H2O hat geschrieben:(20 Aug 2018, 14:24)
Ich habe europäisch und asiatisch überhaupt nicht als Wertung verstanden, sondern als Zuordnung bestimmter Handlungsweisen. Das ist jetzt ja geklärt.
Nein, nicht allein die Anwesenheit von Türken in Europa würde aus der Türkei ein europäisches Land machen. Dahinter steht schon erheblich mehr. Es gab eine Zeit, in der türkische Herrschaft rund um das Schwarze Meer bis an die Grenzen des HRR sagte, was zu tun war. Eine Strategie dabei: Eine Herrschaftsklasse einheimischer zum Islam übergetretener Eliten mit der Verwaltung der eroberten Gebiete betrauen. Nachdem das Osmanische Reich ab zu bröckeln begann, sind diese Eliten mitsamt Gefolge in die Türkei abgewandert. Heute ist also ein ganz erheblicher Teil der Türken kein Wandervolk, das im 10. Jahrhundert "aus der Tiefe Asiens" kommend das Byzantinische Reich beerbt hat. Eine weitere Strategie der Osmanen bestand in der sogenannten Knabenlese. Familien in den eroberten Gebieten mußten den Osmanen einen noch kleinen Sohn übergeben, der von türkischen Eltern aus dem Osmanischen Heer liebevoll aufgezogen wurde. Daraus entstanden Eliteeinheiten der osmanischen Armee, die sogenannten Janitscharen... die zu hohen Ehren gelangen konnten, Töchter aus hoch angesehenen türkischen Familien heirateten.
Was sagt uns das denn? Die lange osmanische Herrschaft hat zu einer systematischen Zufuhr europäischen Blutes in das türkische Volk geführt. Und wenn Sie heute in der westlichen Türkei reisen, dann fällt das auch ins Auge wie unterschiedlich die Menschentypen dort sind. Der legendäre Atatürk wurde in Saloniki geboren, als der Norden des heutigen Griechenlands noch türkisch war. Das war der Mann, der die bis dahin arabische Schrift der Türken durch lateinische Buchstaben darstellen ließ, und der systematisch "mehr Westen" verordnet hatte.
In Diskussionen über den geplanten EU-Beitritt der Türkei wurde auch gern gesagt, daß doch nur die westliche Provinz um Edirne herum europäisch sei. Und dann beginne Asien. Das ist aber eine geographische Festlegung, die nichts mit den Menschen zu tun hat, die dort leben. Dort sind die Verhältnisse viel verzwickter, wie ich Ihnen hoffentlich näher bringen konnte.
Ich habe mit sehr gebildeten Türken zusammen gearbeitet, war Gast in ihren Familien. Ich kann Ihnen versichern, daß die völlig europäisch funktionierten: Die Frau des Hauses hielt den Daumen auf der Kasse und erzog die Kinder, achtete auf deren Leistungen in der Schule. Und "wir Männer" waren auch für jeden Blödsinn zu haben.
Das alles ändert natürlich nichts daran, daß sich unser Land von einem türkischen Flegel im höchsten Staatsamt nicht beschimpfen lassen muß, daß unsere Soldaten zuletzt böswilligen Schikanen ausgesetzt waren. Im Leben sieht man sich mehrfach, und nun ist das wohl so weit. Da ist ein Preis zu zahlen...
Natürlich ist die Türkei ein Schmelztiegel. Man braucht sich nur Zentralasiaten anzusehen und die Türken in der Türkei. Da gibt es schon Unterschiede im Äußeren. Das hat natürlich mit der Verschmelzung der Völker in Anatolien zu tun. Das sieht man ja schon rein optisch.
Dennoch sehe ich die Feststellung, daß die Türkei (sagen wir mal zu 95 %) in Asien liegt, nicht nur als geografische Feststellung an. Auch, wenn mal ein großer Teil des Balkans in der Geschichte des Osmanischen Reiches dazugehörte. Das gilt übrigens auch für Afrika. Deshalb macht es die Türkei auch nicht zu einem afrikanischen Land.
Die Türkei muß eben damit arbeiten, daß sie in Asien liegt. Mit seinen Nachbarn, mit dem Kaukasus und Russland, das nur das Schwarze Meer trennt. Das bedingt automatisch ein kulturelles, wirtschaftliches und politisches Befinden, Arbeiten und Leben, das eine ganz andere Qualität und Bedürfnisse hat als mit anderen Kontinenten. Auch hier, ganz wertfrei.
Im Rahmen der Verlagerung von politischen und wirtschaftlichen Zentren (z.B. Fernost China u. Co.) gehört es auch dazu, das die Türkei sich neu orientiert. D.h. nicht, das dies auf Kosten der Kontakte zu Europa sein muß! Nur das Schlagwort Globalisierung darf nicht darüber hinwegtäuschen, das es wichtig bleibt,
wo man sich befindet.
Europäisch "tickenden" Familien findet man auch im Iran. Oder Südkorea. Aber das kann doch nicht die Umstände (siehe oben) aufheben? Und warum muß das konträr dazustehen? Ich glaube, wir reden etwas aneinander vorbei. Ich meine primär, das das politische Handeln natürlich darauf ausgerichtet ist, wo man beheimatet ist. Nicht kulturell, sondern in diesem Fall geografisch. Selbst, wenn in der Türkei vieles europäisch tickt oder ticken würde. Kulturell. Dann wird die Türkei weiterhin ihre Politik gegenüber Syrien, Libanon, Irak, Iran, Russland, Kaukasus, Persischer Golf, Afrika usw. ausrichten. Und nachdem der EU-Beitritt eh praktisch vom Tisch ist, immer stärker!
Der Threadtitel bedeutet für mich nicht "europäische Werte", wenn man es so formulieren möchte, kontra "asiatische Werte". Ich meine eher das politische Gebilde EU wird für die Türkei immer weniger "betretbar". Die großen politischen Umwälzung im Vorderen Orient
zwingen die Türkei den Fokus darauf zu richten. Und bieten auch Expansions- und Gestaltungsraum für die Türkei. Ganz losgelöst von kulturellen oder "blutsmäßigen" Befindlichkeiten.