Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

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BruceLee
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Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

Beitrag von BruceLee »

Seit Wochen wird über nichts anderes mehr im Land und auch unter den Auslandstürken so heftig diskutiert, als über dieses Thema. Die Türkei ist deswegen wie noch nie zuvor in 2 grosse Lager zerspalten, hinzu kommt noch der politische Arm der PKK, die BDP, die ihren Anhänger zum Boykott des Referendums aufgerufen hat, woran sich, wie es sich vermutlich abzeichnet, die meisten wohl auch halten werden. Laut regelmässigen Umfragen liegen sowohl die Ja-Sager, als auch die Nein-Sager abwechselnd aber knapp vorn. Dies hängt halt zumeist auch von den Umfrage-Institutionen und deren Nähe zu den jeweiligen Parteien an.

Die derzeit aktuelle Verfassung der Türkischen Republik. Annahme durch Volksabstimmung vom 7. November 1982 veröffentlicht und in Kraft gesetzt als Gesetz Nr. 2709 am 9. November 1982.

Ein paar Artikel zum Thema.

Der Kampf um die türkische Verfassung

Fällt das Kopftuchverbot

Referendum spaltet die Geister
Gretel
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Re: Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

Beitrag von Gretel »

Der strittige Punkt, der "die Geister spaltet" ist aus Deinem letzten Link:

Entzündet hat sich der Streit vor allem an den geplanten Änderungen in der Justiz: 14 der 17 Verfassungsrichter sollen vom Präsidenten ernannt werden. Erdogan und die regierende AKP-Partei propagieren das Verfassungspaket als Demokratisierungsschritt und als weitere Öffnung des Landes. Die nationalsäkulare Opposition wirft ihm dagegen vor, mit dem Referendum seine Macht einzementieren zu wollen. Von einem „islamistischen Coup durch die Hintertüre“ ist die Rede, den die geschwächte Armee nicht mehr aufhalten kann.
Unterwegs Richtung Mitte. So einfach ist die Situation jedoch nicht: Auch wenn die Führungsebene der regierenden AKP ihre Wurzeln in einer religiösen Bewegung hat, die Partei hat sich in den vergangenen Jahren in Richtung politische Mitte, hin zum Establishment bewegt.
Zuletzt geändert von Gretel am So 12. Sep 2010, 12:15, insgesamt 1-mal geändert.
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BruceLee
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Re: Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

Beitrag von BruceLee »

91,5% der Stimmen sind mittlerweile ausgewertet und knapp 59% haben für die Verfassungsänderung der AKP gestimmt. Die Wahlbeteiligung liegt bislang bei 71%.

http://secim.haberler.com/2010/

Damit dürfte das Ding nun endgültig entschieden sein.
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Talyessin
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Re: Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

Beitrag von Talyessin »

BruceLee » So 12. Sep 2010, 18:19 hat geschrieben:91,5% der Stimmen sind mittlerweile ausgewertet und knapp 59% haben für die Verfassungsänderung der AKP gestimmt. Die Wahlbeteiligung liegt bislang bei 71%.

http://secim.haberler.com/2010/

Damit dürfte das Ding nun endgültig entschieden sein.
Ohne groß euphorisch zu klingen, aber das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Ganz gleich was ich über die Türkei denken mag, aber eine Stärkung des Rechtsstaates und somit der Zivilgesellschaft ist auf alle Fälle eine gute Entwicklung.
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Kibuka
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Re: Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

Beitrag von Kibuka »

Talyessin hat geschrieben:aber das ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Das wird sich erst noch zeigen müssen. Ich glaube das es Erdogan primär nicht um mehr Demokratie geht.
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BruceLee
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Re: Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

Beitrag von BruceLee »

