Habe jetzt mal versucht, mir auf Grundlage der Diskussion hier eine Meinung zu bilden, und auch noch etwas recherchiert.
Eine der Kernfragen ist ja, ob und in welchem Umfang die europäischen Agrarexporte nach Afrika tatsächlich die Entwicklung der dortigen Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie substantiell behindern. Dazu ist es sinnvoll, sich den tatsächlichen Handelsverkehr anzuschauen. EU-weit habe ich hierzu keine wirklich geeignete Datenquelle gefunden, aber bezogen auf den deutschen Außenhandel ist diese interaktive Datenbank des Statistischen Bundesamts sehr ergiebig:
https://www-genesis.destatis.de/genesis ... len/51000* (und dann zB 51000-0007).
Dort kann man sich beispielsweise zusammenklicken und zusammenrechnen, dass Deutschland in 2017 für ca. 1,5 Mrd EURO Güter der Ernährungswirtschaft (Warengruppen EGW1-4, im allgemeinen auch als "Agrarhandel" im weiteren Sinne bezeichnet) in afrikanische Länder exportiert hat. Davon beispielsweise gut 13.000 Tonnen Fleisch nach Ghana im Wert von gut 8 Mio EURO, was ein äußerst niedriger Durchschnittspreis zu sein scheint.
Das afrikanische BIP (nominal) beläuft sich insgesamt auf knapp 2 Bill. EURO, davon entfallen ca. 300 Mrd EURO auf den Agrarsektor. (Quelle:
https://www.cia.gov/library/publication ... -factbook/ + Berechnungen). Wenn man dem die 1,5 Mrd EURO Agrarexporte Deutschlands nach Afrika gegenüberstellt und mit dem Faktor 5 (halbwegs plausibler Wert) auf die EU hochrechnet, kommt man auf ein Verhältnis von etwa 1:40 zwischen EU-Exporten und Gesamt-Agrar-BIP Afrikas. Wenn man nun noch einbezieht, dass ein Großteil der afrikanischen Landwirtschaft der Subsistenz dient und nicht oder nur sehr lokal begrenzt in den Handel gelangt, kann man sich schon vorstellen, dass die - aus hochsubventionierter Landwirtschaft resultierenden - EU-Exporte in bestimmten Konstellationen sehr negative Effekte auf das lokale afrikanische Agrobusiness haben können. (Zur pauschalen Erklärung des Nicht-Vorankommens des Kontinents Afrika, im Sinne "hauptschuldig", reichen die EU-Exporte aber natürlich bei weitem nicht aus.)
Beispiel Fleisch, Ghana: Das Agrar-BIP Ghanas beläuft sich auf ca. 7 Mrd Euro. Dem stehen Fleischexporte für 8 Mio EURO aus Deutschland, also vielleicht ca. 40 Mio EURO aus der EU insgesamt, gegenüber. Von den 8 Mrd Agrar-BIP entfallen aber nur ein kleiner Teil auf tatsächlichen Handel (Rest = Subsistenz) und davon wiederum nur ein vermutlich kleinerer Teil auf Fleisch, also ist es plausibel, dass die Importe aus der EU eine schwer überwindbare Hürde für lokales Fleischbusiness darstellen, und so ist es auch (ideologisch wohl unverdächtige Quelle):
Selbst dort, wo die Nachfrage deutlich steigt und gute Verkaufspreise zu erzielen wären, wie in der Geflügelverarbeitung, wird nur wenig investiert, weil die oft subventionierte Ware aus dem Ausland noch billiger ist. "Lokale ghanaische Produzenten können da nur schwer mithalten", meint Kojo Blankson Wilson, Director of Operations des privaten Schlachtbetriebs JFAMCO.
https://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/ ... 86708.html
Das Thema scheint also nicht ganz unberechtigt die Runde in der Presse gemacht zu haben, wenn auch vielfach mit übertriebener Polemik. Sicherlich ließen sich auch genügend andere, weniger öffentlichkeitswirksame Fälle finden. Man kann zB die Getreideexporte nach Nordafrika unter die Lupe nehmen, die in Jahren schlechter Ernte sicherlich unumgänglich sind, in anderen Jahren aber möglicherweise die Entwicklung der dortigen Getreidewirtschaft unnötig behindern. Ein anderes Beispiel wären die Exporte von Milch- und Molkereiprodukten nach Westafrika.
Soweit zu den Marktdaten.
Des weiteren habe ich der Diskussion entnommen, dass es wenig Einwände gegen ein Zurückfahren der EU-Agrarsubventionen aus Sicht der europäischen Landwirtschaft gibt - außer, dass man eine prinzipielle Selbstversorgungsfähigkeit aufrechterhalten sollte. Das wäre aber vermutlich mit wesentlich geringeren Subventionen leistbar (auch wenn ich dazu keine Zahlen habe).
Des weiteren scheint mir, dass eine noch stärkere Protektionierung der afrikanischen Agrarmärkte sinnvoll und notwendig wäre. Auch wenn Protektionismus immer ein zweischneidiges Schwert ist und man auch viele Gegenargumente aufführen kann. Andererseits gibt es durchaus Beispiele, wo der Schutz der eigenen Märkte Staaten nachweislich bei der Entwicklung zum Schwellen- bzw Industriestaat geholfen haben (China, Südkorea etc.). Afrika hinkt in der Entwicklung so hinterher, dass es ohne Protektionismus wohl nicht gehen wird.
Was ich also für sinnvoll erachten würde, wäre:
1. Eine drastische Reduzierung der EU-Agrarsubventionen auf das (evtl. noch zu ermittelnde) Niveau des Erhalts der prinzipiellen Subsistenzfähigkeit.
2. Ein einheitliches und für die afrikanischen Staaten noch günstigeres Handelsabkommen, das den heutigen Flickenteppich ablöst und keine Importzölle in die EU mehr beinhaltet (auch auf verarbeitete Nahrungsmittel nicht) und demgegenüber den afrikanischen Staaten hohe Importzölle für Güter gestattet, die geeignet sind, das lokale Agrobusiness zu gefährden. Dies müsste allerdings WTO-konform erfolgen, und ggfs müsste man anderen armen Staaten ähnliche Vergünstigungen einräumen, was aber auch vertretbar scheint - arme Menschen gibt es ja nicht nur in Afrika.
3. Sofern Mangel und Not an Grundnahrungsmitteln entsteht, weil die afrikanische Produktion den Bedarf nicht bedienen kann, Nutzung von eingesparten Agrarsubventionsmitteln zur Übergangsnothilfe. Aber nur genau dann.
4. Des weiteren Nutzung der eingesparten EU-Agrarsubventionen im Rahmen der Entwicklungshilfe zur Finanzierung von Investvorhaben in die afrikanische Landwirtschaft, die sonst an der Finanzierungs- oder Know-How-Hürde scheitern würden (zB Flächenerschließung, Massenproduktion).
Das wäre m.E. sinnvoll. Eine sofortige, umfassende Verbesserung der Situation Afrikas, und damit eine Reduzierung des Migrationsdrucks, ist damit natürlich nicht erreichbar - es klemmt ja auch an vielen anderen Stellen und der wohl wichtigste Hebel besteht in der Förderung und Belohnung von Good Governance, wie auch immer man das am besten macht (nicht Thema dieses Stranges). Aber man würde zumindest einen Beitrag leisten. Wie erheblich der ist, kann wohl kein lebender Mensch beziffern.
History doesn't repeat itself, but it often rhymes (Twain). Unfortunately, we can't predict the rhyme.