In einem Anfall von übertriebenem Optimismus habe ich mich zu dem Versuch entschlossen, das dahinsiechende Unterforum "Philosophie" vor dem endgültigen Exitus zu retten. Dass ich ausgerechnet in diesem Thread gelandet bin liegt ausschließlich daran, dass sich hier noch Spuren von Leben, sprich einigermaßen aktuelle Beiträge, finden. Nun denn, lehne ich mich also weit aus dem Fenster:
Selina hat geschrieben:(08 Nov 2019, 13:57)
Man will "das Eigene" vor "dem Fremden" bewahren und "schützen".
Ich würde die Formulierung "dem Bekannten" Vorzug vor dem "dem Fremden" - oder besser "Unbekannten" - zu geben bevorzugen. Zum Einen, weil das der korrekte Gegensatz ist, zum Anderen, weil "das Eigene" auch ein Besitzverhältnis impliziert.
Daran ist zunächst mal nichts Ungewöhnliches, schließlich hat sich dieses Konzept über Jahrtausende evolutionärer Entwicklung bewährt, beispielsweise bei der Nahrungsaufnahme. Eine vorsichtige Annäherung an "das Unbekannte" hat aber sicher auch zur Erfolgsgeschichte des Homo sapiens beigetragen, ansonsten wäre es bei einem äußerst schlichten Angebot an Nahrungsmitteln und möglichen Sexualpartnern geblieben. Diese Horizonterweiterung ist also zu begrüßen - so lange sie nicht pathologisch wird und in eine irrationale Bevorzugung des "Unbekannten" umschlägt, als sei dieses grundsätzlich besser als das Bekannte. Oder auch nur gleichwertig. Diese Einschätzung dürfte im Falle der Nahrungswahl nämlich zu einem deutlich erhöhten Lethalfaktor führen, welches Problem sich im Zuge der Menschwerdung zum ersten Mal ergeben haben dürfte, als die instinktgesteuerte Nahrungssuche des Tieres durch bewußte Auswahl abgelöst wurde. Was bekömmlich war konnte nur durch Risikobereitschaft und Experiment ermittelt werden. Abgesehen von Notständen, in denen man mangels Auswahlmöglichkeit alles in sich hineinstopfen mußte, was gerade verfügbar war. Derartige Risikoerfahrungen sind vermutlich nicht folgenlos geblieben, sie dürften sich tief im menschlichen Unterbewußtsein verankert haben. Was wiederum die Skepsis erklärt, mit der manche Menschen dem "Fremden" oder "Unbekannten" begegnen. Denn wie weit der Einzelne sich dem öffnet, wird auch gegenwärtig noch durch die Variablen "Risikofreude und Experiment" bestimmt. Es sei denn man wähnt sich im Taka-Tuka-Land, wo alles nur eitel Freude und Sonnenschein ist. Oder wie Alex in "Clockwork Orange" sagt: "...als gäbe es keine Bosheit auf der Welt.". Um es, inspiriert durch den Satire-Strang, etwas flapsig auf den Punkt zu bringen: Auch "Bekannte" morden gelegentlich, man kann sie aber in der Regel besser einschätzen als die "Unbekannten".
Zum oben diskutierten Begriff der "Identität": Die gegenwärtig virulenten Atavismusphänomene weisen nach meiner Einschätzung eher auf ein "Identifikations"-, als auf ein "Identitäts"-Problem hin. Das Wiedererstarken älterer Identifikationsmuster wie "Nationalstaat" oder "Volk" lassen darauf schließen, dass alternative Begriffe mit vergleichbarer Bindungskraft derzeit nicht im Angebot sind. Man darf dabei nicht übersehen, dass
"Volk" und
"Nation" lange Zeit positiv konnotiert wurden und erkämpft werden mußten. Angesichts der immer "bunter" werdenden Gesellschaft (wann ist "Buntheit" eigentlich zum Qualitätsmerkmal mutiert?) fragt sich der einfache Mensch: "Zu wem gehöre
ich eigentlich, wer sind und wo finde ich Meinesgleichen?". Die Antwort liefern dann Politiker unterschiedlichster Couleur, wer "Volkes Sprache" spricht gewinnt. Siehe Trump, siehe Erdogan, siehe Orban, siehe Höcke. Siehe Kim Jong-un, siehe Xi Jinping, siehe - mit Abstrichen - Putin. Da zuckt selbst dann keiner, wenn sich ein Milliardär zur Gallionsfigur der Habenichtse erklärt. Oder ein Diktator zur Stimme der Arbeiterklasse. Oder ein Faschist zur bürgerlichen Mitte...
"Das gefährliche an der Dummheit ist, daß sie die dumm macht, die ihr begegnen." (Sokrates).