haushalt nicht notwendig angewiesen. Auch wenn kein EU-Land jemals auf irgendetwas freiwillig verzichten wird. Erstens. Und zweitens: Die Investoren, die hier massiv wirtschaftliche Kapazitäten aufgebaut haben, werden diese selbst bei einem formalen EU-AUstritt nicht stehen und liegen lassen
Du hast meine Aussage nicht kapiert - oder nicht kapieren wollen.
Diese Investoren wären nicht da, wenn Ungarn nicht in der EU wäre. Wo stände Ungarn jetzt, wenn die EU sie nicht aufgenommen hätten?
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von schokoschendrezki »

Misterfritz hat geschrieben: Mo 3. Okt 2022, 08:52 Du hast meine Aussage nicht kapiert - oder nicht kapieren wollen.
Diese Investoren wären nicht da, wenn Ungarn nicht in der EU wäre. Wo stände Ungarn jetzt, wenn die EU sie nicht aufgenommen hätten?
Hab ich in dem Fall wirklich nicht gleich kapiert.

Bloß: Glaubst Du im Ernst, die verschiedenen Eu-Erweiterungen hätte es aus irgendeiner Art politischer "Gutwilligkeit" gegeben. Auch wenn für diese Erweiterungen natürlich ein Kern von Grundvoraussetzungen nötig waren. Der EU-Beitritt Rumäniens zum Beispiel. Für den sich insbesondere Frankreich stark gemacht hat. Für den Beitritt Kroatiens hat sich, wenn man das verfolgt hat, u.a. eine Lobbygruppe konservativ-katholischer Leute aus Richtung deutscher CSU eingesetzt. Am Anfang von Ungarns EU-Beitritt stand ganz wesentlich der Fall des eisernen Vorhangs und exemplarisch dafür das berühmte Paneuropa-Picknick. Das nicht umsonst so heißt. Weil dahinter die Paneuropa-Union, damals noch mit Otto von Habsburg an der Spitze stand. Also auch katholisch, rechtskonservativ, CSU-verwurzelt. Beim Anschluss Zyperns wurden noch nichteinmal die eigentlich festgelegten Grundvoraussetzungen vollständig beachtet.

Immer geht es dabei um einen Ausgleich, um eine Erlangung oder Wiedererlangung von Macht- und Einflussparitäten. Sowie um Wirtschaftsinteressen. Und zwar (zunächst einmal und vorrangig ersteinmal) von Seiten der bereits-Mitglieder und weniger der nochnicht-Mitglieder.
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von schokoschendrezki »

Ich bin ja zurzeit mal wieder nicht nur in Ungarn sondern gleichzeitig auch fast mit einem Fuß und nur ein paar Dörfer entfernt im österreichischen Burgenland. Unlängst las ich eine sehr interessante und irgendwie auch vergnügliche Analyse zum "System Kurz". Darin hieß es sinngemäß: "Der stets gut geföhnte Jungkonservative hätte noch vor kurzem, wenn die Aufnahme muslimischer Flüchtlinge so populär gewesen wäre wie heute die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge ... massenweise Muslime nach Österreich gelockt. Ohne mit der Wimper zu zucken."

Aber ich will nicht ablenken. Zurück zum System Orbán. Ungarn auch und gerade unter Orbán war in früheren Jahren vielleicht noch sojwetreich- und russlandkritischer als das russlandkritischste Land Europas heute, Polen. Der Volks-Aufstand 1956 und seine Niederschlagung durch die UdSSR gaben Anlass für einen Nationalfeiertag. Und überall in Ungarn stehen pathetisch-patriotische Denkmäler herum, die daran erinnern. Dann kamen die ganzen Energie- und Klimafragen. Und dann hat Viktor Orbán etwas verdeckt sein Atomkraftwerk von den Russen um einen weiteren großen Block erweitert. Und später mit Putin um Sonder-Rabatte bei Erdgaslieferungen verhandelt.

Glaubt man etwa, dass Orbán irgendwie zum Putin-"Freund" geworden ist? Oder auch, dass er mal Putin-"Feind" war? Oder dass Sebastian Kurz mal Islam-Feind war oder Ukraine-Freund ist? Wer das glaubt, versteht meiner Ansicht nach nicht, wie Politik eigentlich funktioniert.