Talyessin » So 12. Sep 2010, 22:22 hat geschrieben:
Ohne groß euphorisch zu klingen, aber das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Ganz gleich was ich über die Türkei denken mag, aber eine Stärkung des Rechtsstaates und somit der Zivilgesellschaft ist auf alle Fälle eine gute Entwicklung.
Kommt ganz darauf an wie Erdogan mit diesem "Sieg" in Zukunft umzugehen weiss. Sein Erfolg basiert m. M. n. nicht auf sein eigenes Können, als viel mehr auf der Inkompetenz der Oppositionsparteien. Letzendlich bleibt auch den 42% Nein-Sagern nichts anderes übrig als abzuwarten, wie er fortfahren wird. Es hat aber den Anschein, dass sich seit den Regionalwahlen 2009 nichts am Wahlverhalten des tr. Volkes verändert hat. Es ist eine Originalkopie dessen, bzw. eine Fortführung derselben. Meine grösste Befürchtung ist, in wieweit er in seiner eigentlichen Ideologie noch zurückrudern muss oder will, um seine Partei als Partei der Mitte zu etablieren. Irgendwann, wenn auch nicht in absehbarer Zukunft, wird auch er damit einknicken.
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Re: Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

Beitrag von JJazzGold »

Kibuka » So 12. Sep 2010, 23:40 hat geschrieben:
Das wird sich erst noch zeigen müssen. Ich glaube das es Erdogan primär nicht um mehr Demokratie geht.
Sondern um die Steuerung der Justiz.
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Re: Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

Beitrag von Mithrandir »

Talyessin » So 12. Sep 2010, 23:22 hat geschrieben:Ganz gleich was ich über die Türkei denken mag, aber eine Stärkung des Rechtsstaates und somit der Zivilgesellschaft ist auf alle Fälle eine gute Entwicklung.
Es ist eine Stärkung der Zivilgesellschaft und zweifellos auch demokratisch legitimiert (vorbildlich mit Volksabstimmung).

Trotzdem ist die Frage, wie sich die neue Verfassung auswirken wird. Wird das Militär stärkerer rechtstaatlicher Kontrolle unterstellt? Besteht Gefahr für den Laizismus?

Bei aller Sympathie für Demokratie darf man auch nicht vergessen, dass Demokratie den derzeitigen Zustand verändern könnte…
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Re: Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

Beitrag von Liegestuhl »

Mithrandir » Mo 13. Sep 2010, 19:04 hat geschrieben: Bei aller Sympathie für Demokratie darf man auch nicht vergessen, dass Demokratie den derzeitigen Zustand verändern könnte…
Darf ich mir das in die Signatur stellen?
Ich schulde dem Leben das Leuchten in meinen Augen.
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Mithrandir
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Re: Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

Beitrag von Mithrandir »

Liegestuhl » Mo 13. Sep 2010, 19:13 hat geschrieben:Darf ich mir das in die Signatur stellen?
Habe kein Problem damit.
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Re: Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

Beitrag von Frank_Stein »

Mithrandir » Mo 13. Sep 2010, 19:04 hat geschrieben:
Es ist eine Stärkung der Zivilgesellschaft und zweifellos auch demokratisch legitimiert (vorbildlich mit Volksabstimmung).

Trotzdem ist die Frage, wie sich die neue Verfassung auswirken wird. Wird das Militär stärkerer rechtstaatlicher Kontrolle unterstellt? Besteht Gefahr für den Laizismus?

Bei aller Sympathie für Demokratie darf man auch nicht vergessen, dass Demokratie den derzeitigen Zustand verändern könnte…
Es gibt Veränderungen, die dazu führen, dass sich die Türkei von der EU wegbewegt (und damit meine ich keine tektonische Plattenverschiebung)
Ceterum censeo Carthaginem esse delendam.
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Re: Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

