BlueMonday hat geschrieben:(30 Jan 2021, 02:22)
Orwells Szenario ist vor allem eines, das sich aus vorangegangenen realen, auch "demokratischen" Zuständen entwickelt hat. Ein Szenario, das sich aus Orwells Erfahrungen mit der Wirklichkeit speist, das er daraus extrapoliert.
Orwells "Big Brother" ist die konzentrierte "well intention", der sorgende, ständig präsente Staat. Dabei geht es um "Gehirnwäsche", Gedankenkontrolle als Mittel, um das Gute zu bewerkstelligen. Kontrolle über die Geschichte, die Vergangenheit, für die es nur die eine offizielle zweckdienliche Version gibt. Revision - tabu. Relativismus - tabu. Eigenständige Gedanken - tabu. Privater Raum - tabu ("Das Private ist das Politische"). Keine Absonderung, keine Weigerung, keine alternativen Räume, kein aus der Reihe tanzen. Vollständig greifbar, kontrollierbar werden. "memory holes", bewusstes Verdrängen, Vergessen unpassenden Geschehens. Gedankenverbrechen verfolgen. Das Falsche zu denken als Verbrechen. Das Gefährlichste überhaupt sind die Gedanken, die unkontrolliert durch die Köpfe irrlichterieren und querschießen.
Steuernummer, Identifkationsnummer, das sind dann allenfalls nur Ausprägungen eines viel subtileren Vorgangs, der sich vielmehr auf sprachlicher Ebene zuvor abspielt. Das eigentlich Bemerkenswerte ist das sich Nummerierenlassen. Die Hinnahme. Das Normalwerden. Die Nummer steht am Ende, wenn der Mitmensch, der Nachbar wie selbstverständlich Jagd macht auf die Nummerlosen. Hass als Bürgerpflicht aus Liebe zum Staat. Wenn der große Bruder überall die Augen hat, die Augen der Blockwarte, nicht unbedingt nur technische Kameraaugen. Wenn es breiten Beifall gibt, wenn es den Abseitigen ordentlich an den Kragen geht. Orwells Szenario wird nicht plötzlich wundersam Wirklichkeit, sondern es nimmt einen langen schleichenden Weg. Wenn ältere Prinzipien irgendwann von gegensätzlichen "Gepflogenheiten" verdrängt, ersetzt werden und unter denselben Bezeichnern laufen (wie "demokratisch") und nur noch das Wort als Bedeutungsruine stehenbleibt. Den Dingen, auch den übelsten, einen guten Klang zu verleihen, das ist das Ziel der "politischen Sprache", transformierende Wortketten, bis Krieg Friede ist, bis man das eigene Land auch am Hindukush verteidigt. Wir haben unzählige Sprach- und Denkentwicklungen dieser Art mittlerweile. Und die Geschwindigkeit dieser Entwicklungen nimmt zu.
Seit Orwellls Werk hat vor allem der Individualismus zugenommen, und der Sozialismus abgenommen. Das geht soweit, dass wir heute Übertreibungen der anderen Art haben, also dass gerne "Individualismus" mit purem Egoismus verwechselt wird.
Die Steuernummer/Identifikationsnummer als solches ist keine Bedrohung für die Demokratie und auch nicht für den Einzelnen. Steuerbetrüger hingegen schon. Die implizite Forderung der Verweigerung einer Registrierung des Einzelnen durch den Staat ist letzten Endes nur die Übertreibung des Staatswesens ins Staatenlose, in Anarchie und Chaos. Auch diese Übertreibung ist, wie regelmäßig alle möglichen Übertreibungen, keineswegs wünschenswert.
Ob es wirklich wünschenswert ist, das es Abseitigen nicht an den Kragen geht - das kommt darauf an, was genau die Gesellschaft als Abseitig definiert. Sofern es um Kriminelle, Verbrecher, Terroristen geht, um Verachter der Menschenrechte oder auch des friedlichen Zusammenlebens - da spricht vieles dafür, dass es durchaus wünschenswert ist, wenn solche Abseitigen identifiziert und entsprechend dem Rechtsstaat auch Dingfest gemacht werden. Entscheidend ist insofern nicht, wie man mit Abseitigen umgeht, sondern wie offen und tolerant eine Gesellschaft auch gegenüber andersdenkenden ist.
Die Alternative zum Überwachungsstaat ist nicht die Anarchie - sondern eine weltoffene, menschenfreundliche Demokratie basierend auf den Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit, sozialem Miteinander und Toleranz. Freiheit aber, die wir so gerne einfordern, ist immer auch die Freiheit der anderen - und in einer Welt, die immer mehr zusammen wächst, können wir Terror und Unrechtsregime auch nicht am Hinudkush akzeptieren. "Friede" war schon immer eine hohle Phrase, wenn dieser "Friede" auf dem Rücken von Sklaven, Entrechteten, Terroropfern u.ä. erkauft wurde. Für die Opfer war das schon immer Elend und Leid - und nur die schöne heile Welt der Anderen hilft da auch nicht, die Welt besser aussehen zu lassen.
Heute haben wir mehr Transparenz zu den Elendsszenarien der Welt - und die Geschwindigkeit dazu nimmt weiter zu. Sorge machen mir deshalb nicht die Steuernummern dieser Welt, sondern vielmehr die Fake-News-Verbreiter, Pseudowissenschaftlicher Quatsch, fehlende Bildung, und der allgegenwärtige Egoismus, der im Namen der angeblichen Freiheit am Ende nur zum Terror gegen den Nachbarn und Nächsten verkommt.
Den Blockwart braucht es nicht, und auch nicht den großen Bruder. Es reicht, ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen Rechtsstaat und Einzelnem zu haben, und eine aufgeklärte Demokratie ist dafür schon mal eine gute Basis.