Es mag irgendwo in der Welt Regionen geben, wo Politiker Idealisten sind, konsistent und dauerhaft aus einer politischen Überzeugung oder sogar aus einer moralischen Haltung heraus agieren. Für wahrscheinlich halte ich das allerdings nicht. Und die Nachrichten, die mich aus aller Welt erreichen, sprechen auch nicht grade dafür.
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von schokoschendrezki »

Und dann zur Frage des Konflikts Ungarn/EU selbst noch mal. (Ich hab gerad etwas Zeit ...) Man wird mitbekommen haben, dass Polen, das momentan in seiner Außenpolitik sehr große Differenzen mit Ungarn hat, bei diesem Konflikt Ungarn dennoch zur Seite gesprungen ist.

Das Thema des Threads ist so formuliert, dass es (nach meinem Gefühl) auf diesen Werte-Begriff abzielt. Demokratie und Frieden sind zweifellos hohe Werte. Aber seit dem Zeitalter von Kant stellt man unter Demokraten immer wieder und immer mehr fest, dass Deomkratie und Frieden zusammengenommen im Kern in ihrer Realisierung auf eine Verrechtlichung und "Verregelung" von Konflikten hinausläuft. Mit dem Zusatz, dass Regeln auf geregelte Weise auch änderbar sein sollten. Die momentanen Regeln in der EU sehen an vielen Stellen so aus, dass Einstimmigkeit oder auch eine weitgehende Mehrheit vorhanden sein muss. So siehts auch hier aus. Für die Feststellung einer EU-Vertragsverletzung sowie für die Beantragung einer Suspendierung sind Mehrheiten nötig. Eine tatsächliche Suspendierung kann nur einstimmig im EU-Rat beschlossen werden. Und da genügen genau zwei, um Suspendierungen komplett auszuschließen.

Ich kann, ganz offen gesagt, das Gerede von "Werten" und "Wertegemeinschaften" nicht hören und nicht ertragen. Wenn der deutsche Bundespräsident im TV zu einer salbungsvollen Rede anhebt, muss ich nach einer Minute um- oder ausschalten. Da siehts bei anderen Staatsoberhäuptern in der EU auch anders aus. Der französische Präsident ist nicht nur Oberhaupt sondern sowieso Oberbestimmer. Andere Oberhäupter sind in ihr Amt von der Bevölkerung gewählt und vertreten aufgrund dieser Legitimation viel deutlicher ihre Interessen. Andere wiederum sind königliche Majestäten und nicht wenige Menschen machen einen Knicks vor ihnen.

Das absurdeste, was man sich vorstellen kann, ist irgendeine Erwartung von "Dankbarkeit" in Richtung auf ein EU-Land wie Ungarn. Ersteinmal ist das eine Kategorie, die es in der politischen Analyse von Länderbeziehungen zurecht nicht gibt. Und zweitens und vor allem und wie schon geschrieben lag das Interesse dieses Beitritts - mindestens! - ebenso auf der Seite der "Altländer" wie auf der Seite der Beitrittskandidaten. Die Unternehmen, die ihre Niederlassungen in Ungarn aufgebaut haben, fanden dort aus betriebswirtschaftlicher Sicht eine Art Paradies vor.
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von Misterfritz »

schokoschendrezki hat geschrieben: Di 4. Okt 2022, 13:11 Hab ich in dem Fall wirklich nicht gleich kapiert.

Bloß: Glaubst Du im Ernst, die verschiedenen Eu-Erweiterungen hätte es aus irgendeiner Art politischer "Gutwilligkeit" gegeben.
Du hast meine Frage nicht beantwortet.
Es ging NICHT darum, warum Ungarn in die EU aufgenommen wurde, sondern, wie es Ungarn ginge, wenn sie es nicht wären. Hätten sie solche wirtschaftlichen Fortschritte gemacht, hätte sich das Leben dort in dem Masse verbessert?
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von schokoschendrezki »

Misterfritz hat geschrieben: Di 4. Okt 2022, 14:09 Du hast meine Frage nicht beantwortet.
Es ging NICHT darum, warum Ungarn in die EU aufgenommen wurde, sondern, wie es Ungarn ginge, wenn sie es nicht wären. Hätten sie solche wirtschaftlichen Fortschritte gemacht, hätte sich das Leben dort in dem Masse verbessert?
Das könnte man vielleicht - rein theoretisch - anhand der bis heute nicht aufgenommenen Staaten des Westbalkans, also etwa Albanien oder Nordmazedonien überlegen. Kann man aber praktisch nicht. Weil die Randbedingungen dort in etlicher Hinsicht völlig anders sind.

