Es gibt in Ungarn in Bezug auf die gesamte EU wie auch auf Europa und irgendwo auch auf die Welt ein viel viel gravierenderes Problem als das Versickern von EU-Geldern: Das ist der aggressive Nationalismus. Es gibt starke politische Kräfte in Ungarn, die die Nichtanerkennung der bestehenden Grenzen fordern. Und eine Missachtung des völkerrechtlich bindenden Friendsvertrags von Trianon von 1920. Bei dem ein großer Teil des Ungarischen Königreichs den umgebenden Nachbarländern zufiel. Überall in Ungarn sieht man Plakate oder Aufkleber mit einem Bild, das Ungarn in den Grenzen vor dem 1. Weltkrieg zeigt. Oder Parolen wie "Ganz Ungarn!" Da die Grenzen der jetzigen EU-Staaten ebenfalls völkerrechtlich anerkannt und verbindlich sind, läuft dies - ob bewusst formuliert oder nicht - letztendlich auf einen Aufruf zu einem Wiedereroberungsfeldzug hinaus.H2O hat geschrieben: ↑Mi 5. Okt 2022, 14:17 Das mochte ich nicht so deutlich ausdrücken... aber ich glaube, der Tiefschmerz sind die ausbleibenden Mittel für die Landwirtschaft und die Regionalförderung... und jetzt natürlich Mittel aus dem Wiederaufbaufonds der EU mit zum Teil vergemeinschafteten Schulden. D. h., es zahlt derjenige, der noch kann...
Und man kann den ganzen Spuk durchaus parallel zur Kreml-Ideologie vom russischen Reich und der Wiederherstellung einer fiktiven Gesamtnation sehen. Wie ein Katalysator wirkt dabei die Tatsache, dass Ungarn mit seiner nichtindoeuropäischen Sprache von lauter Ländern mit komplett anderen Landessprachen (germanische, slawische, romanische) umgeben ist. Irgendwann haben sich die Magyaren in Europa niedergelassen und nun soll das Karpatenbecken und angrenzende Teile ihre Heimstatt sein. Das ganze überwuchert mit allen möglichen historischen Ritualen und Rückbesinnungen.
Und gleichzeitig existiert dieses Netz aus moderat korrupten und fidesz-treuen Lokalpolitikern. Die wiederum ihre Leute vor Ort haben. Ein patriarchales System. Die Patriarchen wirtschaften durchaus in Eigeninteresse, sorgen sich aber auch um die Leute vor Ort. Und unter den Leuten vor Ort gibts die, die über etwas mehr Einfluss verfügen. Die Sportvereine oder (patriotische) Kultureinrichtungen unterstützen. Im Prinzip so ähnlich wie in einem der bekanntesten Auftritte des Satirikers Gerhard Polt, in welchem er eine landbayerische Gemeinderatssitzung auf die Schippe nahm.
Demgegenüber stehen die großen Städte, ihre Bevölkerung und ihre Bürgermeister. Und insbesondere Budapest als politische, kulturelle und wirtschaftliche Metropole. An dem Widerspruch zwischen den traditionalistischen Einstellungen im ländlichen Raum und der urbanen Bevölkerung in den Städten wird das System Orbán am Ende scheitern. Nicht der "Druck aus Brüssel" wird dies bewerkstelligen.