Der philosophische Begriff der "menschlichen Natur" ist alles andere als einfach zu beschreiben, und obwohl Psychologie und Neurowissenschaften Fortschritte machen, die Internalität der "menschlichen Natur" zu erfassen, so werden bereits hier die ersten fundamentalen Unterschiede, die es zwischen Menschen geben kann, akzeptiert.
Das Ergebnis sind nicht nur Staffelungen neurowissenschaftlicher Untersuchungen in Altersgruppen und Krankheitsbilder, sondern auch Schulen der Psychologie, wie die Genderpsychologie, die Liberation-Psychology oder generelle kulturspezifische Psychoanalyse.
Die Menschheit ist aus der Perspektive dieser Wissenschaften bereits einigermaßen komplex.
Das, was man über den Menschen und seine psychischen Mechanismen dank Sigmund Freud einigermaßen genau weiss, ist so einleuchtend, so selbstverständlich, und so naheliegend, dass man sich fragen muss, ob nicht für jede Lebensform, die ein fortgeschrittenes Stadium der Intelligenz wie der Mensch erreicht, solche Mechanismen, wie die Projektion und Integration, oder die Identifikation mit dem Täter wesentlich sein müssen.
Mit anderen Worten, das, was uns Psychologie und Neurowissenschaften zur Determination der menschlichen Natur anbieten, könnte in vieler Hinsicht ganz allgemein das Wesen evolutionär fortgeschrittenen Lebens sein.
"Definition"
Der Begriff "menschliche Natur" müsste durch ein Inventar der Humanspezifika sowohl die Determination des wesentlich Menschlichen erlauben, als auch die Definition des Menschen gegenüber dem Tier ermöglichen, doch auch das ist problematisch.
Es ist beinahe egal, was man anführt : Ob Lachen, Schadenfreude, Improvisation, Spiel, Eifersucht, alles das kann auch das Tier, und die Ethik fügt dem Ganzen gleich eine Moralität der Tiere hinzu.
Der Mensch unterscheidet sich demnach vom Tier, wenn, dann
* durch spezifische Errungenschaften, wie die durch Begriffe und Konkretisierung ermöglichende syntaktische Bestandteile strukturierte Sprache,
* durch Nuancierungen fundamentaler Dinge, wie dem Humor, der aus der bloßen Fähigkeit entstand, sich freuen zu können, der aber dem lachenden Tier fremd ist,
* durch spezifische Handlungsformen, die aus einer Freiheit des Willens heraus möglich sind, wie der Differenzierung zwischen Ziel und Zweck, sowie dem bewusst und willentlich praktizierten Selbstmord,
Doch über eines gibt es gar keinen Zweifel. Diese ganzen Ansätze, den Menschen vom Tier zu distinguieren scheitern nicht nur angesichts der vielfachen ernüchternden Erkenntnisse bestürzender Rückfälligkeit des Menschen auf tierisches Niveau, sondern sie befriedigen auch für sich betrachtet kaum die menschliche Neugierde.
Der Mensch, sofern er sich vom Tier unterscheidet, durch ein Ausmaß an Willensfreiheit, die es ihm ermöglicht, grundsätzlich menschliche, und Tieren unmögliche Verhaltensweisen zu kultivieren, hat hierdurch ebenso die Möglichkeit zu regredieren.
Evolutionsweisen
Zu diesen Problematiken, den Begriff "menschliche Natur" sowohl zu determinieren, als auch zu definieren, kommt eine eine weitere, schwerwiegende, evolutionäre Problematik hinzu. Nicht nur ist die Evolution bereits der Beweis dafür, dass der Mensch vom Tier abstammt, sondern sie ist gleichermaßen der Beweis dafür, dass der Mensch anders ist als das Tier : Es gibt kein Tier, das so aussieht, wie der Mensch.
Die Evolution jedoch ist etwas ganz Besonderes, sie scheint zu einem Zeitpunkt vor etwa 100.000 Jahren für das menschliche Gehirn scheinbar stehengeblieben zu sein.
Diese Wahrnehmung ist gewiss der immensen Schnelligkeit der Emergenz menschlicher Zivilisation zu danken, die einfach vieltausendfach schneller vonstatten ging, als die biologische Evolution auf der Erde. Das bedeutet, obwohl Menschen sich in vielem voneinander und von den Tieren auch unterscheiden, so haben wir trotzdem noch immer ein Gehirn der Menschen, die bis zu der Vergangenheit vor 100.000 Jahren überlebten, und sämtliche hierfür notwendigen Entwicklungen mitmachten.
Um die Pathologie solcher Dinge zu beschreiben, die seitdem zivilisationsbedingt den Menschen in einer Weise strapazieren, auf die die Evolution noch keine Antwort gefunden hat, haben wir Begriffe, wie den Stubenkoller, oder den Kulturschock.
Offensichtlich hat der Mensch seine Evolution irgendwann vor 100.000 Jahren in die Hand genommen, und der allgemeinen, biologischen Evolution, seine eigene Metaevolution - eine Evolution der Evolution - hinzugefügt.