Beitrag von Mithrandir »

theoderich » Mo 13. Sep 2010, 23:21 hat geschrieben:Es gibt Veränderungen, die dazu führen, dass sich die Türkei von der EU wegbewegt (und damit meine ich keine tektonische Plattenverschiebung)
Wenn ich Zeit oder Spiegel lese, wird die Lage so dargestellt, dass sich die Tuerkei in Richtung Europa zubewegt, was z. B. Demokratie oder auch Rechtsstaat betrifft. Ein Militaer, das der zivilgesellschaftlichen Kontrolle entzogen ist, ist nicht gerade das beste und keine Verkoerperung europaeischer Werte.
adal » Mo 13. Sep 2010, 23:41 hat geschrieben:Heftig umstritten waren ...jene drei Artikel, die das türkische Verfassungsgericht und den Richterrat grundlegend neu regeln. So soll es künftig 19 statt elf Verfassungsrichter geben, von denen drei vom Parlament und 16 vom Staatspräsidenten ernannt werden (der zurzeit ein AKP-Mann ist).
Das liest sich bedenklich, Gewaltenteilung sieht jedenfalls anders aus. Allerdings ist mir auch keine Parteiendemokratie bekannt, in der nicht die staerkste Partei auch gleichzeitig grossen Einfluss auf die Besetzung der hoechsten Richteraemter hat.
palu

Re: Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

Beitrag von palu »

Kenan Evren wollte sich eine Kugel in den Kopf jagen, falls das türk. Volk das Maßnahmenbündel zur Verfassungsänderung durchwinkt.
Ich warte immer noch auf die Nachricht. :cool:


PS: Tausende Menschen haben schon Strafanzeige gegen den früheren Putschisten erstattet - das hätte sich vor noch 10 Jahren NIEMAND erdenken können.
Zuletzt geändert von palu am Di 21. Sep 2010, 16:38, insgesamt 1-mal geändert.
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BruceLee
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Re: Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

Beitrag von BruceLee »

palu » Di 21. Sep 2010, 15:35 hat geschrieben:Kenan Evren wollte sich eine Kugel in den Kopf jagen, falls das türk. Volk das Maßnahmenbündel zur Verfassungsänderung durchwinkt.
Ich warte immer noch auf die Nachricht. :cool:


PS: Tausende Menschen haben schon Strafanzeige gegen den früheren Putschisten erstattet - das hätte sich vor noch 10 Jahren NIEMAND erdenken können.
Ist bestimmt ein Schritt in die richtige Richtung, die mittlerweile Ü-90 jährigen "Putschisten" nach 30 Jahren danach zu verklagen in Anbetracht der Tatsache, dass sie damals ins Geschehen eingriffen, als 20 bis 50 Menschen tagtäglich wegen diesem Bürgerkrieg ins Gras beissen mussten. Wären sie arabische Diktatoren wie wir sie heutzutage zumeist erleben, hätten sie die Macht nie wieder zurück an das Volk übertragen. Nicht desto trotz hätte ich nichts dagegen, wenn man ihnen ein faires Verfahren ohne jedwede Vorurteile gewehrt und die damaligen Verhältnisse mit in Betracht zieht. Gegen eine lückenlose Aufklärung spricht in der Tat nichts dagegen, solange dies nicht für die politischen Zwecke der heutigen Neo-Osmanen und den anderen bekannten Republik-Feinden missbraucht wird.
palu

Re: Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

Beitrag von palu »

BruceLee » Mi 22. Sep 2010, 08:33 hat geschrieben:
Ist bestimmt ein Schritt in die richtige Richtung, die mittlerweile Ü-90 jährigen "Putschisten" nach 30 Jahren danach zu verklagen in Anbetracht der Tatsache, dass sie damals ins Geschehen eingriffen, als 20 bis 50 Menschen tagtäglich wegen diesem Bürgerkrieg ins Gras beissen mussten. Wären sie arabische Diktatoren wie wir sie heutzutage zumeist erleben, hätten sie die Macht nie wieder zurück an das Volk übertragen. Nicht desto trotz hätte ich nichts dagegen, wenn man ihnen ein faires Verfahren ohne jedwede Vorurteile gewehrt und die damaligen Verhältnisse mit in Betracht zieht. Gegen eine lückenlose Aufklärung spricht in der Tat nichts dagegen, solange dies nicht für die politischen Zwecke der heutigen Neo-Osmanen und den anderen bekannten Republik-Feinden missbraucht wird.
Bist Du fertig? Soll ich anfangen?
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Ferit
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Re: Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

