Neandertaler hat geschrieben:(15 Nov 2019, 18:31)
Es wird in Debatten oft der Narrative eingebracht das der relative Reichtum im Westen bzw. In Europa genauso wie die relative Armut der dritten Welt besonders Afrika seine
Ursache im Kolonialismus hat.
[...]
Warum also kann sich diese offensichtlich Narrative das die heutige Verteilung des Reichtums maßgeblich von Kolonialismus abhängt oft unwidersprochen halten?
*Ich erlaube mir diese Verkürzung und verzichte hier auf Details
Bezüglich der Frage, inwiefern der heutige Wohlstand des Westens mit der Kolonisierung zu tun hat ist es natürlich schwierig allgemeingültige Aussagen zu treffen über eine Periode, die 500 Jahre andauerte und eine Vielzahl an Formen des Kolonialismus umfasste. Ich denke man wird sich schwer tun den heutigen Wohlstand in Spanien oder Portugal mit ihren Kolonialreichen aus dem 16ten und 17ten Jahrhundert in Verbindung zu bringen. Auch könnte man der Meinung sein das
chinesische Tributsystem, welches bis weit ins 19te Jahrhundert bestanden hat, sei eine Form des Kolonialismus gewesen. Aber es wäre natürlich absurd zu behaupten, dass der heutige Wohlstand Chinas mit Tributen aus der Qing-Dynastie zusammen hängen würde. Ähnliches gilt für das Osmanische Reich, dass Steuern aus weit entfernten Provinzen erhoben hat und den Wohlstand der modernen Türkei. Wobei man vielleicht argumentieren könnte, dass vormoderne Reiche zur Entwicklung von urbanen Zentren - wie z.B. Istanbul - geführt haben und sich dort dann später Industrialisierung und Wohlstand entwickeln konnte. Also das man auch heute noch von vormodernen Infrastruktur- und Bauprojekten profitiert, sofern diese die Zeiten überdauert haben.
Der heutige Wohlstand eines Landes hat seine historischen Wurzeln am ehesten in der Geschichte seiner Industrialisierung und da sind wir im Zeitraum der zweiten Hälfte des 18ten und natürlich im 19ten Jahrhundert. Hier ist das naheliegendste Beispiel das Britische Empire. Hier ist denke ich ziemlich klar, dass die weltweite Macht des Reiches sehr zum Vorteil der heimischen Industrie und Kapitalakkumulation gewesen ist. Das heißt man konnte durch sein Kolonialreich vorteilhafte Handelsverträge abschließen, welche zum Wohlstand der britischen Wirtschaft beitrugen. Man konnte günstig Ressourcen importieren und Fertigprodukte exportieren, der Zugang zu Exportmärkten wurde weltweit notfalls militärisch erzwungen. Ebenso ergaben sich durch das Kolonialreich Möglichkeiten unter dem Schutz der britischen Militärmacht gewinnbringend Kapital zu investieren und Gewinne zu erwirtschaften. Sei es durch Investitionen z.B. in Infrastruktur (wie der Suez-Kanal) oder durch den Erwerb von gewinnbringenden Konzessionen. Die britische Industrie und der britische Kapitalismus hätte sich auf keinen Fall im 19ten Jahrhundert in diesem Ausmaße entwickeln können, hätte man sich ausschließlich auf den britischen Binnenmarkt und möglicherweise durch Zölle geschützten europäischen Absatzmärkte beschränken oder auf den Schutz der britischen Militärmacht verzichten müssen. Von daher ist ziemlich klar, dass die Entwicklung der britischen Wirtschaft und Industrialisierung durch das Kolonialreich begünstigt wurde und damit Grundlagen gelegt wurden, die die wirtschaftliche Entwicklung im 20ten und 21ten Jahrhundert positiv beeinflussten und damit ja - der britische Reichtum hat eine seiner Ursachen im Kolonialismus.
Für die Gesamtwirtschaftliche Entwicklung Deutschlands dürften die Kolonien im späten 19ten und frühen 20ten Jahrhundert eher von geringerer Bedeutung gewesen sein. Hier wollte man wohl eher mitmachen und als neue europäische Großmacht ebenfalls Kolonien besitzen, was natürlich nicht heißt, dass es nicht auch Leute gegeben hat, die durch Kolonialhandel und Investitionen in deutschen Kolonien ein Vermögen erwirtschaftet haben. Aber ich wüsste jetzt nicht, dass die deutschen Kolonien einen erheblichen Einfluss auf die industrielle und wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands von 1880 bis bis zum ersten Weltkrieg gehabt hätten. Aber jetzt kann man sich natürlich fragen, ob die deutsche industrielle Revolution ohne die englische Industrialisierung möglich gewesen wäre. Welche Rolle spielte englisches Kapital, erwirtschaftet durch die günstigen Bedingungen des englischen Kolonialreichs als Kapitalgeber für Investitionen in der deutschen Wirtschaft im 19ten Jahrhundert?
