3x schwarzer Kater hat geschrieben:(24 Sep 2020, 14:30)
Ich hatte es schon an anderer Stelle erklärt. Unsere heutige Grundsicherung funktioniert ja nach dem Bedarfskonzept und definiert das soziokulturelle Existenzminimum als (verfassungsgemäßen) Grundbedarf, der gedeckt werden muss.
Das ist eine Interpretation von §9 SGB 12 die nur einen Teilaspekt abdeckt. Tatsächlich wird dort definiert, dass der individuelle Bedarf ermittelt wird, und Leistungen entsprechend des individuellen Bedarfs geleistet werden:
https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_12/__9.html
Doch das Bedarfsprinzip greift erst dann und nur dann, wenn Bedürftigkeit vorliegt. Was man unter Bedürftigkeit versteht, wird in SGB II §9 definiert
https://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbii/9.html
Dass das Bedarfsprinzip eben nicht für alle greift, wird in §2 SGB 12 definiert:
https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_12/__2.html
Dort wird auch nicht bestritten, dass auch die Personen einen Bedarf haben, die nicht zum Personenkreis gehören, der noch als zulässig für die Sozialhilfe gilt, es wird nur eingeschränkt, dass der Bedarf dieser Personen nicht durch die Sozialgesetzgebung abgedeckt wird.
Platt gesprochen bedeutet dies nichts anderes, als dass man Bedürftig sein muss, damit man den Bedarf an Grundsicherung über die gesellschaftlichen sozialen Systeme gedeckt bekommt.
Wenn also jeder den Bedarf hat, aber nur Bedürftige entsprechend des konkreten Einzelfallbedarfs Hilfe über die Sozialen Sicherungssysteme bezogen auf die Grundsicherung bekommen, dann hat das Bedürftigkeitsprinzip heute Vorrang vor dem Bedarfsprinzip - weil jeder den Bedarf nach Grundsicherung hat, aber nur der Bedürftige diesen Bedarf durch den Staat gedeckt bekommt.
Beim Bedarf kann man noch unterscheiden zwischen den Anteilen, die allgemein anerkannt eigentlich jeder hat (Bedarf an Nahrung, Wohnung, Heizung, Kleidung u.ä.) - der wird in weiteren Abschnitten des SGB konkretisiert und in seiner Berechnung definiert. Sonderbedarfe gibt es natürlich auch - solche Sonderbedarfe sind aber regelmässig nicht Teil der Diskussion rund um BGEs - allenfalls im Rahmen gewisser Pauschalierungen, die man sinnvollerweise bei einem BGE gleich mit vornehmen wird.
Gerade weil man die Grundidee vom allgemeinen Bedarf der Grundsicherung und den Sonderbedarfen über diesen allgemeinen Bedarf hinaus kennt, und weil unser derzeitiges Grundsicherungssystem unter der Voraussetzung der Vorlage der Bedürftigkeit funktioniert, gibt es das Pendant zur Grundsicherung dann auch wieder im Steuerrecht. Auch hier wird über das Instrument eines Freibetrags in einem etwas pauschalierterem Ansatz als in der Sozialgesetzgebung der Grundbedarf steuerfrei gestellt. Sofern es Sonderbedarfe gibt, können diese auch im Steuerrecht regelmässig mit berücksichtigt werden - auch wenn hier die genauen Definitionen sich nicht 1:1 mit den Sachtatbeständen decken, die es in der Sozialgesetzgebung gibt.
Im Steuerrecht wird in der Tendenz etwas mehr pauschaliert was Sonderbedarfe aber auch den Grundbedarf angeht (Beispiel: im Sozialrecht werden die konkreten Kosten einer Wohnung als Bedarf definiert - im Steuerrecht wird pauschaliert eine Annahme getroffen, was so eine Wohnung kosten darf. Im Steuerrecht haben hier also Menschen in teuren Wohngegenden tendenziell einen Nachteil, während Menschen aus extrem kostengünstigen Gegenden tendenziell einen Vorteil haben.....)
Wenn man mit einer Einführung eines BGEs die Bedürftigkeitsprüfung entfallen lässt, kann man den allgemeinen Grundbedarf über das BGE organisieren. Die spezifischen Bedarfsleistungen, die besondere Lebenssituationen wie beispielsweise Behinderungen u.ä. erfordern, werden aber je nach Höhe des BGEs nicht über die Grundsicherung gedeckt werden, so dass sie auch in einem BGE-System gesondert und nach dem spezifischen Bedarf (über den Grundbedarf hinaus) organisiert werden müssen.