Beitrag von Ferit »

palu » Mi 22. Sep 2010, 18:20 hat geschrieben:
Bist Du fertig? Soll ich anfangen?
Fang mal an. Würde mich interessieren.
palu

Re: Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

Beitrag von palu »

BruceLee » Mi 22. Sep 2010, 08:33 hat geschrieben:
Ist bestimmt ein Schritt in die richtige Richtung, die mittlerweile Ü-90 jährigen "Putschisten" nach 30 Jahren danach zu verklagen in Anbetracht der Tatsache, dass sie damals ins Geschehen eingriffen, als 20 bis 50 Menschen tagtäglich wegen diesem Bürgerkrieg ins Gras beissen mussten. Wären sie arabische Diktatoren wie wir sie heutzutage zumeist erleben, hätten sie die Macht nie wieder zurück an das Volk übertragen. Nicht desto trotz hätte ich nichts dagegen, wenn man ihnen ein faires Verfahren ohne jedwede Vorurteile gewehrt und die damaligen Verhältnisse mit in Betracht zieht. Gegen eine lückenlose Aufklärung spricht in der Tat nichts dagegen, solange dies nicht für die politischen Zwecke der heutigen Neo-Osmanen und den anderen bekannten Republik-Feinden missbraucht wird.

Es ist spät geworden, deshalb nur kurz:

1. Dass die Putschisten keine Gefängniszellen von Innen sehen werden, war und ist jedem/jeder BürgerIn der Türkischen Republik bewusst und zwar auch schon vor der Abstimmung über das Maßnahmenbündel zur Verfassungsänderung - alleine schon wegen ihres Alters ist ihre Einbuchtung unmöglich.
Vielmehr ging es um die Aufhebung ihrer Immunitäten. Ein symbolischer Akt – getragen vom türk. Volk selbst – die einer Abrechnung gleichgesetzt werden darf und von türk. Medien auch wird. Die Türken und Türkinnen, gemeinsam mit den Kurden und Kurdinnen sowie anderen Minderheiten, haben einen Prozess der gesellschaftlichen Aufklärung, um dieses blutige Kapitel der türk. Geschichte losgetreten. Mit der Annahme dieses Paketes sind die Putschgeneräle, die die türk. Demokratie - dem Ziel folgend, die eigene Macht zu festigen - ausgehebelt haben, nun mit einfachen BürgernInnen gleichgeschaltet vor dem Gesetz. Ein historischer Akt, zeigt er doch, dass in der Türkei niemand mehr ungestraft davon kommen kann, wenn er bestehende Gesetze missachtet. Der Europäisierungsprozess der Türkei hat an Stärke gewinnen können. Dies sieht man nicht zu Letzt daran, dass aus Ankara die Rufe nach einer völlig neuen, unbeschmutzten Verfassung lauter werden, als sie es jemals waren. Die AKP trifft sich in diesen Tagen mit der Kurdenpartei BDP. Lästermäuler sind wieder einmal Kemalisten und Nationalisten.

2. Die Intervention der Militärs als Solches kann u.U. akzeptiert und für legitim erklärt werden. Kritisiert wird, dass die Generäle nach jedem Putsch die Verfassung zu ihren Gunsten revidiert haben, d.h. sie keine vollwertige, autonome und wehrhafte Demokratie wiederhergestellt haben, dafür aber ein Hintertürchen in der Verfassung für sich selber installierten, welches ihnen jederzeit die Machtergreifung ermöglichte. Die Militärs haben NICHT die Macht dem Volk zurückübertragen. Die Zügel lagen bis vor Kurzem immer noch bei ihnen, alleine schon wegen des Nationalen Sicherheitsrats. Dieses Gremium führte, bevor ihre Rechte beschnitten wurden, die Gewaltenteilung der türk. Demokratie faktisch ad absurdum.