Dem nicht genug, die Menschheit wird über kurz oder lang außerhalb der Erde siedeln, in welcher technologischen Weise, an welchem Ort auch immer. Sei es auf dem Mars oder unter seiner Oberfläche, im Erdorbit, oder hierüber hinaus. Wenn dies geschieht, so wird die Menschheit sich zweifellos weiter ausdifferenzieren.
Neue Menschenarten, werden auf neue, menschliche Lebensformen folgen, und durch diese bedingt sein. Das, was alles zur menschlichen Natur gezählt werden kann, wird sich notwendigerweise vervielfachen, und verändern.
Noch einmal der Wille
Um das Problem vollständig zu verflixen, hier ein vierter Aspekt, der menschliche Wille. Ganz egal, ob dieser frei ist, oder nicht : Wenn er nicht relativ frei wäre, so müsste er wenigstens dieses sein. Das heißt, die Befreiung des Willens von seinen Zwängen und Einschränkungen ist das Projekt der Menschheit.
Aber was bedeutet es denn, solch ein Projekt zu haben ? Würden alle Menschen den Deterministen recht geben, so hätte es die einen, die der Meinung wären, der Menschenwille könne nicht frei sein, und die anderen, die der Auffassung sind, der Menschenwille sei zwar nicht frei, könne es aber wenigstens irgendwann sein. Die politische Spielart derer, die glauben, der Menschenwille sei besser nicht frei, sondern bliebe so unfrei wie nur möglich, lasse ich einmal außen vor.
Es bedeutet sicherlich, den Menschen als veränderlich, als wandlungs- und verbesserungsfähig zu verstehen, und hiermit auch dessen Natur, und es bedeutet, solche Wandlungen für die Vergangenheit bereits anzunehmen, sie aber für die Zukunft umso vehementer zu beabsichtigen, umso mehr, je mehr man sich ihres Mangels bewusst ist.
Das wiederum bedeutet, dass man die Natur des Menschen, sobald sie determiniert und definiert ist, weder - und überhaupt nicht - verabsolutieren kann, noch wird verabsolutieren wollen.
Die dann vom moralischen Menschen gestellte Frage würde eher lauten : Wie kann die menschenwürdige Evolution der menschlichen Natur befördert werden ?
Boulema
Zieht man all dies in Betracht, so erscheint die Rede von der "menschlichen Natur" sowohl theorie-wissenschaftlich, als auch moralpraktisch völlig falsch.
Gibt es eine menschliche Natur ?
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Re: Gibt es eine menschliche Natur ?
Ich sehe das anders.Oliver Krieger hat geschrieben: ↑Donnerstag 27. Juni 2024, 16:20
Zieht man all dies in Betracht, so erscheint die Rede von der "menschlichen Natur" sowohl theorie-wissenschaftlich, als auch moralpraktisch völlig falsch.
Es gibt eine Natur bei Lebewesen bzw. Tieren. Wenn es sie bei Tieren gibt, warum nicht auch beim Menschen? Das ergäbe keinen Sinn.
Es gibt Verhaltensweisen, die nicht eine Frage des Erlernens oder unseres Willens sind, sondern die in der DNA hart verdrahtet sind.
Lass mich dazu ein paar Beispiele liefern.
Bei mir im Garten leben einige Solitärbienenarten.
Diese Tiere schlüpfen im Frühling aus ihrer Kammer. Sie haben nie ihre Eltern kennengelernt, haben also von den Eltern nicht gelernt, wie man zu welchen Blumen fliegt, den Nektar einsammelt, sich dann eine geeignete "Höhle" sucht, die dann mit Blütenpollen vollstopft (vorher hat sie sich noch mit einem Männchen gepaart), dann ein Ei legt, dann eine kleine Mauer aus Lehm oder pflanzlichen, mineralischen Bestandteilen baut, dann das gleiche Spiel immer wieder.
Sie wissen nicht, dass eines Tages daraus ihr Nachwuchs schlüpfen wird und alles wieder von Vorn beginnt. Es gibt einige Verhaltensweisen, die die die unterschiedlichen Tierarten nie erlernt haben, es aber trotzdem automatisch tun, weil es Teil ihres "Programmcodes" ist.
Willst Du ernsthaft behaupten, dass der Mensch einen solchen Programmcode nicht in sich trägt? Das was den Menschen vielleicht von niederen Tieren unterscheidet ist, dass man zusätzlich die Fähigkeit besitzt, etwas zu lernen und es an die Nachkommen durch Erziehung weiterzugeben und auch der Wille einen manchmal davon abhält, seiner "Natur" zu folgen. Aber sie steckt dennoch in uns.
Ceterum censeo Carthaginem esse delendam.
It is not racism, but pattern recognition.
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Re: Gibt es eine menschliche Natur ?
