Kardux » Fr 21. Aug 2015, 08:40 hat geschrieben:
Wie ist denn die Situation im Südosten ?
Ein interessanter Artikel aus "Der Welt":
http://www.welt.de/politik/ausland/arti ... ltung.html
Vielleicht ist es bemerkenswert weil Cizire keine kleine Ortschaft ist...
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Der Nahe Osten ist derzeit ein einziger Trümmerhaufen. Die einzig wirklich sicheren Staaten im Moment sind die VAE und Katar, vielleicht kann man auch den Iran dazu zählen obwohl auch dort im Westen des Landes jederzeit Unruhen ausbrechen können, dasselbe gilt für den Osten Saudi Arabiens.
Sykes- Picot verabschiedet sich so langsam. Vielleicht auch in absehbarer Zukunft der Vertrag von Lausanne ?
Weil die Gesamtsituation in der Türkei eine Rolle spielt. Diese "Selbstverwaltungen" sind natürlich in erster Linie Propaganda, denn in diesen Städten regiert die HDP bereits mit extremer Mehrheit, in Cizre z.B. 95%. An der Lage in jenen Ortschaften ändert sich also faktisch nichts. Sie gelten als die Peripherie der Türkei, sind unterentwickelt, verarmt, die Gesellschaften sind patriarchal, Zukunftsperspektive ist ein Fremdwort für die Menschen dort und es sind relativ bildungsferne Schichten, auf die man trifft. Viele Ü-30er können nicht einmal richtig lesen oder schreiben. Weder auf Kurdisch noch auf Türkisch. Selbst ihre Kurdischkenntnisse sind ironischerweise schlechter als die der irakischen KurdInnen - davon konnte ich mich selbst überzeugen. In Cizre war ich 2009.
Dort liegt die offizielle Arbeitslosigkeit bei 70%, wenn ich mich richtig erinnere. Wer dort war und die Menschen fragt, bekommt eher den Eindruck, dass nur 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung überhaupt einer geregelten Arbeit nachgehen - davon ein nicht gerade kleiner Teil angestellt bei der Gemeinde. Bei den Jugendlichen liegt die Rate mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bei 90 Prozent oder mehr. D.h., aus soziologischer Warte bietet die Stadt den idealen Nährboden für Konflikte. Aus diesen sozioökonomischen Belastungsumständen zieht die PKK ihre größte Attraktivität. Das wirst Du verneinen, ich weiß. Natürlich gibt es auch ideologisch überzeugte Menschen vorort. Dort ist z.B. Hasim Zana getötet worden, PKK-Prominenz und -Kommandeur.
Dennoch, viele der Probleme sind "unkurdisch", sondern viel mehr "menschlich". Das unterscheidet den Konflikt in der Türkei von dem in Syrien oder Irak und teils im Iran. Denn prinzipiell haben die sunnitischen Türken und Kurden langfristig gesehen bessere Chancen, was eine Aussöhnung angeht. Man ist sich kulturell und traditionell ähnlicher. Zudem verliert mit steigendem Wohlstand die PKK Mitglieder - das lässt sich auch empirisch belegen, wenn man die Karte der Arbeitslosigkeitsrate in Ost- und Südostanatolien mit der der Stimmenanteile für die HDP übereinanderlegt, wird deutlich, was ich meine.
In Cizre werden die Probleme also durch regionale Faktoren multipliziert. Von dort auf den gesamten Südosten zu schließen, ist in etwa so, als würde man Dresden mit seiner PEGIDA-Bewegung auf westdeutsche Städte übertragen. Nicht repräsentativ. Abgesehen von der Tatsache, dass in einem "echten" Bürgerkrieg diese Städte samt ihrer EinwohnerInnen in Handumdrehen eliminiert würden durch Luftangriffe, weil klein, kompakt, weit entfernt von der Westtürkei, hat der Staat dort nicht die Kontrolle verloren.
Zusammengefasst: Cizre ist ein Sonderfall.
Mal bekämpfen sich dort rivalisierende kurdische Gruppierungen (z.B.:
http://news.yahoo.com/turkish-teenager- ... 36681.html), ein anderes Mal liefert man sich Kämpfe mit der Staatsmacht. Am Abend werden Gräben ausgehoben, die am morgen von der Staatsmacht wieder aufgefüllt werden (z.B.:
http://www.cizrepostasi.com/cizredeki-h ... 33593h.htm). Zudem liegt eine Abwesenheit der staatlichen Sicherheitskräfte nicht vor. Noch immer ist dort Polizei und Militär stationiert und liefert sich in den Nächten Kämpfe mit der PKK-Jugend. Neben Cizre haben 15 weitere Städte/Dörfer/Regionen ihre "Selbstverwaltung" ausgerufen. Strenggenommen nicht deren Kommunen- oder Stadtparlamente, sondern die KCK (
https://de.wikipedia.org/wiki/Koma_Civakên_Kurdistan) in deren Namen in Zusammenarbeit mit der kurdischen Kleinstpartei DBP (
https://de.wikipedia.org/wiki/Demokrati ... er_Partisi).
Salih Gülenç aus der Partei sagt, dass sie weder einen Autonomiestatus noch Kantone ausgerufen hätten, aber sie müssten das, wenn der "faschistische Staat" nicht den Krieg beende. Das meinte ich oben damit, dass sich faktisch nix ändert, weil diese Regionen ohnehin die Kurdenpartei HDP wählen.
Diese hüllt sich seit Tagen in Stille.
Vermutet wird ein Konflikt innerhalb der Partei, die die Staatsmacht und PKK gleichermaßen kritisierte. Viele dieser Selbstverwaltungserklärungen sind also inhaltsleer und eher Symbolpolitik und Ausdruck eines Missfallens. Die PKK/KCK fordert ein Ende der Bombardements. Das heißt im Umkehrschluss auch, dass diese punktuellen Konflikte so schnell wieder abgeschaltet werden können wie sie entstanden. In der Stadt demonstrierte bereits "die Wirtschaft" (Geschäftsleute, Ladenbesitzer, Handels- und Industriekammer) für Frieden. Im Osten heißt das, dass sie gegen die PKK auf der Straße waren. Das wird von der PKK und den türkischen Medien gleichermaßen so verstanden, weshalb sie diese Demos auch groß aufgreifen:
http://www.milliyet.com.tr/cizre-de-stk ... er-934930/
Genau deswegen sagte ich, dass die reale Situation mit deiner Schilderung nicht korrespondiert. JEDE türk. Regierung, die so etwas zuließe, würde von den WählerInnen umgehend bestraft werden. Nicht mal Erdogan würde sich das leisten können.