Diese halb-kemalistische Argumentation können Sie getrost in die Tonne treten. Jetzt ist die neue anatolische Mittelschicht am Zuge. Einfache Bauernkinder, die sich zu festen Größen der türkischen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik etabliert haben. Die vor allem proeuropäisch eingestellt sind, währenddessen die CHP mehr und mehr dem Europaskeptizismus verfällt.

Ich bin gespannt. Vielleicht machen die’s ja besser.
Zuletzt geändert von palu am Sa 25. Sep 2010, 21:59, insgesamt 1-mal geändert.
adal
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Re: Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

Beitrag von adal »

palu » Sa 25. Sep 2010, 20:32 hat geschrieben:

Es ist spät geworden, deshalb nur kurz:

1. Dass die Putschisten keine Gefängniszellen von Innen sehen werden, war und ist jedem/jeder BürgerIn der Türkischen Republik bewusst und zwar auch schon vor der Abstimmung über das Maßnahmenbündel zur Verfassungsänderung - alleine schon wegen ihres Alters ist ihre Einbuchtung unmöglich.
Vielmehr ging es um die Aufhebung ihrer Immunitäten. Ein symbolischen Akt – getragen vom türk. Volk selbst – die einer Abrechnung gleichgesetzt werden darf und von türk. Medien auch wird. Die Türken und Türkinnen, gemeinsam mit den Kurden und Kurdinnen sowie anderen Minderheiten, haben einen Prozess der gesellschaftlichen Aufklärung, um dieses blutige Kapitel der türk. Geschichte losgetreten. Mit der Annahme dieses Paketes sind die Putschgeneräle, die die türk. Demokratie - dem Ziel folgend, die eigene Macht zu festigen - ausgehebelt haben, nun mit einfachen BürgernInnen gleichgeschaltet vor dem Gesetz. Ein historischer Akt, zeigt er doch, dass in der Türkei niemand mehr ungestraft davon kommen kann, wenn er bestehende Gesetze missachtet. Der Europäisierungsprozess der Türkei hat an Stärke gewinnen können. Dies sieht man nicht zu Letzt daran, dass aus Ankara die Rufe nach einer völlig neuen, unbeschmutzten Verfassung lauter werden, als sie es jemals waren. Die AKP trifft sich in diesen Tagen mit der Kurdenpartei BDP. Lästermäuler sind wieder einmal Kemalisten und Nationalisten.

2. Die Intervention der Militärs als Solches kann u.U. akzeptiert und für legitim erklärt werden. Kritisiert wird, dass die Generäle nach jedem Putsch die Verfassung zu ihren Gunsten revidiert haben, d.h. sie keine vollwertige, autonome und wehrhafte Demokratie wiederhergestellt haben, dafür aber ein Hintertürchen in der Verfassung für sich selber installierten, welches ihnen jederzeit die Machtergreifung ermöglichte. Die Militärs haben NICHT die Macht dem Volk zurückübertragen. Die Zügel lagen bis vor Kurzem immer noch bei ihnen, alleine schon wegen des Nationalen Sicherheitsrats. Dieses Gremium führte, bevor ihre Rechte beschnitten wurden, die Gewaltenteilung der türk. Demokratie faktisch ad absurdum.

Diese halb-kemalistische Argumentation können Sie getrost in die Tonne treten. Jetzt ist die neue anatolische Mittelschicht am Zuge. Einfache Bauernkinder, die sich zu festen Größen der türkischen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik etabliert haben. Die vor allem proeuropäisch eingestellt sind, währenddessen die CHP mehr und mehr dem Europaskeptizismus verfällt.