Es ist schon bezeichnend, dass du eine Bienenart zum Beispiel kürst, und nicht auf den Menschen, und seinen Programmcode zurückgreifst.Frank_Stein hat geschrieben: ↑Donnerstag 27. Juni 2024, 22:20 Willst Du ernsthaft behaupten, dass der Mensch einen solchen Programmcode nicht in sich trägt? Das was den Menschen vielleicht von niederen Tieren unterscheidet ist, dass man zusätzlich die Fähigkeit besitzt, etwas zu lernen und es an die Nachkommen durch Erziehung weiterzugeben und auch der Wille einen manchmal davon abhält, seiner "Natur" zu folgen. Aber sie steckt dennoch in uns.
Der "Nature/Nurture"-Diskurs, sowie der über das "Clean Slate" sind nicht neu :
https://en.wikipedia.org/wiki/The_Blank_Slate
Stephen Pinker argumentiert moralpraktisch, dass die Vorstellung, die menschliche Natur sei ein unbeschriebenes Blatt, und es müsse dem Menschen erst alles beigebracht werden, aus politischer Perspektive gefährlich ist. Das ist mehr als nur ein Punkt für dich.
Und Immanuel Kant beschrieb ja auch vor 250 Jahren schon einen Teil dessen, was uns menschlich macht, mit seiner Wendung von den "Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis", die zu seiner berühmten Transzendentalphilosophie führte, und die sich in ihrer Gesamtheit mit der dem Menschen eigenen Art und Weise befasst, die Wirklichkeit zu erkennen. Diese kann tatsächlich nur eine menschliche "Natur" sein, also die Art und Weise zu sehen, denn kein Lebewesen hat ebensolche Augen UND ein ebensolches Gehirn wie der Mensch.
Doch es fehlt inmitten dieser Argumentationen das Wesentliche, also das, worüber man sagen könnte : Das gibt es nicht nur, nur beim Menschen, sondern es kann derlei auch nirgendwo sonst, als beim Menschen geben, weshalb es sich um die Natur allein des Menschen handeln muss.
Man kennt den immensen Komplex kognitiver Verzerrungen, die für Menschen typisch sind :
https://www.visualcapitalist.com/wp-con ... -share.jpg
Das heißt, es gibt durchaus so etwas wie Eigenarten, Dispositionen, und Vermögen, die man bei vielen Menschen findet, und die, obwohl nicht wesentlich, ein Wesen ausmachen könnten, allerdings fehlt hier der Nachweis, dass es derlei nur beim Menschen geben kann.
Auch ist Pinker durchaus nicht unangreifbar. Man kann argumentieren, die Disposition, einander normalerweise, also eher nicht zu töten, sondern zu kooperieren, müsse ein Teil der menschlichen Natur sein, doch nicht nur das 20. Jhdt, der Ausnahmezustand Krieg im Allgemeinen, und zudem die überbevölkerte Erde sind Bedingungen, unter denen sich erwiesen hat, und erweisen wird, wie unwesentlich diese "Natur" des Menschen, sich und seinesgleichen nicht gnadenlos zu vernichten, wirklich ist. Auch umgekehrt wird kein Schuh draus. Der Mensch ist ebensowenig im Wesentlichen eine mordgeile Bestie.
Das heißt, wir bewegen uns hier im abstrakten Raum der Verhältnisse, der Dispositionen, der Wahrnehmungsgewohnheiten, und der Möglichkeiten nur unter der Bedingung einer Anstrengung.
Gerade der menschliche Umgang mit der eigenen Freiheit ist doch ein Beweis dafür, dass Menschen sogar imstande sind, eben das, was ein von Geburt an mitgegebener Programmcode sein könnte, zu ignorieren. Das heißt, im Lauf der Evolution der Menschen lebten Menschen in einer derart komplexen, und veränderlichen Umgebung, dass von allen Menschen diese überlebten, die keinen Programmcode in sich trugen, sondern stattdessen nur eine Disposition, diese, oder jene, oder notfalls gar keine Verhaltensweise zu artikulieren.
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Re: Gibt es eine menschliche Natur ?
Nach der Einteilung der Arten würde ich den Mensch noch als Tier einordnen. Aber anders besonders.
Was würde ich jetzt als typisch "menschlich" betrachten?
Ich nehme für den Anfang mal eine Sache. Bezeichnend finde ich die Fähigkeit des Menschen, dass er bewusst reflektieren kann. Er kann sich also Erinnerungen aufrufen, sie sich bildhaft vorstellen und abspielen und daraus Schlüsse ziehen.
Dann doch noch eine zweite: Diese Schlüsse kann er zum Beispiel selbst codieren und festhalten - in Bildern, in Symbolen, in Schrift (Code).
Was würde ich jetzt als typisch "menschlich" betrachten?
Ich nehme für den Anfang mal eine Sache. Bezeichnend finde ich die Fähigkeit des Menschen, dass er bewusst reflektieren kann. Er kann sich also Erinnerungen aufrufen, sie sich bildhaft vorstellen und abspielen und daraus Schlüsse ziehen.
Dann doch noch eine zweite: Diese Schlüsse kann er zum Beispiel selbst codieren und festhalten - in Bildern, in Symbolen, in Schrift (Code).
Die Zukunft ist Geschichte.