Ein etwas besseres Beispiel ist die Türkei. In der Türkei läuft seit einiger Zeit eine rapide staatlich forcierte Abwertung der Landeswährung mit dem Ziel, das Land für Investitionen attraktiv zu machen. Der Bruch mit der eigenen Bevölkerung ist nur zu heftig. Gegenwärtig gibts auch in Ungarn eine der höchsten Inflationsraten europaweit. Da ich hier selbstverständlich auch regelmäßig Lebensmittel und anderes Zeug kaufe, kann ich die Preisentwicklung ja mitverfolgen. Ziemlicher Mist für die Leute hier. Nur: Aufgrund der Forint-Abwertung bekomme ich von meinem Euro-Konto Monat für Monat mehr Geld in der Landeswährung für ein- und denselben Euro-Betrag. Würde ich hier jetzt einen kleinen Betrieb aufmachen, ein IT-Startup zum Beispiel, wäre ich aufgrund dieser Tatsache und weil auch die Gehälter hier nicht ansteigen und weil das Bildungswesen und die Verkehrsinfrastruktur hervorragend ist und weil die Mobilfunkdichte und die Internetanbindungsqualtität im Durchschnitt erheblich besser ist als in Deutschland und weil traditionelle Zentren wie Wien nur einen Katzensprung weit weg sind ... zumindest tendenziell sowohl gegenüber der einheimischen Konkurrenz wie auch der in Deutschland überlegen. Und was im Kleinen gilt, das gilt erst recht im großen. Ich tu dergleichen nur nicht mehr und befasse mich lieber mit ungarischer Lyrik, Weinlese und Weinzubereitung.

Unter anderem wegen der genannten Gründe, aber natürlich nicht nur, ist ein Land wie Ungarn EU-Mitglied. Die Frage, wie es den Ungarn im Konjunktiv ohne EU-Beitritt ginge, ist meiner Ansicht nach falsch gestellt oder besser gesagt unvollständig: Die Leute aus der Wirtschaft sowie die rechtskonservativ-nationalen Kräfte in Westeuropa hätten ihre Ziele ebensowenig erreicht wie die Mehrheit der Ungarn mit dem Wunsch nach EU-Beitritt. Die Frage deutet, so gestellt, immer noch auf eine Art "Gewährung" dieser EU-Mitgliedschaft als "Belohnung" für demokratische Fortschritte hin. Tatsächlich gibt es spätestens seit der Ernennung des polnischen Papstes ein Bestreben verschiedener konservativer Gruppen zur politischen Einbindung Osteuropas in einen Prozess der weltweiten Renaissance konservativ-nationaler Werte. Und das ist ja auch mit großem Erfolg gelungen. Auch wenn Otto von Habsburg und seine Paneuropaunion nun vielleicht nicht gleich das alte k.u.k.-Reich wiedererrichten konnte. Der Wirtschaftsaspekt kommt wesentlich hinzu.

Und deine Frage kann man schon deshalb nicht beantworten, weil es in Mitteleuropa außer der Schweiz gar kein Nicht-EU-Land gibt. Die Frage, ob Ungarn ohne EU-Mitgliedschaft den Sprung zum Wirtschaftsniveau der Schweiz geschafft hätte, kann ich nicht beantworten. Unwahrscheinlich. Aber diese Frage ist vielleicht weniger unrealistisch als man erstmal denkt.

Zu den Zeiten, als Viktor Orbán noch regelmäßig Ehrengast auf CSU-Parteitagen war ... hatte man schon den Eindruck, dass man dem Land die Rolle eines irgendwie osteuropäischen Musterstaats nach alpenländischer Art zutraute.
Zuletzt geändert von schokoschendrezki am Di 4. Okt 2022, 23:08, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von Misterfritz »

schokoschendrezki hat geschrieben: Di 4. Okt 2022, 22:55 Die Frage, wie es den Ungarn im Konjunktiv ohne EU-Beitritt ginge, ist meiner Ansicht nach falsch gestellt oder besser gesagt unvollständig
Nein, sie ist genau richtig gestellt!
Zeigt auch Deine Rumeierei bei der Antwort. Ungarn wäre - besonders, weil sie fast nur noch EU-Mitglieder in ihrer Nachbarschaft gehabt hätten - einfach schwer zurückgefallen. Sie wären bestenfalls Billigproduktionsland für die EU geworden. Also kaum Wohlstandszuwachs, keine Möglichkeit für die Bevölkerung, mal eben in der EU zu arbeiten und auch Kohle wieder zurück nach Ungarn zu schicken. Und keine Teilhabe an der Ausschüttung von EU-Geldern, um Wirtschaft und Sozialstaat zu konsolidieren. Nichts, rien, nada.
Und jetzt überlege mal, wo Ungarn ohne die EU wäre!
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von schokoschendrezki »