Ich bin gespannt. Vielleicht machen die’s ja besser.
Pro Europa, gut und schön. Was uns Europäer auch ein ganz kleines bißchen interessiert: Wie hält es die AKP mit den politischen Ambitionen im Islam?
palu

Re: Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

Beitrag von palu »

adal » Sa 25. Sep 2010, 22:01 hat geschrieben: Pro Europa, gut und schön. Was uns Europäer auch ein ganz kleines bißchen interessiert: Wie hält es die AKP mit den politischen Ambitionen im Islam?
Die AKP bekennt sich ganz klar zu ihrer muslimischen Identität, genau so wie die BDP sich über ihre kurdische Wählerschaft profiliert. (Anm.: Der Großteil der Kurden hat ihr Kreuzchen bei der AKP gemacht, nicht bei der BDP, wie es manchmal mißverständlich in den westlichen Medien dargestellt wird.)
Dass die AKP kein Bollwerk fanatischer Islamisten ist, erkennt man vor allem daran, dass die ultraorthodoxen WählerInnen erkannt haben, dass die AKP ihren Zielen nicht dient.

In den Parlamentswahlen 2007 hat die AKP 46,58 % der Stimmen für sich gewinnen können, und damit die absolute Mehrheit im Parlament.
Die Milli-Görüs-Partei, Saadet Parti (SP), hingegen nur 2,34 %.

2 Jahre später, die Kommunalwahlen: Friedrich-Ebert-Stiftung - Kommunalwahlen 2009 in der Türkei | Analyse (PDF)

Die AKP stürzt auf ca. 40 % ab, die SP erzielt ca. 5 %.
Die Hardcore-Muslime entfernten sich von der Regierungspartei, weil sie nach 2 Jahren AKP wohl zum folgenden Ergebnis kamen: Die AKP möchte die Türkei in keinen Mullah-Staat verwandeln.

Ich stelle mir die Frage, wie eine Partei „islamistisch“ sein kann, die ihre Mitschuld am Mord des armenisch-christlichen Journalisten Hrant Dink eingestehen wird. Wie kann die AKP "islamistischen" Zielen dienen, wenn sie den orthodoxen türkischen Christen die Genehmigung erteilt hat, im Sümela-Kloster eine Messe zu feiern und das zum ersten Mal seit 80 Jahren ?
http://www.zeit.de/politik/ausland/2010 ... -ermordung
http://www.tagesschau.de/ausland/suemela104.html

Es sind einfache Fakten, Gesten der Versöhnung, die dagegen sprechen:
Erste Messe seit 100 Jahren auf türkischer Insel
Historisches Ereignis für armenische Christen

Für die armenischen Christen in der Türkei ist es ein ermutigendes Zeichen: Zum ersten Mal seit einem Jahrhundert durften sie in der Heilig-Kreuz-Kirche auf der türkischen Insel Aghtamar eine Messe feiern. Doch dem Gottesdienst gingen innerkirchliche Reibereien voraus.
http://www.tagesschau.de/ausland/christ ... ei102.html
Zudem wurden die entscheidenden Schritte auf dem Weg der Türkei nach Europa, wie die Aufnahme der Beitrittsgespräche, unter der Regentschaft der AKP in die Wege geleitet. Toleranz gegenüber Andersgläubigen und vor allem Christen nimmt in der Türkei immer mehr zu, gefördert von der "islamistischen" AKP-Regierung.
Türkei will mehr Toleranz gegenüber Christen zeigen
VON THOMAS SEIBERT - zuletzt aktualisiert: 26.08.2010 - 02:30

