Orbiter1 hat geschrieben:(21 May 2019, 18:35)
Theresa May hat angekündigt dass beim 4. Anlauf den Brexit-Deal durchs Parlament zu bringen u. a. auch eine vorübergehende Zollunion und ein zweites Referendum mit im Paket enthalten sind. Bei einigen Tories werden schon die Messer gewetzt um die Verräterin endlich ihrer gerechten Strafe zuzuführen.
Die gute Theresa May hat in Sachen Brexit nicht nur schon viel angekündigt oder absichtserklärt, sondern sogar als amtierende Regierungsvertreterin im März und September 2018 zweimal schriftlich (!) der sog. backstop-Lösung im ausgeverhandelten Austrittsvertrag zugestimmt, um dann kurze Zeit später alles für null und nichtig zu erklären. Weil ihr im Parlament oder im eigenen Regierungslager ein "njet" aus irgendeiner Ecke entgegen kam. Egal, ob es mal Arlene Foster oder Boris Johnson oder Rees-Mogg oder ...oder...war und ist. May ist als Premierministerin Großbritanniens mittlerweile jemand, der in Brüssel, im Parlament und im EU-Rat nicht mehr für voll oder gar entscheidungsfähig und diesbezüglich verlässlich angesehen wird. Man behandelt sie mit der Art Diplomatie, der ein großer Vorgänger von ihr, Winston Churchill anhängig war: Sinngemäß war für ihn Diplomatie der Weg, jemandem nett und in gepflegtem Umgangston zu sagen: "Fahr zur Hölle!" - Um in einem aus der Biologie entlehntem Bild zu bleiben, hat die politische Frau May keinen Monatszyklus, sondern einen täglichen, der stündlich zwischen Eisprung, Migräne, schicksalsanklagenden Feminismusattacken und einem five o'clock - Kamillentee hin- und her oszilliert. Selbstverständlich verabsäumte sie dabei nie, was ihr der "Kaffeesatz" des Kamillentees zum Lesen gab: "Die Europäer werden einknicken, das taten sie bisher immer".
Heute kam eine sehr interessante Doku über Guy Verhofstadt, den Leiter des Brexit-Koordinationsausschusses des EU-Parlaments, der mit (erlaubter) Kamera- und Tonaufnahme hinter die Verhandlungskulissen während der Brexitverhandlungen blicken ließ. Verhofstadt war als Leiter dabei auch in ständigem und engen Kontakt mit Michel Barnier, dem Leiter der Brexitverhandlungen auf EU-Seite. Als sich gegen Ende der zeitlich etwa über zwei Jahre gehenden Dokumentation das wiederholte "No" für den Austrittsvertrag durch das brit. Unterhaus ergab, war noch in einem Nebensatz die Einschätzung von Barnier (zum Scheitern der Austrittsverhandlungen) zu vernehmen, die auch in Verhofstadts EU-Koordinationsausschuß nicht überhört wurde:
Barnier kam zu dem Schluß, dass dieses Scheitern des Brexit letztlich das Ergebnis einer viel tiefergehenden, politischen Krise GBs sei.
Dem Barniergedanken folgend: Ein Land, das zwischen einer reichlich unaufgearbeiteten Vergangenheit der Weltmacht des British Empire, dem hier und heute der (veränderten) politischen Realität und dem , wie man sich und das britische Selbstverständnis künftig sieht oder wiedererlangen will. Sprich den Abstieg vom weltumspannenden big player und Wiege der Industrialisierung zur WWII - Siegermacht und der anschließenden wirtschaftlichen Mittelmäßigkeit, die in wichtigen, industriellen Schlüsselbereichen nur noch die dritte Geige spielt und seine politische und wirtschaftliche Bedeutung dadurch zurückgewinnen will, indem es in alter und liebgewohnter Machtdemonstration den mittlerweile unangenehm großen (wirtschaftlich) dominierenden Klotz EU verspeist und damit nicht nur dem eigenen Volk, sondern der ganzen Welt zeigt, "we are the champions. We were, we are and we'll be".
Um es britisch zu denken und zu fragen: Geht das noch oder wieder? - It won't work anymore, I presume. Cause the times are a changin', wie schon Robert Zimmermann wusste.
Festzuhalten bleibt, dass sich die politisch Verantwortlichen in GB diesen Fragen, besonders auch nicht May und Ihre Regierung, stellen wollen, genausowenig wie Labour. Und insofern irrt das Land derzeit von einem Zustand der Orientierungslosigkeit in einer Art identitärem Dauernebel umher, der sich zuweilen auf starken Bodennebel verdichten kann, wie die Brexitverhandlungen zeigten.
Was könnte man daraus lernen: Blöd gelaufen, dat. Ausgerechnet zwei "Doofe" mit dem gleichen Problem öden sich an. Denn nicht nur die EU oder die Vision von Europa befindet sich in einer ungelösten und unbeantworteten Identitätskrise, sondern auch GB. Leider.