garfield336 hat geschrieben: ↑Mo 24. Okt 2022, 14:39
Ich blicke da nicht mehr durch. Gibt es überhaupt eine realistische Chance dass die Protestierende die Mullahs stürzen?
Im Moment sind die Proteste nicht umfangreich und organisiert genug um die Mullahs ernsthaft in Gefahr zu bringen und es gibt auch noch keine ernsthaften Absetzbewegungen innerhalb der herrschenden Elite, zumindest keine die sich öffentlich deutlich äußern. Darum ist man ja auch im Ausland noch eher zurückhaltend mit Unterstützung und Versuchen der IRI international die Legitimation abzuerkennen. (z.B. durch Schließung von Botschaften und Ausweisung aller Diplomaten und natürlich der offizielle Abbruch der Atomverhandlungen wie von Masih Alinejad gefordert) Nichts desto trotz dauern die Proteste an und es kann zu langsamen und schnellen Entwicklungen kommen, welche eine Wende bringen.
Derartige Umstürze funktionieren so, dass sich durch Demonstrationen eine Oppositionsbewegung im Land formiert, welche durch die Möglichkeit Menschen zu mobilisieren eine eigene Legitimation hat, welche in Konkurrenz zum herrschenden Mainstream treten kann und die auch dieser Mainstream nicht einfach ignorieren kann. Hierzu muss eine solche Protestbewegung aber natürlich eine entsprechende Größe, Dauerhaftigkeit und Kohärenz haben.
Mit der Zeit erodiert die Unterstützung des herrschenden Systems, weil diese in den Augen der Allgemeinheit und auch der eigenen Unterstützer an Legitimität verliert und durch Streiks und Demonstrationen wird das Land faktisch unregierbar. Wenn das wirtschaftliche Leben zum Erliegen kommt, werden sich die Stimmen mehren eine Veränderung durchzuführen, damit die Lage wieder stabilisiert wird. Wenn irgendwann Teile der Polizei nicht mehr zur Arbeit kommen, Armeeeinheiten sich weigern die Befehle der politischen Entscheidungsträger auszuführen oder Mitglieder von Ministerien anfangen zu streiken, dann bricht der Staats- und Repressionsapparat zusammen und dann weiß jeder, dass das Regime am Ende ist. Es hat also viel mit Psychologie zu tun, ob irgendwann der Moment kommt, wo eine Masse an Leuten die groß genug ist nicht mehr an das Überleben des Regimes glaubt und dann kann es sehr schnell gehen.
Im Moment haben wir eine Situation, in der die Legitimation des Regimes heftig angeschlagen ist und durch die allgemeine Krise im Land jeder weiß, dass das Überleben des Regimes gefährdet ist. Wirklich sicher kann man sich aber natürlich nicht sein und es gibt (noch) keine offensichtliche Dynamik hin zum Sturz des Regimes. Denn durch die Repression gibt es keine wirklich organisierte Oppositionsbewegung im Iran selbst, alle potenziellen Anführer sitzen im Gefängnis oder im Ausland, und es gibt keine großen Massendemos - die größte war jetzt die kürzlich in Berlin mit 80000 Leuten.
Aber der große Elefant im Raum ist Khamenei und sein Prostatakrebs. Wenn er irgendwann die nächsten 6-12 Monate stirbt und die Proteste auf einem erkennbaren Level weitergehen, möglicherweise es Zugeständnisse gibt, möglicherweise werden Leute freigelassen, möglicherweise gibt es erneute Massaker, die die Proteste nochmal anfachen, dann wird es im Regime heftige Machtkämpfe geben und das kann dann zu einem schnellen politischen Wandel führen. Denn es gibt keinen offensichtlichen Nachfolger, welcher die potenziellen Unterstützer des Regimes vereinigen kann. Sein Sohn Mojtaba ist ein Kandidat, aber viel mehr als den Sicherheitsapparat wird er nicht hinter sich haben. Raisi macht als Präsident keine gute Figur, auch wenn er offensichtlich Ambitionen hat. Ahmad Khomeini wäre ein Kandidat, der als Nachkomme von Khomeini sich in Stellung bringt und den Reformern nahe steht, aber Probleme haben dürfte Sicherheitsapparat und Ultra-Konservative für sich zu gewinnen. Ein potenzieller Nachfolger stünde aber vor der Aufgabe das Überleben und die Kohärenz des Regimes zu sichern und da sieht es im Moment ziemlich schlecht für die IRI aus. Wie das am Ende laufen wird und welche Vorbereitungen Khamenei getroffen hat für sein Ableben, das wird man dann natürlich hoffentlich bald sehen.
Man sollte nicht übersehen, dass die Revolution 79 auch schon im Januar 1978 begonnen hatte, mit Protesten die auch alles andere als durchgehend friedlich waren, und im Januar 1979 verließ der Schah für medizinische Behandlungen das Land und kehrte nie wieder zurück und am 1. Februar 1979 kehrte Khomeini nach Iran zurück und Ende März gab es das berüchtigte Referendum, welches die Islamische Republik einführte. Diese revolutionären Umstürze sind ein langfristiger Prozess in denen unterschiedliche Machtzentren miteinander um Macht und Einfluss und Legitimation ringen. Das ist keine Sache wie in Ägypten oder Tunesien als nach 2 Wochen Massenprotesten der Herrscher dann gestürzt wird. Wenn die Revolution 2022 erfolgreich sein soll muss der Druck der Proteste für viele Monate aufrecht erhalten werden und im Laufe der Zeit wird man dann sehen wie es läuft.
https://en.wikipedia.org/wiki/Iranian_R ... ion_(1978)
Es ist halt die Frage, ob die Proteste so lange durchhalten, trotz all der Repression. Es ist ja bisher die große Überraschung, dass das durchaus der Fall zu sein scheint. Dinge wie der Brand in Evin oder größere Demos im In- und Ausland können den Ereignissen dann nochmal eine neue Dynamik geben. Entscheidend ist wie sich die Legimität und die Loyalität der Stützen des Regimes entwickeln. Die Krise im Land ist extrem. Aber die Opposition nicht organisiert. Wir werden sehen was passiert.
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