BlueMonday hat geschrieben:(16 Sep 2020, 14:46)
Nur hab ich vom Plural der Moral, den Moralen gesprochen, also von etwas völlig anderem.
Sehe ich nicht. Ich habe von "gruppenspezifischen Sitten" gesprochen und wähne darin auch einen "Plural". Eigentlich sogar zwei, denn in "Gruppen" verbirgt sich ja auch noch einer.
Ich würde auch eher vom noblen Menschen als vom "Herrenmenschen" sprechen.
Das mußt Du mit dem Schöpfer dieses Begriffs, Herrn Nietzsche, ausmachen. Ohne diese Zuspitzung würde aber seine Metapher bezüglich der "ungebändigten blonden Bestie" auch nicht funktionieren.
Zu Noblesse oder "Vornehmheit" hat er bekanntlich auch reichlich Text verfaßt, eine (unvollständige) Auflistung siehe
hier. Vornehmheit setzt aber eine höhere Entwicklungsstufe voraus als die der "Bestie", denn:
"Die vornehme Seele hat Ehrfurcht vor sich selbst." (Jenseits von Gut und Böse). Nach seinem Dafürhalten ist so etwas wie "Seele" aber erst Resultat eines zivilisatorischen Prozesses, siehe
"Zur Genealogie der Moral":
Nietzsche hat geschrieben:Alle Instinkte, welche sich nicht nach Aussen entladen, wenden sich nach Innen – dies ist das, was ich die Verinnerlichung des Menschen nenne: damit wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine »Seele« nennt. Die ganze innere Welt, ursprünglich dünn wie zwischen zwei Häute eingespannt, ist in dem Maasse aus einander- und aufgegangen, hat Tiefe, Breite, Höhe bekommen, als die Entladung des Menschen nach Aussen gehemmt worden ist. Jene furchtbaren Bollwerke, mit denen sich die staatliche Organisation gegen die alten Instinkte der Freiheit schützte – die Strafen gehören vor Allem zu diesen Bollwerken – brachten zu Wege, dass alle jene Instinkte des wilden freien schweifenden Menschen sich rückwärts, sich gegen den Menschen selbst wandten.
(f.v.m.).
BlueMonday hat geschrieben:Heute gibt es ja fast nur noch "letzte Menschen", wie sie Nietzsche nannte, die in den letzten Zügen der Staatsfiktion vegetieren, dieser sicher erscheinende Hort des Spätetatismus. Der bequeme Mensch, der hingesetzte, staatsbemutterte Mensch, mit Mundnasenschutzlätzchen, das ihm von anderen aufgesetzt wurde. Das "Ethische" hat er anderen, irgendwelchen Experten und Kommissionen, dem Staat längst überlassen. Der Staat soll sich um die "Armen" kümmern. Eine Armut, die nicht einen dauerleeren Magen, sondern die Ungleichheit meint, die man mit "mehr Gleichheit" überkleistern will , damit niemand seinen Kopf zu weit hervorstreckt, sich niemand zu viel herausnimmt, zu gierig und eigensinnig wird.
Für Nietzsche "Sklavenmoral", deren Ursprung er im Christentum verortet. Die Regel
"einem Anderen nicht wehe zu tun" erwächst aus der Angst, daß einem selber wehe getan werden könnte. Eine Sichtweise, mit der man sich heute nicht mehr allzuweit aus dem Fenster lehnen sollte, obwohl Erklärungen aus "Phobien" ja aktuell Hochkonjunktur haben.
Es geht um seine Verträge, die er mit anderen geschlossen hat, Verträge, aus denen Recht erwächst ("contracts breed rights", A. de Jasay) und nicht um fiktive, übergestülpte, im Nachhinein untergeschobene, nachgereichte "Gesellschaftverträge", Staatsverfassungen, "Rundfunkstaatsverträge" etc, die dann als unbedingte Voraussetzungen präsentiert werden.
Diese Art Vertrag ist ein Abkommen zwischen zwei etwa Gleich-Mächtigen die eingesehen haben, daß sie sich nicht gegenseitig vernichten können. Ebenfalls nach Nietzsche, genaue Quelle ist mir entfallen, zu lange her und ich habe auch keine Lust, danach zu suchen. Beispiele sind in der aktuellen Politik aber durchaus zu finden.
Der noble Mensch legt nicht die ganze Welt in ein Korsett, auf dass sich niemand mehr ohne fremde Hilfe bewegen könne und überall das gleiche Recht herrsche. Der letzte Mensch braucht das Korsett, das Geländer, das ihm andere hingestellt haben. Der beginnt als letzte Regung zu protestieren, wenn man ihm die Stützen wegschlägt. Und dann steht er da und beweint unbeholfen die übriggebliebenen Ungeheuerlichkeiten dieser Welt.
Der Entwurf "nobler Mensch" taugt als individuelle Maxime, aber nicht als veröffentlichte Meinung. Denn über deren Wert und Bedeutung werden sich die "Schlechtweggekommenen" (Nietzsche) relativ schnell einig sein. Also Vorsicht beim "aus dem Fenster lehnen".
"Das gefährliche an der Dummheit ist, daß sie die dumm macht, die ihr begegnen." (Sokrates).