Diese ist im aktuellen Konflikt zentral, weil die Existenz der ukrainischen Nation durch den Krieg in Frage gestellt wird. Auch hierzulande wird die Geschichte Südosteuropas zumeist von der russischen Geschichtsschreibung dominiert. So hat SPD-Altkanzler Helmut Schmidt nach der Eroberung der Krim durch Russland noch öffentlich die These vertreten können, dass es die Ukraine als Nation ja eigentlich gar nicht gebe und er zeigte Verständnis für die Annektion der Krim durch Putin. Denn das eigene Geschichtsbild kann das politische Handeln prägen, wenn man in der Außenpolitik die Ukraine als „Kleinrussland" nicht so richtig ernst nimmt und stattdessen den eigenen Beziehungen zu Russland den Vorzug gibt.
Dazu gilt es die ukrainische Geschichtsschreibung in der deutschen Erinnerung an den zweiten Weltkrieg ernst zu nehmen. Melnyk hat kürzlich gefordert ein Mahnmal für ermordete Ukrainer im zweiten Weltkrieg zu errichten. Zweiter Weltkrieg in der Ukraine - „Ein riesiger blinder Fleck im historischen Gedächtnis Deutschlands“, Bei Gedenken zum 8. Mai Melnyk fordert Mahnmal in Berlin für ermordete Ukrainer im Zweiten Weltkrieg) Der Krieg im Osten kann nicht allein als Krieg der russischen roten Armee gegen die deutschen Nazis dargestellt werden. Hier müssen die Perspektiven der anderen osteuropäischen Völker und ihre Leidensgeschichten, eben auch der Ukrainer, hervorgehoben und berücksichtigt werden. Der zweite Weltkrieg zerstörte weite Teile der Ukraine und führte zur Ermordung und Verschleppung von Millionen Ukrainern. Dazu gehört auch ein nicht unwesentlicher Teil der Auslöschung des osteuropäischen Judentums im Holocaust. Gleichzeitig kann man aber auch nicht unkritisch die Perspektive einiger ukrainischer Nationalisten übernehmen und muss zum Beispiel was die Person Stepan Bandera angeht, manche Dinge auch kritisch sehen.
Im Sinne eines kritischen Umgangs mit ukrainischer Nationalgeschichte beginnt mein eigener Überblick, welcher den Usern den Einstieg in die ukrainische Geschichte erleichtern soll, dann auch nicht mit dem Kiewer Rus, einem Feudalreich des 11. Jahrhunderts, welches von Russen und Ukrainern gleichermaßen als Beginn der eigenen Nationalgeschichte beansprucht wird. Ich werde auch nicht ausführlich auf die Geschichte der Kosaken eingehen, welche mit dem Hetmanat vom 16. bis 18. Jahrhundert einen ukrainischen Herrschaftsverband errichtet hatten, der aber unter Katharina der Großen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend in das Zarenreich integriert wurde und ein zentraler Bezugspunkt modernen ukrainischen Nationalbewusstseins wurde.
Vielmehr beginnt meine Darstellung der Geschichte des modernen ukrainischen Nationalismus Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts. Zu diesem Zeitpunkt lebten die Ukrainer als Teil der Vielvölkerreichen der Habsburger und der Zaren. Ukrainer lebten insbesondere in der Westukraine als Bauern auf dem Land, während Polen, Russen und Juden die Städte beherrschten, während im Osten in den Gebieten der Kosaken neben dem Land auch die Städte ukrainisch geprägt waren. Diese soziale Ausdifferenzierung der verschiedenen Ethnien, die natürlich nicht absolut war, ist ein Schlüssel um diese Epoche der Geschichte zu verstehen. Es gab zu diesem Zeitpunkt keine ukrainischen Universitäten und keine ausgeprägte ukrainische Literaturtradition. Angeregt von entsprechenden Trends in Europa stellten sich ukrainische Intellektuelle, vor allem Adlige und Kleriker, die Frage nach ihrer eigenen Sprache, Geschichte und Kultur. Einen Anfang machte Ivan Kotliarevsky, welcher 1798 mit Eneida erstmals ein Gedicht auf Ukrainisch verfasste. Als der große Nationaldichter der Ukrainer gilt Taras Shevchenko, welcher das herausragende Mitglied der Kyrill-und-Method-Bruderschaft war, die ein nationales Bewusstsein der Ukraine zu wecken begannen. Sein ganzer Lebensweg ist dabei für die ukrainische Nation repräsentativ, da er als Leibeigener und Hirtenjunge begann. Dann durch seine Begabung als Maler und später Dichter einen sozialen Aufstieg erlebte. Später wurde er von den Russen verhaftet, weil er versuchte ein nationales Bewusstsein der Ukrainer zu wecken und verbrachte 10 Jahre in der Verbannung in einem abgelegenen russischen Militärposten. Später wurde er begnadigt und kehrte in die Ukraine zurück, lebte dort aber nicht lange. Er gilt als die bedeutendste historische und literarische Person der Ukraine überhaupt.