Misterfritz hat geschrieben: Di 4. Okt 2022, 23:05 Nein, sie ist genau richtig gestellt!
Zeigt auch Deine Rumeierei bei der Antwort. Ungarn wäre - besonders, weil sie fast nur noch EU-Mitglieder in ihrer Nachbarschaft gehabt hätten - einfach schwer zurückgefallen. Sie wären bestenfalls Billigproduktionsland für die EU geworden. Also kaum Wohlstandszuwachs, keine Möglichkeit für die Bevölkerung, mal eben in der EU zu arbeiten und auch Kohle wieder zurück nach Ungarn zu schicken. Und keine Teilhabe an der Ausschüttung von EU-Geldern, um Wirtschaft und Sozialstaat zu konsolidieren. Nichts, rien, nada.
Und jetzt überlege mal, wo Ungarn ohne die EU wäre!
Tut mir leid. Ich halte die Frage immer noch für falsch gestellt. Wo wäre das Unternehmen Audi, wenn es seine gesamte Motorenproduktion und auch Motorenentwicklung nicht in einem Land wie Ungarn abwickeln könnte? Wo gibt es eine Region, in der es gut ausgebildete tüftelfreudige Ingenieure zu angemessenen Gehaltsbedingungen und gleichzeitig eine hervorragende Infrastruktur gleich um die Ecke gäbe. In Tschechien vielleicht. Ja, da ist VW eingestiegen. In Wirklichkeit vollziehen sich solche politisch-wirtschaftlichen Entwicklungen in einem Prozess der permanenten Aushandlung und der Abschätzung von gegenseitigen Interessenswahrnehmungsmöglichkeiten. Eine solche einseitig gerichtete Wirkungslinie und eine trennbare zeitliche Abfolge von Kausalitäten gibts nicht. Es gibt die deutsche Industriehandelskammer in Budapest und die Herren und Damen dort verhandeln wesentlich lieber mit Orbán als mit der EU-Kommission. Es wird behauptet, man duze sich weitestgehend.

Man kann natürlich direkt den EU-Aufnahmevorgang von Ungarn untersuchen. Und eins muss ich zugeben: Inwieweit und ob sich die Teilnahme am europäischen Binnenmarkt und die Nicht-EU-Mitgliedschaft gegenseitig ausschließen ... das durchschaue ich auch nicht so wirklich. Es gibt glaub ich immer die Möglichkeit, diesbezüglich sehr weitgehende Verträge mit der EU ohne Mitgliedschaft abzuschließen.

Und diese Konjunktiv-Frage ist doch nur rein theoretisch. Wo wäre Deutschland, hätte es den Weltkrieg gewonnen. Kann man sich fragen. Aber bringts was? Die politische Entwicklung in Europa verlief so, dass es ein allgemeins Interesse daran gab, die EU um alle Staaten Mittelosteuropas zu erweitern. Aus etlichen Gründen. Die man allesamt und ohne Ausnahme als Interessenswahrnehmungen charakterisieren kann.
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von Misterfritz »

schokoschendrezki hat geschrieben: Di 4. Okt 2022, 23:24 Tut mir leid. Ich halte die Frage immer noch für falsch gestellt. Wo wäre das Unternehmen Audi, wenn es seine gesamte Motorenproduktion und auch Motorenentwicklung nicht in einem Land wie Ungarn abwickeln könnte?
Das ist aber erst passiert, weil Ungarn in die EU kam. Da ging es echt weniger um tüftelnde Ungarn.
Aber ich sehe schon, das siehst Du nicht ein.
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von relativ »

