Alexyessin hat geschrieben:(04 Feb 2021, 19:15)
Kohl hab ich nicht wirklich mitbekommen. Die Gnade der späten Geburt.
Sei froh.
Kohl hatte so manche Parallelen, die man sicherlich bei anderen Kanzlern fand. Während seiner Kandidatur wurde er als überfordert wahrgenommen und intellektuell wenig ansprechend. Übrigens auch während seiner Kanzlerschaft. Er war halt der faule Machtmensch, der provinzielle Motzer, der peinliche Vielfraß und der korrupte Pate. Das hatte einige Vorzüge, aber viele Nachteile.
Was Kohl jedoch abhebt, ist die Tatsache, dass, eben weil er Motzer, Provinzler, Kleingeist und Pate war, er die Herzen der CDU gewann. Irgendjemand auf den Dörfern hinter den Wäldern und Bergen musste ja wählen gehen. Das ist auch, was Merkel so verführerisch machte: eine Basisübereinstimmung. Selbst ich mag sie irgendwie als Mensch, habe sie einmal vor dem K-Adenauer-Haus getroffen, als sie noch Kandidatin war. Ganz nette und bescheidene Frau, genau, was die Zeit des Konsens erforderte. Mal sehen, ob Laschet, wenn er auch Kanzlerkandidat werden will, weiß man ja noch nicht, auch diese Übereinstimmung bewirken kann.
Kohl war ein fähiger Außenpolitiker, was wohl auf seine Erfahrung als Pate zurückzuführen ist. In der Diplomatie ist Zwielichtigkeit immer hilfreich: Wäre es nicht besser, Putin anzulächeln, als ihm eine reinzuhauen? Aber war er ein Bismarck? Wohl kaum. Die Ära Kohl neigte sich Ende der 80er dem Ende zu, er war halt sehr glücklich, eine historische Chance wie unsere Revolution bekommen zu haben, ohne welche seine Kanzlerschaft nicht wirklich besonders gewesen wäre. Andere Kanzler zuvor hatten auch das Format, eine Einigung durch Verständigung herbeizuführen, sollten es die Umstände erlauben. Andere Kanzler mussten auch erst den Weg ebnen: Was Kohl tat, hätte ihm früher den Kopf gekostet - als Willy seine Ostpolitik begann, war das nämlich noch so.
Im Inneren sieht es schon anders aus. Zwar war er Merkelesque darin, dass er Probleme ruhig aussitzen konnte und dass ihn seine Gegner ständig unterschätzten (vgl. Laschet), doch: Seine CDU sah sich darin berufen, den gesellschaftlichen Wandel, den die neue SPD losgetreten hatte, rückgängig zu machen. Die konservative Wende versprach er seinen Anhängern. Du wirst in diesem Forum diese Wende auch in Form von einigen Benutzern wiederfinden, die bis heute den Unfug verbreiten, dass alles Übel daherkomme, dass wir "gute deutsche Werte" in den Abfalleimer der Geschichte geworfen hätten. Damit hat Kohl natürlich langfristig geistige Nahrung für eine heute mehr und mehr entfremdete Rechte gegeben. Kohl selbst wollte damit aber von wirtschaftlichen Problemen ablenken. "Seid deutsch, dann wird es besser!" Interessanterweise reagierten viele Länder der westl. Welt auf diese Krise ähnlich. Ich würde aber nicht behaupten, dass er einen so großen Schaden wie Reagan angerichtet hat. Die konservative Wende war bekanntermaßen ein Fehlschlag, die uns trotzdem wertvolle Zeit gekostet hatte und die Rechte nur von der Mitte abbrach. Ohne Kohls Erbe hätten wir z.B. nicht so lange auf die Ehe für alle warten müssen. Merkel hingegen verstand den Irrtum Kohls und versuchte, die CDU in die Mitte zu drücken. Im Endeffekt beschleunigte dies aber Reformen nur etwas.