Dabei ist zu beachten, dass sich diese nationalen Aktivisten sich mitunter auch vorstellen konnten, dass die Ukraine als eigenständige und autonome Nation durchaus einen Teil der Reiche der Zaren bzw. Habsburger bleiben konnte. Prägend für die Geschichtsschreibung wurde Mychajlo Hruschewskyj, der von 1898 bis 1937 ein zehnbändiges Geschichtswerk: „Geschichte der Ukraine-Rus“ publizierte, in der eine durchgehende ukrainische Geschichte vom Kiewer Rus bis zum Hetmanat propagierte. Diese kulturelle Bewegung der Ukrainophilen wurde von den beiden imperialen Staaten je nachdem unterschiedlich behandelt. Mal sah man in ihnen eine separatistische Bewegung, wie vor allem im Zarenreich wo Veröffentlichungen in ukrainischer Sprache 1863 verboten wurden, mal wollte man sie zum Beispiel gegen einen als gefährlicher eingeschätzten polnischen Nationalismus in Stellung bringen. Letzteres galt für die Ukrainer in Galizien, die sich angeführt von ihren Priestern als loyale Untertanen der Habsburger darstellten.
Der springende Punkt bei der Sache ist, dass sich diese Herausbildung eines ukrainischen Nationalbewusstseins parallel zu ähnlichen Prozessen zum Beispiel bei Russen und Polen vollzog und mit dem Zusammenbruch des Zarenreichs im ersten Weltkrieg zur Entstehung des ukrainischen Nationalstaates führte.
Nach der Februarrevolution 1917 rief man im März in Kiew in der Zentralna Rada die Ukrainische Volksrepublik aus und machte den schon erwähnten Historiker Hruschewskyj zum eigenen Vorsitzenden. Zunächst sah man sich als Teil eines föderalen Russlands und im Januar 1918 erklärte man sich zu einem souveränen Staat. Dieser Staat wurde von den Bolschewiki bedroht, die im Dezember in Kharkiw einen eigenen ukrainischen Staat ausriefen und zunächst Kiew eroberten, dann aber dort von deutschen Truppen vertrieben wurden, die sich mit der ukrainischen Nationalbewegung verbündet hatten. Die Deutschen setzten mit Skoropadskyj als Anführer eines Hetmanat eine Umgestaltung des ukrainischen Staates durch. Diese Zeit ist sehr kompliziert und wird in einem unten verlinkten Video im Detail erklärt. Aber am Ende waren die Bolschewiki erfolgreich und es wurde die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik etabliert, welche Ende 1991 zum heutigen ukrainischen Staat wurde. Dieser bezieht sich nun in seinem Mythos sehr stark auf die ukrainische Volksrepublik und die Ukrainophile Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts und führt die eigene Nationalgeschichte in Anschluss an Hruschewskyj bis zum Kiewer Rus zurück, was bei der Staatsgründung ausgesprochen wurde, als man erklärte:
https://en.wikipedia.org/wiki/Declarati ... dependenceIn view of the mortal danger surrounding Ukraine in connection with the state coup in the USSR on August 19, 1991, Continuing the thousand-year tradition of state development in Ukraine,
Proceeding from the right of a nation to self-determination in accordance with the Charter of the United Nations and other international legal documents, and
Implementing the Declaration of State Sovereignty of Ukraine,
the Verkhovna Rada of the Ukrainian Soviet Socialist Republic solemnly declares
the Independence of Ukraine and the creation of an independent Ukrainian state – UKRAINE.
The territory of Ukraine is indivisible and inviolable.
[…]
Die Kulturpolitik in der Sowjetzeit war unterschiedlich. Zu Beginn unter Lenin wurde die ukrainische Nationalkultur gefördert ( Korenisazija). Aber es kam es zu anderen Zeiten zu Einschränkungen und einer stärkeren Russifizierung. Dazu sind natürlich in den ersten Jahrzehnten der Sowjetherrschaft die große und von Stalin herbeigeführte Hungersnot (Holodomor) und diverse stalinistischen Säuberungswellen zu nennen. Es gibt noch einiges mehr hierzu zu sagen.
Langfristig von besonderer Bedeutung war, dass im zweiten Weltkrieg und in den Jahren danach es zu erheblichen territorialen Erweiterungen und Veränderungen in der Bevölkerung der Ukraine kam. 1939 teilten sich Hitler und Stalin Polen untereinander auf und die Ukraine wurde im Westen stark erweitert. Später erhielt die Ukraine auch Gebiete von Rumänien, der Tschechoslowakei und 1954 die Krim.
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/ ... growth.png
Dazu war die Ukraine nach dem zweiten Weltkrieg ethnisch homogener. Die polnische und deutsche Minderheit wurde größtenteils vertrieben bzw. deportiert und die Juden wurden fast alle im Holocaust ermordet. Es blieben die Ukrainer als dominante Bevölkerung und die Russen als große Minderheit. In Städten wie Odessa oder Lemberg hatten im 19. Jahrhundert kaum Ukrainer gelebt, man stellte dort eher die ländliche Bevölkerung, nun waren sie dort in der Mehrheit.