schokoschendrezki hat geschrieben: Di 4. Okt 2022, 23:24 Tut mir leid. Ich halte die Frage immer noch für falsch gestellt. Wo wäre das Unternehmen Audi, wenn es seine gesamte Motorenproduktion und auch Motorenentwicklung nicht in einem Land wie Ungarn abwickeln könnte? Wo gibt es eine Region, in der es gut ausgebildete tüftelfreudige Ingenieure zu angemessenen Gehaltsbedingungen und gleichzeitig eine hervorragende Infrastruktur gleich um die Ecke gäbe. In Tschechien vielleicht. Ja, da ist VW eingestiegen. In Wirklichkeit vollziehen sich solche politisch-wirtschaftlichen Entwicklungen in einem Prozess der permanenten Aushandlung und der Abschätzung von gegenseitigen Interessenswahrnehmungsmöglichkeiten. Eine solche einseitig gerichtete Wirkungslinie und eine trennbare zeitliche Abfolge von Kausalitäten gibts nicht. Es gibt die deutsche Industriehandelskammer in Budapest und die Herren und Damen dort verhandeln wesentlich lieber mit Orbán als mit der EU-Kommission. Es wird behauptet, man duze sich weitestgehend.
....
Orban ist ja auch nicht Industrieskeptisch sondern EU -Skeptisch. Kaum ein westliches Unternehmen wäre aber ohne EU- Rechtssicherheit und Schengen nach Ungarn gekommen. Ungarn profitiert ausserordentlich von der EU nicht nur durch die Fördergelder. Ungarn ist ,Stand 2021, 4 größstes Nehmerland in der EU.
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von H2O »

schokoschendrezki hat geschrieben: Di 4. Okt 2022, 23:24 (...)
Es wird behauptet, man duze sich weitestgehend.
Tja, das soll es geben. Ich kenne auch einen deutschen politischen Duzfreund Putins, der sich dessen inzwischen wohl schämen wird. Dumm gelaufen!
Man kann natürlich direkt den EU-Aufnahmevorgang von Ungarn untersuchen. Und eins muss ich zugeben: Inwieweit und ob sich die Teilnahme am europäischen Binnenmarkt und die Nicht-EU-Mitgliedschaft gegenseitig ausschließen ... das durchschaue ich auch nicht so wirklich. Es gibt glaub ich immer die Möglichkeit, diesbezüglich sehr weitgehende Verträge mit der EU ohne Mitgliedschaft abzuschließen.
(...)
Sicher kann man Ungarn eine Anbindung wie Norwegen oder Schweiz an den Binnenmarkt anbieten. Diese beiden Partner zahlen ihren Anteil an den Organisationskosten des Binnenmarkts, genießen Schengenfreiheiten. Ich meine, daß für Norwegen und Schweiz auch die vier Grundfreiheiten für Menschen, Unternehmungen und Kapital des Binnenmarkts gelten.

Aber die EU leistet keine Zahlungen, die nur EU-Mitgliedern zugedacht sind... Förderung der Landwirtschaft, Regionalförderung nur innerhalb der EU.

Vielleicht sollte die EU Ungarn und Polen endlich dieses Angebot machen... :)
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von Misterfritz »

H2O hat geschrieben: Mi 5. Okt 2022, 12:08 Sicher kann man Ungarn eine Anbindung wie Norwegen oder Schweiz an den Binnenmarkt anbieten. Diese beiden Partner zahlen ihren Anteil an den Organisationskosten des Binnenmarkts, genießen Schengenfreiheiten. Ich meine, daß für Norwegen und Schweiz auch die vier Grundfreiheiten für Menschen, Unternehmungen und Kapital des Binnenmarkts gelten.

Aber die EU leistet keine Zahlungen, die nur EU-Mitgliedern zugedacht sind... Förderung der Landwirtschaft, Regionalförderung nur innerhalb der EU.
Vereinbarungen wie mit Norwegen beinhalten aber vor Allem im Prinzip kein Mitspracherecht mehr, kein Veto-Recht ...
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von relativ »

Misterfritz hat geschrieben: Mi 5. Okt 2022, 13:17 Vereinbarungen wie mit Norwegen beinhalten aber vor Allem im Prinzip kein Mitspracherecht mehr, kein Veto-Recht ...
Für die EU wäre dies, im Bezug auf die momtentanen politischen Verhältnisse in Polen und Ungarn, sogar viel besser.
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von H2O »

Misterfritz hat geschrieben: Mi 5. Okt 2022, 13:17 Vereinbarungen wie mit Norwegen beinhalten aber vor Allem im Prinzip kein Mitspracherecht mehr, kein Veto-Recht ...
Das mochte ich nicht so deutlich ausdrücken... ;) aber ich glaube, der Tiefschmerz sind die ausbleibenden Mittel für die Landwirtschaft und die Regionalförderung... und jetzt natürlich Mittel aus dem Wiederaufbaufonds der EU mit zum Teil vergemeinschafteten Schulden. D. h., es zahlt derjenige, der noch kann...
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von schokoschendrezki »

H2O hat geschrieben: Mi 5. Okt 2022, 12:08 Tja, das soll es geben. Ich kenne auch einen deutschen politischen Duzfreund Putins, der sich dessen inzwischen wohl schämen wird. Dumm gelaufen!

