Ich denke an der Bedeutung kolonialer Politik für die ehemals kolonisierten Länder kann kein Zweifel bestehen. Man muss sich nur mal fragen warum es in Libyen des Jahres 2012 keinen funktionierenden Staat gibt, in den Ländern rechts und links davon aber schon. Die Antwort ist, dass die Osmanen und später die Italiener sich überhaupt nicht ernsthaft damit befasst haben ein entsprechenden Verwaltungsapparat aufzubauen.
Das besondere an der westlichen Kolonisation der islamischen Welt ist, dass es nicht nur darum ging die entsprechenden Länder politisch zu beherrschen und so eigene Interessen durch zu setzen. Die Gesellschaften fanden auch ihren Weg in die sogenannte Moderne bzw. entstanden teilweise auch erst in diesem Prozess. Der Kolonialismus hat die Grundlage der modernen arabischen Staatenwelt gelegt, oder im Falle von Libyen eben nicht.
Das ist aber glaube ich gar nicht das entscheidende für die hiesige Diskussion. Denn die Argumentation die mutmaßlichen Ausbrüche der Volkswut auf die USA über Anti-Koloniale,Anti-westliche und schließlich anti-amerikanische Ressentiments zu erklären, welche wiederum aus der historischen Erfahrung des Kolonialismus resultieren, berüht nicht notwendigerweise die Diskussion ob Kolonialismus nun objektiv irgendwas gemacht hat oder nicht. Der springende Punkt ist immer wie er wahr genommen wird.
Und im Falle der arabischen Länder ist festzustellen, dass der Dekolonialisierungsprozess im wesentlichen ein anti-kolonialer war. Das mag banal klingen aber das ist doch das worauf das obige Argument eigentlich hinaus will. Egal ob Nationalisten, arabische Sozialisten, Kommunisten, Islamisten und wohl auch die Liberalen sind ganz traditionell anti-kolonialistisch ausgeprägt. Und das gibt es nicht nur in der arabischen Welt, das gibt es weltweit.
http://en.wikipedia.org/wiki/Third-worldism
Das erklärt natürlich nicht den ausgeprägten anti-Amerikanismus in der arabischen Welt. Die Ursache hiervon ist selbstverständlich die Übertragung einerseits des klassischen Anti-Kolonialismus, nun übertragen auf die neue große westliche Macht in der Region, die USA.
Der natürlich immer neue Nahrung erhält durch die neo-kolonialen Aktivitäten in der Region, wie die Kriege in Irak und Afghanistan oder die weitesgehend bedingungslose Unterstützung Israels.
Auch fällt auf, dass es vor allem Salafisten bzw. Islamisten waren, welche ganz vorne dabei sind gegen die USA zu hetzen. Hier verbindet sich ein radikaler Anti-Kolonialismus mit einem "anti-modernen" Ansatz, zum allseits bekannten Anti-Amerikanismus welcher, unverständlicherweise zur allgemeinen Verwunderung westlicher Kommentatoren, durch den arabischen Frühling natürlich nicht verschwunden ist.
Es ist hier natürlich auch schwierig zu unterscheiden zwischen Sachen, welche man mit unterschiedlichen Begriffen bezeichnet wie: Moderne, Globalisierung, Kolonisierung, Verwestlichung, Entwicklung usw.
Der Begriff des Kolonialismus allein kann schon sehr viele Dinge bezeichnen und es dürfte schwer werden sich in diesem Strang auf eine Definition zu einigen. Siedlungskolonialismus ist nur ein kleiner Teil davon.
Der springende Punkt bei der Beurteilung der Proteste ist meines Erachtens darauf hinzuweisen, dass die Unruhen in der arabischen Welt eben nicht nur religiös motiviert waren, sondern ebenso anti-westlichen Gefühlen entspringen die "Ideengeschichtlich" anti-kolonialen Ursprungs sind und sicherlich vor allem von neo-kolonialen Erfahrungen geprägt wurden. Will heißen die Politik der USA in der Region.
Zusätzlich haben alle diese Proteste immer auch einen lokalen Zusammenhang, welcher von Land zu Land sehr unterschiedlich ist. Ich habe von Anfang an darauf aufmerksam gemacht: Was in Libyen passiert ist und zum Tod des US-Botschafters führte war etwas Anderes, als was man in Ägypten vor der US-Botschaft oder später auf dem Tahrir-Platz gesehen hat, wo sich nämlich die jungen Revolutionäre noch tagelang Straßenschlachten mit den Ordnungskräften lieferten die sie von der Botschaft vertrieben haben.
Auch sollte man nicht übersehen, dass durch manche wenn nicht die meisten der Proteste auch ganz gezielt Botschaften übermittelt werden sollen, abseits des Mottos, dass der Film gestoppt werden soll usw.
Wenn im Libanon die Hisbollah demonstrieren lässt und Hassan Nasrallah persönlich erscheint um eine Rede zu halten, dann geht es primär darum politisches Kapital aus der Sache zu schlagen.
Dasselbe versuchen die Taliban, wenn sie Anschläge, die wohl so oder so geschehen wären, als Reaktion auf den Film darstellen.
Dasselbe versuchen Leute von al-Qaida, wenn sie irgendwelche Erklärungen herausgeben.
Ich will damit nicht so weit gehen, den emotionalen Moment der Menschen in vielen der arabischen bzw. islamischen Ländern weg zu diskutieren, aber man muss sehen, dass viele dieser Aktionen nicht einfach so passieren sondern, dass hier vieles auch inszeniert bzw. zugeschrieben wird, was eigentlich in einem völlig anderen Kontext existiert (wie die Taliban-Anschläge oder den notorischen Anti-Amerikanismus der Islamischen Republik Iran oder der Hisbollah).
Dieser Beitrag ist sehr gut.