Die Organisation Ukrainischer Nationalisten kämpfte zunächst in Galizien gegen den polnischen Staat, da sie die polnische Herrschaft als Besatzung ukrainischen Gebiets wahrnahm. Im zweiten Weltkrieg kämpfte man auf der Seite der Nazis und kämpfte gemeinsam mit diesen z.B. als Bataillon Nachtigall gegen die Sowjetunion. Als man dann aber im Juni 1941 einen unabhängigen ukrainischen Staat ausrief wurde der Anführer Stepan Bandera verhaftet und kam ins KZ, wo er aber gut behandelt wurde. Letztendlich ließen sich Leute wie Bandera von den Nazis täuschen. Denn man hatte keineswegs die Absicht eine unabhängige Großukraine zu schaffen, wie das einem Bandera vorschwebte, sondern man sah die Ukraine als Ressourcenlieferant und potenziell als zukünftige deutsche Siedlungskolonie für den Lebensraum im Osten, die Ukrainer bestenfalls als Sklaven der Zukunft. Die Zusammenarbeit mit den Nazis und Massaker z.B. an Polen, während man gleichzeitig aber das Fernziel einer unabhängigen und starken Ukraine verfolgte, führen dann dazu, dass Bandera heutzutage sehr unterschiedlich beurteilt wird. Er gilt manchen, keineswegs allen, in der Ukraine als Nationalheld – sein Grab in München, wo er 1959 vom KGB getötet wurde, ist aktuell mit zahlreichen Ukraine-Flaggen geschmückt und auch Botschafter Melnyk hat dort 2015 Blumen niedergelegt. Eine solche Sichtweise stößt natürlich bei polnischen, russischen, jüdischen und auch deutschen Vertretern auf heftiges Unverständnis.
Nach dem zweiten Weltkrieg kam es dann wieder abwechselnd zu einer liberalen Nationalisierungspolitik und einer stärkeren Russifizierung, wobei sich das Russische vor allem in der höheren Bildung durchgesetzt hatte. Ebenso kam es im Grunde seit dem 19. Jahrhundert im Südosten des Landes zur Einwanderung vieler Russen, um dort Arbeit in der Schwerindustrie im Donbass zu finden. Man hat sich das auch nicht immer als feste Grenze vorzustellen. Bereits im Zarenreich war es Angehörigen lokaler Eliten häufig möglich über entsprechende Bildung und Annahme russischer Sprache und Kultur Eingang in die Kreise der russischen Elite zu finden. Wobei das ein Thema für sich ist. Heutzutage sind die Vorzeichen ein Stück weit umgekehrt, weil das Russische in der Ukraine als Umgangssprache allgegenwärtig ist, während von offizieller Seite eher ukrainisch gesprochen wird.
Nachdem im August 1991 Funktionäre der russischen Kommunisten versucht hatten Gorbatschow zu stürzen erklärte die Ukraine neben anderen Staaten ihre Unabhängigkeit. Damit hatten sich Pläne eines Fortbestands der Sowjetunion als Staatenunion erledigt und eine Woche später war die Sowjetunion Geschichte. Was in den nächsten Jahren folgte, war ein katastrophaler ökonomischer Zusammenbruch auf 40% der Wirtschaftsleistung von 1989, von dem man sich nur langsam erholte. Und der Weg hin zu einer demokratischen Ordnung, die in den letzten 20 Jahren trotz allem etablierte und mehrfach auch zu friedlichen Machtwechseln führte. Populäre und zivilgesellschaftliche Bewegungen wie sie 2004 mit der orangenen Revolution und 2014 mit dem Euromaidan zum Ausdruck kamen gibt es ebenso wie Oligarchen mit großem politischen Einfluss. Hatte es einige Zeit ein Ringen zwischen pro-russischen, welche eine wirtschaftliche Integration mit Russland anstreben, und pro-europäischen Kräften, die sich wirtschaftlich mehr nach Westen ausrichten wollen, hat sich durch die Besetzung der Krim und den Krieg im Donbass eine Dominanz der Zweiteren ergeben.
Nachdem die Ukraine 1991 ihre moderne Unabhängigkeit ohne großen Krieg erlangt hatte, muss sie jetzt 2022 für deren Aufrechterhaltung doch noch große Opfer bringen und es bleibt zu hoffen, dass die Ukraine am Ende innerlich und äußerlich gestärkt hervorgehen wird. Der Kampf mit Russland schweißt zusammen und es etabliert sich ein ukrainischer Nationalismus, welcher sich einerseits mit der Symbolik von tausend Jahre ukrainischer Geschichte legitimiert mit ihren Nationalhelden (Wladimir, Khmelnytsky, Mazepa, Shevchenko und Hruschewskyj). Auf der anderen Seite ist aber auch klar, dass im ukrainischen Staatsbürgertum auch Russen, Juden und all die anderen Minderheiten gleichberechtigt miteingeschlossen sind.
Überblicksliteratur zur ukr. Geschichte:
Kappeler - Kleine Geschichte der Ukraine
Plokhy - The Gates of Europe: A History of Ukraine