Istanbul Die Regierung in der Türkei signalisiert mit einer Reihe von Gesten, dass sie die Lage der christlichen Minderheiten im Land verbessern will. Der Leiter des staatlichen Religionsamtes, Ali Bardakoglu, sprach sich unter anderem für eine dauerhafte Umwandlung der Paulus-Kirche im südtürkischen Tarsus in ein Gotteshaus aus. Es gebe keinen Grund, den Christen den Wunsch nach Gottesdiensten in der Paulus-Kirche abzuschlagen, sagte er. Bislang wird sie als Museum genutzt. Die katholische Kirche fordert seit Langem eine dauerhafte Zulassung der Kirche im Geburtsort des Apostels.
http://nachrichten.rp-online.de/politik ... en-1.97962
Das Problem ist - so sehe ich das - dass die Türkei nicht islamischer wird, sondern die türkischen Muslime selbstbewusster werden. Sie trauen sich heute viel mehr. Sie bestehen darauf, dass musl. Frauen auch mit Kopftüchern studieren dürfen, oder dieses Beispiel:
Muslimisches Gebet in der Hagia Sophia? Das Gotteshaus in Istanbul steht im Mittelpunkt einer neu aufgeflammten Debatte über Reichweite und Grenzen religiöser Toleranz in der Türkei - die Hagia Sophia ist auch für Christen bedeutsam.

http://www.politik-forum.eu/posting.php ... &p=1013495
Erdogan hat ihnen eine Abfuhr verpasst.

All diese Freiheiten gegenüber den chrsitlichen Minderheiten sind unter der MHP oder CHP einfach undenkbar. Es passt nicht in das Bild einer islamistischen Partei. Obendrein steht die AKP stark unter der Kontrolle der EU, was bei der CHP nicht der Fall ist, denn sie verlassen sich traditionell auf das Militär. Wie oben schon erwähnt, sind Kemalisten und Nationalisten nicht gerade Freunde der EU, auch wenn viele das denken mögen.
Der niederländische Europaparlament-Abgeordnete Arie Oostlander: „Der Kemalismus ist ein Hinderungsgrund für einen EU-Beitritt der Türkei.“
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Kemalismus

Sei auf die Kürze gesagt.
adal
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Re: Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

Beitrag von adal »

palu » Sa 25. Sep 2010, 21:59 hat geschrieben:„Der Kemalismus ist ein Hinderungsgrund für einen EU-Beitritt der Türkei.“
Logo. Der Kemalismus genügt rechtsstaatlichen Ansprüchen nicht. Die Frage is nur, wer macht stattdessen den Vormund für den Islam, wenn der es nicht selbst auf die Reihe bekommt, seine Durchgeknallten zu disziplinieren?
Zuletzt geändert von adal am Sa 25. Sep 2010, 23:12, insgesamt 2-mal geändert.
palu

Re: Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

Beitrag von palu »

adal » Sa 25. Sep 2010, 23:07 hat geschrieben: Logo. Die Frage ist, wer macht den Vormund für den Islam, wenn der es nicht selbst auf die Reihe bekommt, seine Durchgeknallten zu disziplinieren?
Du redest von den handvoll Durchgeknallten, die auf dem Seeweg Richtung Gaza aufbrachen? Denn eine ernsthafte islamistische Bedrohung existiert in der Türkei nicht.
adal
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Re: Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

Beitrag von adal »

palu » Sa 25. Sep 2010, 22:14 hat geschrieben:
Du redest von den handvoll Durchgeknallten, die auf dem Seeweg Richtung Gaza aufbrachen? Denn eine ernsthafte islamistische Bedrohung existiert in der Türkei nicht.
Erdogan selbst gab in Davos den Durchgeknallten. :p Es ist aus meiner Sicht ziemlich unklar, ob die AKP mehr als nur ein taktisches Verhältnis zum Säkularismusprinzip hat. Das ergibt sich schon aus der diesbezüglichen Verwirrung im Islam.
palu