Sicher kann man Ungarn eine Anbindung wie Norwegen oder Schweiz an den Binnenmarkt anbieten. Diese beiden Partner zahlen ihren Anteil an den Organisationskosten des Binnenmarkts, genießen Schengenfreiheiten. Ich meine, daß für Norwegen und Schweiz auch die vier Grundfreiheiten für Menschen, Unternehmungen und Kapital des Binnenmarkts gelten.

Aber die EU leistet keine Zahlungen, die nur EU-Mitgliedern zugedacht sind... Förderung der Landwirtschaft, Regionalförderung nur innerhalb der EU.
Ja. Audi Hungaria, um das wichtigste Unternehmen ausländischer Investoren in Ungarn zu nennen, wurde 1993 gegründet und begann 1998 mit Produktion und natürlich auch Export. Lange vor 2004.
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Re: Ist Ungarn für die EU bereits verloren?

Beitrag von schokoschendrezki »

relativ hat geschrieben: Mi 5. Okt 2022, 11:07 Orban ist ja auch nicht Industrieskeptisch sondern EU -Skeptisch. Kaum ein westliches Unternehmen wäre aber ohne EU- Rechtssicherheit und Schengen nach Ungarn gekommen. Ungarn profitiert ausserordentlich von der EU nicht nur durch die Fördergelder. Ungarn ist ,Stand 2021, 4 größstes Nehmerland in der EU.
DIe Frage, ob die Frage "Was wäre wenn es einen EU-Beitritt Ungarns nicht gegeben hätte" sinnvoll oder sinnlos ist, hat mit den politischen Inhalten erst mal nix zu tun. Sinnvoll ist eine solche Frage dann, wenn es in der historischen Entwicklung irgendwann mal die willkürliche Entscheidung eines Alleinherrschers gab. Dann kann man sich zurecht fragen: Was wäre, wenn der anders entschieden hätte. Der EU-Betiritt Ungarns 2004 (zusammen mit neun weiteren Ländern) war jedoch lediglich der formale Akt und das Ergebnis einer zuvor schon stattgefundenen längeren Entwicklung. Dabei trafen die Interessen verschiedenster Gruppen auf die Regeln und Verträge innerhalb der EU, an denen man nicht vorbeikommt. Eingebracht wurde das Anliegen - wie üblich - vom EU-Rat. Also der Königstafelrunde. Deren Mitglieder allesamt Eigeninteressen vertraten. Die sich allerdings auch an Regeln, in dem Fall an Beitrittskriterien ("Kopenhagener Kriterien") halten mussten. (Nicht ganz: Bei Zypern machte man eine Ausnahme.)

In demokratischen Gemeinschaften sind Entscheidungen das Ergebnis von Interessenswahrnehmungen innerhalb von Verrechtlichung und Verregelung. Sind immer Aushandlungen, Kompromisslösungen und keine Willkürlichkeiten. Und insofern folgerichtige Notwendigkeiten. Und insofern ist die Konjunktiv-Frage "was wäre wenn" sinnlos.

Die aktuellen politischen Entwicklungen sind die Bestätigung. Es ist zwar fraglich, wie lange die neue italienische Regierung bzw. das Regierungsbündnis halten wird (in Italien gibt es schnell mal Umwechslungen) ... aber zunächst einmal gibt es überhaupt keinen Zweifel daran, dass eine Regierung Meloni hundertprozent hinter Polen und Ungarn in der Auseinandersetzung mit den EU-Institutionen steht. Und nicht nur das. Es wird - ohne dass das jemand explizit so sagt - ein neues informelles Bündnis Polen+Ungarn+Italien geben, dessen politische Zielrichtungen Rechtskonservativismus, Orientierung auf Gemeinschaft, Nation, Identität, auf traditionelle Werte wie Familie, christlich abendländische Kultur und der Kampf gegen "Gendergaga" und den angeblichen Einfluss kulturfremder Phänomene wie den Islam oder die LGBT-Bewegung sein wird. Da ist einfach beim Armdrücken den zwei Leichtgewichten gegen das Schwergewicht EU-Kommission ein verhältnismäßig starker Arm hinzugetreten. Ich persönlich finde das sehr bedauerlich. Aber ich halte es für normal, sich in einer vollkommen heterogenen und vielfältigen Welt zu befinden. Solange nicht Gewalt das Mittel der Interessenswahrnehmung ist.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
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