Von daher würde ich schon sagen, dass im 19ten und frühen 20ten Jahrhundert sich der Aufbau von weltumspannenden Kolonialreichen positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung europäischer Länder - vor allem Englands - ausgewirkt hat. Man konnte mehr Kapital akkumulieren und größere Industrien entwickeln als dies möglich gewesen wäre, wenn man nicht die vorteilhaften Terms of Trade mit dem Rest der Welt und weniger Schutz bzw. "Schutz" für die weltweiten Investitionen der eigenen Staatsbürger gehabt hätte. Das heißt natürlich nicht, dass Europa heute ohne diesen Weltmachtstatus im 19ten Jahrhundert an Armut leiden würde, aber der Wohlstand wäre geringer.
Was nun die negativen Folgen des Kolonialismus auf die Kolonisierten angeht, so ist es natürlich so, dass der Kontakt mit der europäischen Kolonialmacht grundsätzlich zu einer positiven Wirtschaftsentwicklung in den kolonisierten Ländern führte, in dem Sinne dass zum Zeitpunkt der Dekolonisierung in all diesen Ländern größeren Wohlstand gab als zum Zeitpunkt der Kolonisierung. Auch semikolonisierte Gebiete profitierten prinzipiell von der positiven weltwirtschaftlichen Entwicklung. Der Punkt ist aber, dass die weltweit mit europäischen Kapital getätigten Investitionen nicht die Interessen der indigenen Bevölkerung im Sinne hatte, sondern der Kolonialwirtschaft. Die Eisenbahnen und Straßen die gebaut wurden, sollten vor allem die vorhandenen Rohstoffe schnell zu den Hafenstädten und von dort ins Mutterland transportieren können und entlang dieser Verkehrslinien entwickelten sich dann zumeist die urbanen Zentren, die bis heute die großen Bevölkerungszentren z.B. vieler afrikanischer Länder sind.
Das Argument kann dann meines Erachtens weniger sein, dass die Kolonialreiche die Bedingungen in den Ländern durchgehend verschlechtert haben, als das die Entwicklung positiver gewesen wäre, wenn die Handelsbeziehungen nicht so einseitig zu Ungunsten der indigenen Völker gewesen wäre. Man hatte keine Möglichkeit die Entwicklung der eigenen Wirtschaft zu schützen, sondern wurde zu nachteiligen Handelsbeziehungen gezwungen.
Dazu führte die Entwicklung der Länder unter kolonialen Bedingungen zum Aufbrechen und Umwälzen der sozialen und politischen Verhältnisse vor Ort, was mitunter großes Leid verursachte und auch die Grundlagen für heutige Konflikte legte. Ein Beispiel wäre die (deutsche und) belgische Kolonialverwaltung als Ursache für den ruandischen Genozid.
In 1935, Belgium introduced a permanent division of the population by strictly dividing the population into three ethnic groups, with the Hutu representing about 84% of the population, Tutsi about 15%, and Twa about 1% of the population. Identity cards were issued labeling each individual as either Tutsi, Hutu, Twa, or Naturalised. While it had previously been possible for particularly wealthy Hutus to become honorary Tutsis, the identity cards prevented any further movement between the groups.
The ethnic identities of the Hutu and Tutsi were reshaped and mythologized by the colonizers. Christian missionaries promoted the theory about the "Hamitic" origins of the kingdom, and referred to the distinctively Ethiopian features and hence, foreign origins, of the Tutsi "caste". These mythologies provide the basis for anti-Tutsi propaganda in 1994.
https://en.wikipedia.org/wiki/Rwandan_g ... Twa_groups
https://sungrammata.com/the-rwandan-myth/
https://de.wikipedia.org/wiki/V%C3%B6lk ... ialer_Zeit
Es ist aber schon so, dass der Eintritt der kolonisierten Gebiete in die Weltwirtschaft und Globalisierung häufig erst mit der Ankunft der Kolonialmacht erfolgte und diese zu einer grundsätzlich positiven wirtschaftlichen Entwicklung führte. Das Bild von Wakanda, dass Afrika ohne jeglichen Kontakt mit Europa und Welt eigenständig zur Industrialisierung gefunden und eine eigenständige wirtschaftlichen und womöglich sogar technologischen Entwicklung hin zum heutigen Wohlstand angetreten hätte, halte ich für wenig überzeugend. Das einzige Land, wo man überlegt hat, ob es zu einer eigenständigen Industrialisierung ohne europäischen Einfluss hätte kommen können, wäre Indien, aber auch da fehlte es dann doch noch etwas. Dennoch legte der Eintritt der kolonisierten Länder in die Moderne unter den Bedingungen kolonialer Herrschaft Grundlagen, die bis heute die weitere Entwicklung stören und mitunter als Ursachen für Kriege und Gewalt auszumachen sind.
Dieser Beitrag ist sehr gut.