Angewandt wird diese Bezeichung heutzutage abfällig und stigmatisierend gegenüber allen, die nicht eine klare antirussische Postionierung vornehmen.
http://www.sueddeutsche.de/bildung/russ ... -1.2424616(...)Als Russlandversteher bezeichnen die Kritiker des russischen Präsidenten Wladimir Putin in Deutschland ironisch alle, denen sie das Gegenteil dessen vorwerfen, was der Begriff im Wortsinn bedeutet. Nämlich die Absichten Putins gerade nicht zu verstehen, sondern sich aus emotionalen Gründen - Angst vor einem Krieg, diffuse Weltkriegs-Schuldgefühle oder Anti-Amerikanismus - im Ukraine-Krieg auf die Seite Russlands zu schlagen.(...)
Allzu schnell wird man seitens der Vertreter des Mainstreams aus unreflektierten Russlandkritikern abgestempelt: Putin/Russland sind böse. So einfach ist das. Ihr versteht es nur nicht.
Es ist en vogue, den "Russlandversteher" zu ächten, denn sie sind in der Unterzahl. Die wenigen, die nicht ins selbe "Russland-ist-der-alleinige-Aggressor-Horn" blasen, sind westfeindlich mit einem romantisch verklärten Hang zum Kommunismus und sie verehren Putin, weswegen sie abstoßend sind, denn sie bekämpfen ja schließlich nicht den alleinigen Kriegstreiber.
Diese Stigmatisierung ist aber verfehlt und auch eine unlautere Methode in den Auseinandersetzungen.
Denn aus meiner Sicht hat das "Russlandverstehen" nichts mit einer Positionierung zu tun. Diese wird einem aber allzu schnell unterstellt. Unterschlagen wird da gerne die Tatsache, dass "verstehen und "applaudieren" unterschiedliche Bedeutungen haben. Macht ja nichts. Da man sich im Mainstream des allgemeinen, inzwischen immer weniger kritischen Mainstream des Russland-Bashings befindet, hat man sowieso recht.
"Verstehen" hat aber seine eigene Bedeutung: Wenn man versteht, kennt man Hintergründe und kann Ursache und Wirkung unterscheiden, ist man in der Lage, Einzeldifferenzierungen vorzunehmen und kann Dinge richtig einordnen. "Verstehen" ist eigentlich wertfrei und entbindet keinesfalls von Kritik und das lässt sich auch nicht reininterpretieren. Wenn man sagt, "Ich verstehe, dass du den Liebhaber deines Partners umbringen willst", heißt das noch lange nicht, dass man das für gut heißt.
Bei aller Kritik an Putins Skrupellosigkeit gibt es dennoch eine ganze Menge Dinge, die gerne vom Westen ausgeblendet werden, weil man sich so eindimensional im Recht sieht. Dahinter stecken sehr oft tief verwurzelte Feindbilder.
Diese Feinbilder sind es auch, welche bei unserer vergleichsweise guten, aber dennoch nicht sakrosankten Bereichterstattung eine Rolle spielen. Ich halte nichts von Verschwörungstheorien irgendwelcher Direktiven oder Einflussnahmen. Dennoch gibt es schwache, aber nicht uninteressante Tendenzen, nach welchen die Berichterstattung sich im Ukrainekonflikt bzw. bei Nachrichten zu Putin sehr schnell auf eine Seite schlägt. Die etablierten Medien verfolgen dabei aber wohl kaum böse Absichten. Eher wirkt es, als ob man da glaubt, man müsse den von alten Feindbildern gelenkten Mainstream bedienen.
Die Medien haben es auch nicht mehr einfach: Kaum ein Konflikt wurde bisher von einer Flut unterschiedlichster, vielschichtigster Propaganda aus dem Netz einer Vielzahl an Konfliktlinien (Akteure, Motive) begleitet.
Auf der Suche nach der Wahrheit sollte der Medienkonsument ebenso wie der Mediendienstleister – und der Diskutant – immer im Hinterkopf behalten, dass es die eine Wahrheit nicht gibt. Das anzuerkennen und zu berücksichtigen hilft auch dabei, etwas zu verstehen und sich ein halbwegs treffsicheres Urteil bilden zu können.