Reduziert man sich rein auf die Betrachtung der Grundsicherung und nimmt man als Pauschalierung die Annahmen des Steuerrechts dazu, kann man so ein BGE weitgehend dadurch einführen, dass man das Prinzip der Bedürftigkeit als Voraussetzung für die soziale Grundsicherung nach SGB aufgibt, und anerkennt, dass jeder den Bedarf auf diese Grundsicherung hat. Die Bedarfe über diese Grundsicherung hinaus werden gesondert behandelt - wie auch heute im SGB und im Steuerrecht.
Im Steuerrecht bedeutet die Instanziierung eines solchen BGEs, dass der Steuerfreibetrag für das Existenzminimum entfällt - beziehungsweise durch das BGE ersetzt wird.
Da im Steuerrecht insbesondere die Kosten für Wohnen pauschaliert und großzügig angenommen werden, würde eine solche Einführung eines BGEs faktisch bedeuten, dass man einem gewissen Teil der heutigen Sozialhilfeempfänger faktisch mehr Geld zur Verfügung stellen würde, als sie heute haben. Insofern entstehen in einem solchen System erst einmal Mehrkosten, die zu finanzieren sind. Der Kreis der Sozialhilfeempfänger, die allerdings mehr Geld beispielsweise für Wohnraum brauchen, als dies heute im Steuerrecht vorgesehen ist, wäre dennoch existent - und es ist wohl unrealisitisch, dass man deren individuellen Bedarf über die standardisierte Grundsicherung hinaus schlicht und einfach ignoriert.
Eine denkbare Antwort darauf ist, dass man solchen Mehrbedarf über das Wohngeld organisiert - dieses Instrument gibt es heute schon, es muss nur geringfügig modifiziert werden.
Allerdings ist auch klar, dass das Wohngeld auch heute schon eine gewisse, wenn auch abgeschwächte, Bedürftigkeit voraussetzt. Ob man dies beibehalten würde, wenn man ein BGE einführt, ist eine der vielen Detailentscheidungen, die dann die Politik treffen muss.
Fazit: Die Darstellung, dass wir heute eine Sozialgesetzgebung hätten, die nach dem Bedarfsprinzip arbeitet, ist zwar richtig, aber dennoch irreführend dargestellt, weil das Bedarfsprinzip in der Sozialgesetzgebgung unter dem Bedürftigkeitsvorbehalt steht. Insofern ist es völlig korrekt, alternativ so zu kategorisieren, dass wir heute eine Grundsicherung haben, die zunächst nach dem Bedürftigkeitsprinzip organisiert ist - sofern die Bedürftigkeit gegeben ist, wird aber dann das Bedarfsprinzip angewendet.
Insofern ist es auch korrekt, wenn ich wie auch das SGB deutlich mache, dass den Bedarf nach einer Grundsicherung entsprechend Hartz IV jeder hat - weshalb ich die allgemeinere Definition verwende, dass man bei der Grundsicherung vom heute angewendeten Bedürftigkeitsprinzip zum Bedarfsprinzip wechseln sollte - was konkret bedeuten würde: Jeder hat den Bedarf nach Grundsicherung - also soll auch jeder diesen Bedarf durch die Gesellschaft garantiert bekommen. Diese Definition bezieht sich dabei immer auf das Thema der Grundsicherung - nicht auf den allgemeiner definierten Bedarf an Leistungen, die eben im Wesentlichen in Einzelfällen (wie im SGB definiert) über die Grundsicherung hinausgehen.
Die Aussage, dass unsere Grundsicherung nach dem Bedarfsprinzip funktioniert, ist in diesem Sinne so auch nicht wirklich korrekt und präzise - dies gilt nur für die Bedarfe im Sinne des SGB - nicht aber im Sinne des Steuerrechts! Auch das SGB erkennt an, dass es den Bedarf außerhalb des Adressatenkreises der Bedürftigen gibt - es behandelt ihn nur nicht weiter - das tut dann das Steuerrecht. Im Steuerrecht aber wird die Grundsicherung nicht so eng wie im Sozialrecht organisiert - da wird viel mehr pauschaliert. Insofern ist die Aussage, dass die Grundsicherung nach dem Bedarfsprinzip funktioniert nur dann gültig, wenn man sich auf die zum Glück selteneren Fälle beschränkt, bei denen man von der Grundsicherung über das Sozialrecht spricht. Bei der Grundsicherung im Kontext eigenen Einkommens und Vermögens wird das Bedarfsprinzip ähnlich, aber anders und deutlich pauschalierter angesetzt - da gibt es auch mal Freibeträge, wenn man gar keinen Bedarf hat! Insofern ist die oben gemachte Aussage nur im Kontext des SGB richtig, aber nicht im allgemeineren Kontext der Grundsicherung über das SGB hinaus!