Re: Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

Beitrag von palu »

adal » Sa 25. Sep 2010, 23:19 hat geschrieben: Erdogan selbst gab in Davos den Durchgeknallten. :p Es ist aus meiner Sicht ziemlich unklar, ob die AKP mehr als nur ein taktisches Verhältnis zum Säkularismusprinzip hat. Das ergibt sich schon aus der diesbezüglichen Verwirrung im Islam.
Natürlich war sein Auftreten in Davos aus geopolitischer Sicht falsch, natürlich hat es auch den nachbarschaftlichen Beziehungen zu Israel geschadet. Auf nationaler Eben hat er durch sein Auftreten für die nächsten Wahlen ein paar Punkte einheimzen können. Die AKP alleine stellt keinen sicheren Garanten für die türk. Demokratie dar. In Kombination mit der EU sehr wohl. Zumindest ist sie für den Westen und für die türk. Demokratie eine bessere Option als die Grauen Wölfe (MHP) oder die Militaristen (CHP). Ferner existiert in der Tat keine islamistische Gefahr in der Türkei. Aus dem einfachen Grund, dass sie heillos zerstritten und zersplittert sind, aber das geht hier zu weit.

Gute Nacht.
Zuletzt geändert von palu am Sa 25. Sep 2010, 23:37, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

Beitrag von palu »

Interessantes zur Volksbefragung:

Und nun werte User und Userinnen, wollen wir etwas lachen und schauen uns zu diesem Zweck die türkische Opposition an, bzw. die Führer der Oppositionsparteien an. Zuerst Herr Devlet Bahceli, Vorsitzender der nationalistischen Partei MHP und bekennender Nein-Sager, also Reformgegner:

Er hat sich nach der Stimmabgabe in sein Auto gesetzt und wollte schon abzischen, da kam das Personal aus dem Wahllokal angerannt, um Herr Bahceli auf die fehlende Unterschrift aufmerksam zu machen, ohne die die Wahl ungültig ist.

Und jetzt –Achtung! – der Hammer schlechthin!

Herr Kemal Kilicdaroglu, Vorsitzender der kemalistischen CHP und größter Widersacher der Verfassunsgreform, hat verpennt, sich in die Wählerliste einzutragen und konnte deshalb nicht wählen gehen !!! Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Der Typ hat jede Möglichkeit, jede Situation, jede noch so kleine Chance genutzt, gegen die Reform zu hetzen und er geht nicht wählen.

Die türkische Opposition ist eine Farce! Auch dies ist eines der Gründe, weshalb Erdogan so beliebt ist.
palu

Re: Referendum über Verfassungsänderung am 12.09.10

Beitrag von palu »

Vor einer Wahl bzw. einer Volksbefragung dürfen Auslandstürken und Türken, die das Land verlassen, 40 Tage vor dem offiziellen Wahlgang ihre Stimme abgeben. Diese Regelung ist hauptsächlich für die über 5 Mio. Türken mit Sitz im Ausland gedacht, um ihnen die Chance zu geben, an der politischen Gestaltung ihres Landes teilzuhaben. Zu diesem Zweck werden an den Zollstellen Wahlkabinen aufgestellt. (Gümrük=Zoll)

Die türkische Wahlbehörde hat das amtliche Endergebnis verkündet und siehe da:

An den Zollstellen (z.B Flughafen) lautet das Ergebnis wie folgt:

61.53% sagten JA
38.47 % sagten NEIN

Insgesamt, also landesweit + Zollstellen:

57.88 % sagten JA
42.12 % sagten NEIN


Woran mag das liegen? Die Mehrheit der Auslandstürken leben in westlichen Demokratien, also EU und Nordamerika, das könnte wohl eine Rolle spielen. Jetzt weiß ich auch, warum die kemalistischen Höchstrichter das Gesetz einkassiert haben, welches den Auslandstürken ermöglichte, in den Konsulaten an Wahlen und Volksbefragungen teilzunehmen. Die sind eher demokratisch gesinnt, als kemalistisch.
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