Hat das Universum einen Rand?
DIE ZEIT, Ausgabe 01, 2006
Von Christoph Drösser | © DIE ZEIT 29.12.2005 Nr.1
Die Unendlichkeit ist für viele Menschen unfassbar. Der Kosmologe und Erfolgsautor John Barrow hat damit keine Schwierigkeiten. Ein Gespräch über den Urknall, das Rechnen mit der Grenzenlosigkeit und den Schrecken ewigen Lebens
DIE ZEIT: Gibt es in der wirklichen Welt etwas Unendliches?
JohnBarrow: Traditionell unterscheidet man zwei Sorten von Unendlichkeit: die Unendlichkeit im sehr Kleinen und die im sehr Großen. Seit Aristoteles unterscheidet man zudem zwischen der potenziellen Unendlichkeit und der aktualen Unendlichkeit. Mit der potenziellen konnte Aristoteles gut leben. Bei der gibt es eine lange Folge, die niemals aufhört. Etwa die positiven Zahlen 1, 2, 3, 4, 5 und so weiter. »Für immer«, sagen wir und wissen, dass wir immer 1 addieren können und nie zu einem Ende kommen. Ähnlich ist es in der Astronomie. Im Moment spricht alles dafür, dass das Universum unendlich groß ist.
ZEIT: Ist das nicht auch potenziell?
Barrow: Ja, denn das sind Unendlichkeiten, die einem nie real begegnen. Viel ungewöhnlicher ist die Idee einer aktualen Unendlichkeit. Ob also eine physikalisch messbare Größe zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort einen unendlichen Wert annimmt. Und das ist eine umstrittene und heftig diskutierte Frage.
ZEIT: Gibt es diese aktualen Unendlichkeiten nun irgendwo im Universum?
Barrow: In den meisten Bereichen der Wissenschaft sind die Forscher nicht gerade glücklich, wenn in ihren Theorien und Voraussagen solche aktualen Unendlichkeiten auftauchen. In der Aerodynamik zum Beispiel: Wenn man dort ausrechnet, dass sich ein Luftstrom unendlich schnell verändert, dann schließt man daraus, dass man die falsche Mathematik gewählt hat, um die Physik dieses Luftstroms zu berechnen.
ZEIT: Es heißt ja, die Natur mache keine Sprünge.
Barrow: Genau – jedenfalls keine unendlichen! Wenn man eine Peitsche knallen lässt, dann gibt es einen Überschallknall, das Ende der Peitsche bewegt sich schneller als der Schall. Wenn man das einfach mathematisch beschreibt, dann bekommt man eine unendlich große Geschwindigkeitsänderung zum Zeitpunkt des Knalls. Aber wenn man die Luftreibung berücksichtigt, dann glättet das diese Unendlichkeit, und man bekommt nur eine sehr schnelle Änderung. In der Teilchenphysik hat sich die revolutionäre String-Theorie auch deshalb durchgesetzt, weil Michael Green und John Schwartz in den frühen achtziger Jahren zeigen konnten, dass diese Theorie endlich ist. Alle vorhergehenden Theorien haben immer unendliche Antworten auf alle möglichen Fragen nach beobachtbaren Größen geliefert.
ZEIT: Betrachtet man das Universum ganz naiv, dann gibt es keinen Grund, anzunehmen, dass es sich nicht unendlich in die Vergangenheit, die Zukunft und auch den Raum erstreckt. Oder dass man die Materie immer weiter teilen kann…
Barrow: Das war schon bei den alten Griechen eine kontrovers diskutierte Frage. Die Atomisten glaubten, es gebe kleinste Teile der Materie. Die ganze Materie sei aus diesen Elementarteilchen aufgebaut.
ZEIT: Aber das war ein rein philosophischer Streit.
Barrow: Die Frage nach der Unendlichkeit des Universums war sehr kompliziert, sie war verknüpft mit der Frage, ob es einen leeren Raum, ein Vakuum, geben könne. Aristoteles glaubte, dass sich die Dinge in einem perfekten Vakuum mit unendlicher Geschwindigkeit bewegen würden. Für ihn war die Existenz eines perfekten Vakuums verknüpft mit der Frage nach einer tatsächlich existierenden Unendlichkeit.
ZEIT: Beim Gedanken an ein endliches Universum fragte man sich immer, was denn wohl außerhalb davon wäre.
Barrow: Die Vorstellung eines endlichen Universums war für mich immer sehr seltsam. Im 4. vorchristlichen Jahrhundert formulierte der Soldat und Philosoph Archytas von Tarent folgendes Paradox: Wenn das Universum endlich ist, muss es einen Rand geben. Und wenn man kurz vor diesem Rand steht und einen Speer wirft – was würde mit dem passieren, wenn er über den Rand hinausfliegt? Er glaubte wirklich, ein endliches Universum müsse einen Rand haben.
ZEIT: Dann haben sich Physik und Naturwissenschaften weiterentwickelt, und man entdeckte plötzlich viele Endlichkeiten: die Theorie vom Big Bang, nach der das Universum ein endliches Alter hat, die Elementarteilchen. Das hat die Unendlichkeit aus dem Blickfeld verdrängt.
Barrow: Andererseits ist der Big Bang ein interessantes Beispiel, bei dem man tatsächlich aktuale Unendlichkeiten findet. Die Expertenmeinung darüber ist geteilt: Es gibt Kosmologen, die mit physikalischen Unendlichkeiten gut leben können, etwa einer aktualen Unendlichkeit am Anfang des Universums – wenn es einen solchen Anfang gab. Andere nehmen den Gegenstandpunkt ein und sagen: Das ist nur eine Vorhersage von Einsteins Relativitätstheorie, und wenn man eine bessere Theorie hat, etwa die String-Theorie, dann verschwinden diese Unendlichkeiten.
ZEIT: Wie sieht es bei einem Schwarzen Loch aus?
Barrow: Auch im Zentrum eines Schwarzen Lochs passiert Ungewöhnliches, eine Art umgekehrter Big Bang. Diese Singularität im Zentrum ist ein unendlich dichter Punkt. Er kann keine Wirkung auf die Außenwelt ausüben, wegen des Horizonts des Schwarzen Lochs. Signale können nicht nach draußen und uns beeinflussen.
ZEIT: Wäre das die »kosmische Zensur«?
Barrow: Ja. Wenn im Universum eine unendliche Singularität entsteht, dann ist sie immer durch einen solchen Horizont abgeschirmt. Es können keine Informationen herauskommen und die Außenwelt beeinflussen, es gibt keine so genannten »nackten« Singularitäten. Das ist also wieder so eine Situation, wo eine Unendlichkeit im Universum existieren könnte – aber selbst wenn es sie gibt, dann verhindert eine Art Verschwörung der Natur, dass wir sie je zu Gesicht bekommen und, noch wichtiger, dass sie einen Einfluss auf uns hat. Das erinnert mich ein wenig an die mittelalterlichen Philosophen. Sie wollten die Existenz eines reinen Vakuums in der Natur dadurch verhindern, dass sie einen mysteriösen »himmlischen Agenten« auf den Plan riefen.
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http://www.zeit.de/2006/01/N-Interview_Barrow