schokoschendrezki hat geschrieben:(02 Aug 2018, 08:45)
Es nützt aber nix, den Blick nur auf "hierzulande" zu beschränken. Man muss irgendwie einen Umgang damit finden, dass weltweit Religionen so nachgefragt sind wie schon lange nicht mehr. Die These, dass mit wirtschaftlicher, kultureller, wissenschaftlicher usw. Modernisierung quasi zwangsläufig eine Säkularisierung einhergeht, hat sich als völliger Irrtum erwiesen. Völlig egal, ob man dies nun als erfreulich oder bedauerlich ansieht. In einem großen Land wie Russland hat die Wiederhinwendung zur Religion auch gewissermaßen einen weltpolitischen Aspekt. Aber schau nur mal auf ein modernes, aufgeklärtes. industrialisiertes, wirtschaftlich zunehmend gut laufendes Land wie Polen. Von einer Abwendung von der Religion kann überhaupt nicht die Rede sein. Im Gegenteil. Es muss also einmal eine Antwort auf die Frage gefunden werden, warum das so ist. Was die tieferen Ursachen dafür sind. Und zum anderen muss halt eben auch ein vernünfitger Umgang damit gefunden werden.
Religionen erfüllten früher immer auch ihre Funktionen. In einer Zeit ohne National- bzw. Verfassungs- und Sozialstaat waren sie ja auch für die Gruppenbildung über die Stammeshorde hinaus gefragt. Weiterhin konnte sie unter Umständen über den familiären Rand hinaus sich für soziale Belange einsetzen -mit allen Vor- und Nachteilen. Der Preis war sicher die religiöse Indoktrination.
Was Deutschland betrifft, so halte ich die Gesellschaft für derart arbeitsteilig organisiert und hochentwickelt, dass sie das baldige Absterben der Religionen gut verkraften kann. Aber natürlich muss so etwas ersetzt werden durch eine säkulare Idee. Oder ein humanistisches Narrativ, das die Gesellschaft zusammenhält. Der Kapitalismus, die Globalisierung und die Digitalisierung produzieren viele Verlierer, während die Aktienbesitzer immer reicher werden. Es braucht auch in meinen Augen zweifelsohne nicht nur eine Rückumverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten. Sondern es braucht auch eine gesellschaftliche Erzählung, in der sich alle hierzulande wiederfinden können. Ansonsten zersplittert unsere Gesellschaft in immer mehr Einzelteile, die alle nicht mehr untereinander kooperationsfähig sind. Wieso die Religionen wieder wider besseres Wissen ein Revival erleben, erschließt sich mir auch nicht. Aber vielleicht sind es die gleiche Art von Leuten, die religiös rechts werden, die auch die ganzen Trumps, Orbans, Erdogans, die polnische PIS und andere schlimme Parteien wählen? Also Leute, die zwar mit den Freiheiten der westlichen Welt aufgewachsen sind. Die jetzt aber lieber anstatt eine liberale Demokratie eine kollektivistische Ideologie haben wollen, bei der der Einzelne nichts mehr gilt? Gerade das Beispiel Polen zeigt doch in meinen Augen, wohin das führen kann. Kaum ist die PIS an der Macht, werden Demokratie und Rechtsstaat geschleift. Und die Leute wählen plötzlich eine Regierung, die die Abtreibungsrechte beschneiden will. Da wird aus einem modernen Land doch ganz schnell eines mit einer rückständigen Gesellschaft.
Noch schlimmer sieht es ja in der Türkei aus. Da probt Erdogan den Vorbeter und fantasiert von Dschihad und Selbstmordattentätern. Aber dass er dabei sein Land nicht nur spaltet, sondern auch wirtschaftlich ruiniert und in die Hyperinflations- und Schuldenspirale treibt, interessiert ihn nicht. Und trotzdem wird er bei seinen Landsleuten von einer knappen Mehrheit gewählt. Offensichtlich scheint der Wunsch nach einer Rückbesinnung auf die Religion und eines starken Führers größer als der Wunsch nach einem sicheren Arbeitsplatz bei den einfachen Türken zu sein. Als Atheist und Materialist kann ich schon im Vorhinein sagen, dass man Identität, Glauben und Nationalismus nicht essen kann. Aber wie heißt es nicht so schön: Wenn es dem Esel zu gut geht, dann begibt er sich aufs Glatteis.
Ich hoffe jedenfalls, dass Deutschland von diesem Rechtsruck verschont bleibt. Wenn die Atavistenpartei AfD die Regierung übernimmt oder aber sonstwie eine religiös rechte Partei, dann sind wir wieder bei Denk- und Schreibverboten. Dies wäre nicht nur schlecht für die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Auch der wissenschaftliche Fortschritt -und somit die Chance auf eine humanistischere Gesellschaft oder auch mehr Wohlstand- würde versiegen. Dann wären die Chinesen noch schneller die Nr. 1. Und wir hier in Deutschland und Europa bewegen uns wieder in Richtung Mittelalter bzw. Dark Ages zu.
Gesamtgesellschaftlich betrachtet halte ich eine Erneuerung bzw. Fortentwicklung hin zu einem säkularen Humanismus dringend geboten. Denn sonst kommen aus den Tiefen der Geschichte die Religionen, Nationalismen und andere tribalistischen Ansätze wieder hervor, die den Menschen versprechen, dass sie ihnen wieder Identität und Zusammenhalt geben wollen.
Auf der individuellen Ebene wiederum denke ich, dass der Mensch vor allem Strukturen braucht. Dies kann von außen durch die Arbeit erfolgen. In der Freizeit wiederum kann man sich diese Strukturen ja selbst setzen. Gelingt dies nicht, dann entsteht bei den Betroffenen eine Sinnkrise. In diesem Vakuum wird es dann wieder geschehen, dass die Leute nach etwas ausschauen, was ihnen, auf den ersten Blick betrachtet, mehr verspricht.