Progressiver » Mo 29. Sep 2014, 20:07 hat geschrieben:Vor einiger Zeit bin ich auf ein Buch von Hellmut Flashar gestoßen, in dem der Philosoph Aristoteles im Titel als Lehrer des Abendlandes bezeichnet wird.
Was meint ihr? War Aristoteles der größte Philosoph der abendländischen Antike, den Europa hervorgebracht hat? Oder gibt es genialere Kollegen aus jener Zeit? Wenn ihr zur ersten Meinung tendiert: Worin liegt eurer Meinung nach die besondere Leistung von Aristoteles? Wenn ihr Kritiker des Philosophen seid: Worin liegen die Mängel seines Denkens? Wo wird er widerlegt? Wo ist er veraltet?
Flashar, ja. Man muss den Altphilologen nicht immer blindlings vertrauen, ganz gleich, wie groß ihr Name ist. Und Flashar ist weniger pathetisch in der Monographie als im Titel. Ich denke nicht, dass er implizieren wollte, Aristoteles sei der größte Philosoph gewesen; dazu ist er vielzu sehr Philologe. Es geht ihm, wie bei uns so oft üblich, mehr um eine "Aktualisierung" und somit "Rettung" des Aristoteles für heutige Zeiten.
Aristoteles setzte den genialen Weg Platons fort, aber löste sich von seiner festgeschriebenen Bahn: Er sah Ideen und er beobachtete die "Nicht-Ideen", das, was existierte und von Platon vernachlässigt worden war; das Zuwenden zum Diesseitigen neben dem Jenseitigen brachte eine "Explosion" der Bereiche ein und eine Formalisierung derselben - Aristoteles prägte fortan Naturwissenschaften (Naturphilosophie, so damals) wie Geisteswissenschaften.
Dies sollte wichtig für die Wissenschaften Europas (teilweise auch des Orient!) nach dem frühen-hohen Mittelalter werden. Er lehrte uns, was uns durch eine Zäsur entfallen war und auf seiner Methodik, Formalistik und Inspiration aufbauend, entwickelten sich unsere modernen Wissenschaften, Schulfächer und Bildungstraditionen (und da hat er uns noch was zu sagen!) - natürlich in einer eigenständigen und "verbesserten" Form.
Dabei stellt sich die Frage nach einem "genial" nicht. Ohne Platon hätte es auch keinen Aristoteles gegeben, ebenso hätte es ohne Alexander keinen Hellenismus und somit Aristoteles gegeben. Wir müssen nicht immer in Komparativen denken.
Und noch etwas: Abendländische Antike? Das ist ein Widerspruch per se. Es gab in der Antike kein Abendland. Für die gr.-röm. Zivilisationswelt war der "Westen", Okzident, immer etwas am Rande der Zivilisation (Spanien, Hesperiden). Die Griechen kannten seit Herodot nur Europa, das mittelmeernahe Umfeld ohne Afrika - als Abgrenzung gegenüber "Asien". Erst die Hellenisierung und Romanisierung der Kontinente führte dazu, dass u.a. auch Aristoteles bekannt wurde - auch das darf nicht vergessen werden, bedenkt man, wie steinzeitlich die Gebiete waren, auf denen heute große Industrienationen stehen.
Und Aristoteles hat soviel über so viele Dinge geschrieben, dass es schwer ist, aufzulisten, wann er obsolet ist. Er ist teils obsolet, keine Frage, da wir z.B. schon ins All gekommen sind, was er niemals hatte außerhalb der Erde sehen können. Aber man muss auch nicht "obsoletisieren", wenn es um einen antiken Autoren geht - es liegen die Jahre dazwischen. Andererseits sollte man ihn auch nicht radikal vernachlässigen, wie es Vertreter einiger Natur- und Geisteswissenschaften gern tun; bisweilen ist Wissenschaftsgeschichte und deren Grundlage der Funken Inspiration, der für eine These benötigt wird... seid also offen!