Am schlimmsten fällt seine Bilanz für die Wiedervereinigungspolitik aus. Ein heißes Thema mit vielen Emotionen und Enthüllungen. Außenpolitisch war sie keineswegs nur ein Erfolg, innenpolitisch wohl ein Desaster. Kohl verschlief die neoliberale Welle und kam erst zu ihr, als es schon zu spät dafür war. Er versprach blühende Landschaften, aber auch die Einheit ohne Steuererhöhung - zuvor, verspätet, senkte er die Steuern massiv. Das war nur kurzfristig sinnvoll, die Wirtschaft überhitzte, wie man heute sagt, so schnell, dass angesichts des Defizites von Aufbau Ost und geringen Einnahmen die Bundesbank die Zinsen derart anhieb, dass es nicht nur der Inflation vorbeugen sollte, sondern letztendlich auch die Mark zerstörte, insofern als dass alle europäischen Länder, die über die Wechselkurse verbunden waren, selbst ihre Wertung abwerten mussten, da sie ihrerseits noch in der Rezession standen. Dazu gehört übrigens das heutige von Schäuble so gescholtene Südeuropa. Hier begann der Konflikt schon bei Kohl. Deutschland krachte durch diese groben Fehler in die Krise. Für uns war das eine echt schwere Zeit, aber nicht nur deswegen. Kohl war bekannt, dass sein Versprechen eine Lüge war. Ein jüngst gefundener Brief beweist dies noch einmal. Anstatt reinen Wein beizugeben, beharrte er bei den Fehlern. In der angespannten Lage wurde die Privatisierung recht kopflos und überstürzt umgesetzt - es mussten ja in dieser verschuldeten Lage Kosten gemieden werden. Die Privatisierungspolitik endete in einem Ramschverkauf. Das war eine Belastungsprobe für viele Familien und machte Kohl enorm unbeliebt. Ich bin sogar stolz darauf, genau an der Stelle geheiratet zu haben, wo Kohl von Jusos mit Eiern beworfen worden ist. Seine Planlosigkeit zeigte sich dann nunmehr auch in der Lohndebatte. Trotz Ramschverkaufes und furchtbarster Ausbeutung wagte er nicht den unpopulären Schritt, in die Lohnverhandlungen einzuschreiten. Dies überließ er den Arbeitgeberverbänden, die den Osten geschickt, man kann es ja nicht anders sagen, an der Nase herumgeführt haben, da dieser selbst ja keine solchen gefestigten Verbände hatte, deren Eigentum nicht einmal völlig abgewickelt war. Ich weiß nicht, ob Du diese Zeit miterlebt hast, aber kurz: Die Löhne standen nicht im Verhältnis zur Produktivität. Dies warf uns langfristig in die Position der Transferempfänger zurück.
Die Sache ist so komplex und tiefgreifend, dass ich jetzt dafür einen zweiten Absatz machen muss. Kohl hat mit seiner Einigungspolitik Deutschlands Entwicklung negativ für die nächste Generation beeinflusst. Die Wechselkurse der europ. Währungen waren nunmehr (also vor dem Euro) festgelegt, Deutschland konnte quasi nicht mehr den Weg Südeuropas gehen und die Mark abwerten - Schäubles schwarze Null als Idee hat ihren Ursprung daher nicht in deutscher Klugheit, sondern den Konsequenzen der Planlosigkeit. Wie sollte man nun aber die Krise händeln? Die Mark sollte stark bleiben. Da Kohl ein später Reagan war, saßen jetzt auch nur noch die Neoliberalen an der Spitze des ökonomischen Denkens. Sparen, Schließen, Senken, Kosten senken war die Parole. Und man hörte es überall. Die Löhne waren mies. Es gab sogar Zeiten, in den gearbeitet, aber nicht gezahlt wurde. Die Elterngeneration durfte zwar in die frühe Verrentung gehen, die aber arbeiten mussten, hatten echt keinen Spaß. Dies legte langfristig eine Saat tiefster Verachtung, die allmählich in all den Höckes und Gauländern aufgeht, die dieses Trauma gut auszunutzen wissen. Nach dem Desaster der Lohnverhandlungen waren Gewerkschaften völlig machtlos. Die pompöse Kanzlerschaft Schröders setzte die falschen Schlüsse der Kohl-Ära fort, eine Generation wuchs in Austerität auf, selbst als das Land sich ökonomisch erholt hatte. Der "deutsche Weg" wurde dann bald auch zur Belastung für Europa, unsere niedrigen Löhne und hohe Produktivität macht uns zum deutschen China - ein auch außenpolitisches Problem. Corona hat dann auf schockierende Weise gezeigt, dass all die Jahre der Austerität, in denen es Deutschland doch gut ging, vergeudet waren. Man stelle sich vor, wie trotz kontrolliertem Defizites einige Krankenhausbetten hätten subventioniert werden können. Egal. Jetzt kommen eh wieder Zeiten des Ausgebens und erneut hat Deutschland in seiner Kohlmentalität enorm verschlafen. Wir müssen endlich damit brechen. Laschet kann das wohl nicht. Merz auch nicht, er ist das Kind Kohls (cum ex lässt grüßen). Merkel wollte Kohl korrigieren, weshalb sie auch solche schaurigen Gestalten wie Merz "ausschaltete", aber sie konnte die CDU nicht tiefgehend verändern. Selbst die neuen CDUler, wie Omas Liebling Philipp, sind nicht immer des Geldes abgeneigt. Merkels Erbe war es wohl, die CDU von der Korruption befreit zu haben. Und nun? Interessant wird auch die Frage nach Söder.
In summa: Ja, Kohl ist wohl Architekt und Abrissbirne zugleich. Seine Kanzlerschaft ist für das Verständnis unserer jetzigen Situation unentbehrlich. Eigentlich ist er nur deshalb interessant.
gentibus solidaritas, una fit humanitas.