schokoschendrezki hat geschrieben:(17 Sep 2021, 14:12)
Ich muss voranstellen, dass ich gewisse Entwicklungen persönlich keineswegs als positiv ansehe. Aber unabhängig davon. Der letzte Satz scheint mir von einer gewissen Arroganz und Überheblichkeit geprägt zu sein. Wenn Du dich da mal nicht irrst. Deinen verlinkten Artikeln steht die Analyse in der NZZ (eine eher konservative aber auf jeden Fall seriöse Zeitschrift gegenüber): "umgekehrt: China führt mit seiner Wirtschaftsmacht die westlichen Demokratien vor."
An der Stelle stimme ich Haegar zu. Die NZZ analysiert die aktuelle Situation. Es ist zweifellos richtig, dass China derzeit die westlichen Demokratien "vorführt". Das funktioniert aber nur, weil China in der Vergangenheit planmäßig und staatlich organisiert "geistiges Eigentum" gestohlen hat und sich nicht an internationale Gebräuche und Regeln hält. Genau dagegen regt sich aber immer stärker wachsender Widerstand. Bekanntlich wachsen die Spannungen zwischen China und dem Rest der Welt immer stärker. Das Wirtschaftssystem der westlichen Demokratien trägt sich aus eigener Kraft. Der chinesische Erfolg gründet sich letztlich auf "Raub". Und Raub ist kein langfristig tragfähiges Konzept. Irgendwann lassen die Beraubten sich nicht mehr berauben. Das erfährt China gerade. Peking ist politisch mittlerweile völlig isoliert. Das wird sich auch ökonomisch auswirken, wie Trumps Handelskrieg mit China angedeutet hat.
Zudem ist zu beachten, dass es nur ganz, ganz wenige undemokratische Staaten gibt, die zu ähnlichem wirtschaftlichen Erfolg gelangt sind wie China. Genau genommen fällt mir gar kein zweites Beispiel ein. In Demokratien scheint der wirtschaftliche Erfolg also eher die Regel zu sein, in Diktaturen hingegen eher die Ausnahme.
"Gnade" ist sowieso ein ganz seltsam archaischer Begriff. Der im harten Weltwirtschaftsleben wohl kaum irgendwo anzutreffen ist.
Gesellschaften reduzieren sich aber nicht auf das Wirtschaftsleben. Das Wirtschaftsleben ist, genau betrachtet, sogar nur ein Symptom der gesellschaftlichen/politischen Verhältnisse. China ist dafür das beste Beispiel. Im Verhältnis zwischen den Menschen und dem Staat können die Bürger nicht auf einklagbares "Recht" zählen, sondern nur auf freiwillig/willkürlich von den Machthabern gewährte "Gnade" - wenn überhaupt.
Der Rechtsstaat ist eine wunderbare Idee und Einrichtung. Er entfaltet seine positive Wirkung aber nur, wenn er nicht von informellen Regelungen überlagert wird. Er erfordert das selbständige eigenständige Individuum.
Genau das gerade nicht. Der Rechtsstaat gewährt Rechtssicherheit und Rechtsdurchsetzung insbesondere für die Menschen, die wenig Durchsetzungskraft haben und deshalb wenig Eigenständigkeit entfalten können. Der Rechtsstaat sorgt dafür, dass die Durchsetzung des Rechts nicht von persönlicher Macht abhängt. Unser gesamtes Justizsystem beruht auf dieser Grundhaltung.
Im letzten Absatz des verlinkten austrian-instituts-Artikels ist von einem "Zeitgeist" im Westen die Rede, der in Teilen zumindest den Ideen der liberalen Marktwirtschaft entgegengerichtet ist.
Genau das ist der Punkt: "...in Teilen...". Diesen Zeitgeist gibt es. Der ist aber keineswegs prägend. In Deutschland zum Beispiel pflegen vielleicht 10 Prozent der Menschen diesen Zeitgeist. Selbst bei den "Sorgenkindern" der EU (Polen, Ungarn) will eine breite Mehrheit der Menschen nichts von der Abgrenzung der eigenen Gemeinschaft gegen die Union wissen.
Das Bedürfnis nach einer "Leitkultur" unter konservativ geprägten Menschen sehe ich in einer ähnlichen Richtung wie das Sozialkreditsystem in China.
Wir haben eine Leitkultur. Das ist die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Mit dem chinesischen Sozialkreditsystem bzw. mit dem ihm zugrunde liegenden Gesellschaftsverständnis hat das gar nichts zu tun. Der Unterschied liegt darin, dass die Machthaber in China ihre "Leitkultur" ohne Rücksicht auf die Interessen der Bevölkerung definieren und notfalls mit Gewalt durchsetzen.
Orbán war irgendwann auch mal ein überzeugter Liberaler. Jetzt sind die Berufungen auf traditionelle Werte wie "Familie" Gesetz.
Na, das wage ich mal zu bezweifeln! Orban hatte irgendwann mal nicht die Macht, seine illiberalen Vorstellungen durchzusetzen. Jetzt kann er es, und jetzt versucht er es. Das hat aber gewiss nichts damit zu tun, dass er irgendwelchen moralischen Leitbildern wie "Familie" Geltung verschaffen will. Er braucht seine Macht letztlich nur dazu, sich selbst und seiner Sippschaft die Taschen voll zu machen.
In Deutschland wird diese Art von Macht nicht an Politiker vergeben. Da darf ein beliebiger Erz-Konservativer gern über Leitkultur reden. Er bekommt aber nicht die Macht, sowas dann auch durchzusetzen.
In Ungarn wird das übrigens auch nicht so einfach sein. Orban hätte das gern und drängt in die Richtung. Die PiS in Polen versucht das gleiche. Damit geraten sie aber zunehmend auf Kollisionskurs mit der EU. Kruzfristig mag sowas "erfolgreich" sein, mittelfristig fährt man damit aber gegen die Wand. Was "Erfolg" betrifft, liegt der einzige Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur/Autokratie in folgendem Punkt:
Diktaturen/Autokratien können schnell Entscheidungen treffen. Demokratisch getroffene Entscheidungen haben aber tieferen Rückhalt in der Bevölkerung und sind deshalb viel "hartnäckiger", weil möglicher Widerstand nicht mit Gewalt gebrochen werden darf.