Selina hat geschrieben:(26 Nov 2018, 15:45)
Im Forum wird der Begriff "Kollektivismus" meist als Vorstufe bzw. sogar Bestandteil des so genannten Totalitarismus verwendet. Die Gesellschaft habe quasi den Vorrang vor dem Individuum, was zum Beispiel den "real existierenden Sozialismus" ausgemacht habe. So wird es von Ihnen und anderen Rechtskonservativen ja ständig diskutiert. Und ich entgegnete, dass die Linke inzwischen aus ihren Fehlern gelernt hat und dem Individualismus und dem Individuum einen höheren Stellenwert einräumt als zu früheren Zeiten. Was völlig in Ordnung ist. Das bedeutet heute zum Beispiel, solche Bedingungen zu schaffen, wo der Einzelne Chancengleichheit und Gerechtigkeit erfahren kann. Das ist eine Rückkehr zur Marx-Aussage, wo "der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist" (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 1843/44).
Soso, so wird es von "mir und
anderen Rechtskonservativen" also diskutiert. Und schon hat man als ins Feindbild Zwangseingemeindeter ein Etikett an der Stirn pappen und sollte nun vors eröffnete Tribunal treten und beschwören, man sei ja nicht und so weiter. Ja, so funktioniert - nein, nicht linke Rhetorik, sondern die Rhetorik
ALLER, die sich im Besitz der Macht befinden, glauben oder erst zu gelangen trachten oder die zumindest die absolute sprachliche Deutungshoheit und schubladerische Einordnungskompetenz beanspruchen. Das heißt im Klartext: Es wird von all denjenigen so diskutiert, die in der Zwangsjacke ihrer Ideologien festgezurrt sitzen. Genau darin unterscheidet sich der demokratische Sozialist halt nicht vom demokratischen Faschisten, der neue Linke nicht vom neuen Rechten: ohne diese Schubladen würden sie stürzen.
Zum Marx-Zitat. Auch eines der schönen Zitate aus der Feder des großen Utopisten. Damit der Mensch das höchste Wesen des Menschen sei, lesen wir hier, sei die Maxime aller Politik, sämtliche Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes usw. Es weiß keiner, wann und wie ein Mensch das höchste Wesen des Menschen sei, aber es klingt so pastoral-human. Je weiter eine Utopie, so hat Ludwig Marcuse mal in einem Aufsatz über Utopien geschrieben, vom Ist-Zustand der Gegenwart entfernt sei, desto vager auch die Angaben darüber, wie das von wem zu bewerkstelligen sei. Und die Marx-Trunkenen haben dann in der Tat am Menschen gearbeitet. Trotzki zum Beispiel hat auch philosophiert darüber:
Das Leben, selbst das rein psychische, wird zu einem kollektiv experimentellen werden. Das Menschengeschlecht, der erstarrte Homo sapiens, wird erneut radikal umgearbeitet und - unter seinen eigenen Händen - zum Objekt kompliziertester Methoden der künstlichen Auslese und des psychophysischen Trainigs werden. (aus: Literatur und Revolution)
Nur damit einmal klar wird, dass ein demokratischer Sozialismus schon auch ein bisschen mehr Leichen im Keller liegen hat als es ihm lieb ist. Das Zitierte hätte auch im Gründungsdokument der Napola stehen können.
Chancengleichheit oder Gerechtigkeit, das hat noch jeder im Programm, daran ist nichts links. Es ist auch keine Rückkehr zu Marx. Was Sie tun müssten, das wäre: die Bedingungen benennen, die dafür geschaffen werden müssen, und zwar ganz konkret, nicht in allgemeinen blumigen Worten. Aber daran scheitert ja selbst Wagenknecht, die im Grunde auch keinen Plan hat und die wirkt, als wolle sie der Linken jetzt doch Mouffes Konzept eines linken Populismus antragen. Aber das ist die Kehrseite des allzu positiv konnotierten Begriffes links: Der Rebellionsgeist zündet nur rechts so richtig. Die Linke stößt hier einfach mit dem Kopf an die Decke. Nur Feinde zu haben nützt halt nichts.