Kleon 2.0 hat geschrieben: ↑Samstag 6. August 2022, 15:22
1871 versteht man nicht ohne 1848, das nicht ohne französische Revolution, die nicht ohne die amerikanische Unabhängigkeit usw usf
Um die europäische Kultur zu verstehen ist auch zumindest oberflächliches Wissen über Mittelalter & Antike nicht falsch.
Das kann man so sehen. Man muss es aber nicht.
Dazu zwei Punkte:
1. Wer nicht weiß, woher er kommt, weiß auch nicht, wohin er geht.
2. Wer nicht aus den Fehlern der Vergangenheit lernt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.
In diesem Sinne denke ich, dass viel zu wenig getan wird, um den Schülern zu vermitteln, worum es geht. Und das ist dann eben nicht "Bulimielernen" irgendwelcher Jahreszahlen, sondern man muss ihnen auch die Zusammenhänge beibringen. Sie müssen es begreifen lernen. Ansonsten leben die Leute in einer Dauerschleife einer geschichtslosen Gegenwart, in der es keine Orientierung gibt. Und der Krug geht so lange bis zum Brunnen, bis er bricht. Und dann kommt vielleicht ein neues Zeitalter der Barbarei.
In diesem Sinne halte ich es auch nicht sehr zielführend, wenn anderswo im Fernsehen auf ZDF Info der Zweite Weltkrieg in der Dauerschleife gezeigt wird. Diejenigen, die es am meisten benötigen würden, erreicht man damit sowieso nicht. Und die anderen Leute bzw. Schüler meinen durch solche Aktionen nur, dass die deutsche Geschichte wirklich nur und ausschließlich aus den Jahren 1933 bis 1945 besteht. Bzw. in der erweiterten Form aus den Jahren 1871 bis 1990. Natürlich sind diese Jahre auch wichtig. Aber was ist mit dem Dreißigjährigen Krieg? Oder wie will man den Schülern denn vermitteln, welchen langen und beschwerlichen Weg beispielsweise die Idee der Demokratie in Deutschland und Europa genommen hat? Und dass es sehr wohl wichtig ist, die Demokratie und den europäischen Geist beizubehalten und zu verteidigen?
Ebenso das Fach Gemeinschaftskunde. Wie will man denn die Schüler zu mündigen Bürgern formen, wenn sie nicht einmal wissen, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert?
Es gibt wirklich einiges, das an unserem Schulsystem verändert gehört. Ich schlage zum Beispiel ein Fach Medienkunde vor, in dem die Schüler ihre Medienkompetenz verbessern können. Dann lernen sie zum Beispiel, dass nicht jeder Verschwörungskanal auf YouTube, der seine Meinung kundtut, genau so ernst genommen zu werden braucht, was den Wahrheitsgehalt betrifft, wie ein Kanal, der sich an wissenschaftliche Fakten hält. Aber nur ein oberflächliches Wissen über Mittelalter und Antike beizubringen, ist auch zu wenig. Da reicht es ja für den Geschichtsinteressierten, ein Buch zu lesen. Wobei dies heutzutage auch schon ein Fortschritt wäre. Meines Erachtens muss den Schülern beigebracht werden, dass es schön und bereichernd sein kann, ein ganzes Buch durchzuarbeiten. Besser als diese Textschnipsel, die sie auf ihrem Smartphone zu lesen bekommen.
Ich kann mich jedenfalls selbst noch gut an die Worte unseres Geschichtslehrers erinnern. Da wurde bis zur zehnten Klasse oberflächlich Geschichtsunterricht erteilt. Und gleich zu Beginn der elften Klasse sagte er dann sinngemäß: "Jetzt passt mal auf. Es war alles ganz anders." Und wenn man dann wirklich später Geschichte studiert, dann stellt sich die ganze Sache noch einmal völlig verschieden dar.
Und wenn ich den Schülern von heute etwas beibringen wollte, dann, dass sie lernen, mit Ausdauer auch dicke Bretter zu durchbohren. Das ist jedenfalls deutlich mehr als die Zeitspanne eines TikTok-Videos.