al-Faylasuf hat geschrieben:(27 Mar 2019, 13:25)Einen herzlichen Gruß an die Forumsgemeinde, da dies hier mein erster Beitrag ist. Zumindest nach einer Pause von mehr als zehn Jahren, denn während meiner Studienzeit war ich unter dem Nick „The Fly“ hin und wieder im alten Politikforum.de aktiv – zumeinst (aus Gründen des persönlichen Backgrounds) in den Niederungen des Balkanforums, jenem ethnisch-nationalistischen Sammelbecken, das sicherlich bei dem ein oder anderen User dafür gesorgt hat, diese Region aus seiner Urlaubsplanung zu streichen. (Fanatisch angehauchte Anhänger der Serie „Game of Thrones“ vielleicht ausgeschlossen).
Etwas zu meiner Person folgt am Ende des – wie ich jetzt sehe – etwas lang geratenen Beitrags.
Zum Thema Apostasie im Islam – das ich aufgrund eines kurzen Beitrags von „Fliege“ einmal mal aufgreifen – will ich gerne aus Gründen der Redlichkeit und Vollständigkeit, auf folgendes hinweisen:
Das osmanische Kalifat, seinerzeit führender Vertreter im sunnitischen Islam, schaffte im Zuge der sogenannten „Tanzimat“-Reformen im Jahr 1839 die Todesstrafe für Apostasie offiziell ab. Die Rede ist hier vom „Edikt von Gülhane“. Dieser Umbruch in der islamischen Rechtslehre wurde vom damaligen Schaich al-Islam, dem religionsrechtlichen Oberhaupt, ratifiziert. Dabei argumentierte man, dass es im Koran keinen Vers gebe, der eine Strafe für Abtrünnigkeit vorsieht (auch wenn die Suren 5:54 und 2:217 eine Strafe im Jenseits voraussagen). Außerdem wies man darauf hin, dass die Mehrdeutigkeiten in den Hadithen darauf hindeuteten, dass der Glaubensabfall nur dann ein Vergehen sei, wenn er mit dem Verbrechen des Verrats verbunden ist.
Und genau diese Mehrdeutigkeiten hatten auch einige Muslime zuvor dazu veranlasst, d.h. lange vor Beginn der Modernisierung, die damalige Mehrheitsmeinung der Gelehrten abzulehnen. Dazu zählen auch einflussreiche Rechtsgelehrte wie al-Nakhai (gest. 717), ath-Thaurī (gest. 778) (der eine eigene Rechtsschule begründete, welche im Maghreb und in Andalusien über 200 Jahre lang maßgebend gewesen war), as-Sarachsī (gest. 1096), al-Bādschī (gest. 1081) oder asch-Scha’rani(gest. 1565).
Und Leute wie diese haben sich ihre Meinung nicht - ausgehend von Fragen wie „wie können wir den Islam an universelle, im Westen entwickelte, Menschenrechtsnormen anpassen?“ – irgendwie opportunistischer Weise zusammengebastelt.
Mit anderen Worten: Es gibt in den klassischen Rechtsschulen – welche die islamische Orthodoxie darstellen - durchaus theologische Mittel und Werkzeuge für das, was man als „liberale Auslegung“ bezeichnen könnte. Dies hat neben anderen Dingen auch mit einigen Grundannahmen der klassischen Koranausleger zu tun, die für sich erkannten, dass Widersprüche in den Texten tatsächlich nur Widersprüche der Interpretationen seien. Mag sein, dass die westlich geschulte Seele mit dieser scheinbaren Beliebigkeit leicht überfordert sein kann.
Die Fähigkeit, unterschiedliche Ansichten und Wahrheiten zu ertragen, war etwas, was die islamische Welt der Vormoderne kennzeichnete, und das auf den unterschiedlichsten Gebieten und Ebenen (dieser Aspekt wurde auch von einigen der bekanntesten europäischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts erkannt)
Einen im deutschsprachigen Raum bemerkenswerten Beitrag dazu hat der Arabist und Islamwissenschaftler Thomas Bauer in seinem mit dem höchsten deutschen Wissenschaftspreis ausgezeichneten Werk „Die Kultur der Ambiguität – eine andere Geschichte des Islam“ (2011) geliefert. Wer zur Abwechslung mal etwas lesen möchte, das ihn auch mal in seinem Weltbild und seinen Ansichten herausfordert und nicht nur die eigene Meinung bestätigt sehen will, dem sei dieses Buch an dieser Stelle empfohlen.
Die durch die eingangs erwähnte osmanische Reformen ausgelöste Debatte wurde fortgesetzt. Schließlich verabschiedete die al-Azhar-Universität in Kairo, welche die oberste religiöse Autorität in der arabischen Welt darstellt, im Jahr 1958 eine formelle Fatwa, welche die Abschaffung in diesem Bereich bestätigte – und bei al-Azhar haben wir es bekanntlich nicht gerade mit einer progressiv-orientierten Institution zu tun. Man denke dabei bsp. an die Rolle einiger dortiger Professoren an den Kampagnen gegen den historisch-kritischen Koranforscher Nasr Hamid Zaid (gest. 2010), der von einem ägyptischen Gericht als Folge des Apostasie-Urteils von seiner Frau zwangsgeschieden wurde und er daraufhin mit ihr in die Niederlande auswanderte.
Heute haben es muslimische Philosophen, die sich kritisch mit islamischen Themen befassen, schwer in den islamischen Ländern (mit einigen Ausnahmen wie bsp. Tunesien) – aus diesem Grund findet man die progressivsten und originellsten Beiträge von muslimischen Denkern, die in universitären Einrichtungen in den USA und Großbritannien forschen, lehren und veröffentlichen. Positive innerislamische Impulse erblicken somit das Licht der Welt nicht im Osten, sondern im Westen. Man sieht das auch daran, dass die Zahl von muslimischen Hochschulabsolventen, die akademische Bücher zu allen dazu relevanten Themen veröffentlichen, im Vergleich zu früheren Zeiten exponentiell in die Höhe geschossen ist (was nicht schwer war, denn früher tendierte die Anzahl gen Null . Bleibt natürlich die Frage, ob sich dies auch politisch widerspiegeln wird oder ob originelle Beiträge letztlich in einer Art akademischer Blase sich im Kreis drehen und beim Volk, das vom um sich greifenden Fanatismus infiziert ist, gar nicht erst ankommen.
Dass irgendwann einmal im Laufe der Zeit das einstige so äußerst produktive innerislamische Spannungsverhältnis zwischen Theologen und Philosophen zugunsten der Ersteren sich aufgelöst hatte, hatte nüchtern betrachtet zunächst sowohl negative als auch positive Folgen. Negativ war natürlich die zunehmende Erstarrung des fortschrittlichen Denkens, was einen langsamen aber unaufhaltsamen Niedergang (auf allen möglichen Feldern) zur Folge hatte - positiv hingegen war die religiöse inner-sunnitische Stabilität und eine auf Ausgleich und Synthese setzende Rechtsprechung. So war die Philosophie weder verteufelt noch verboten, sie wurde einfach selektiv in das eigene System eingebettet (z.B. Akzeptanz von Aristoteles Logik, aber Ablehnung seiner Metaphysik, Modellierung von Platons Politik usw.) Durch die durch muslimische Reformer unterschiedlichsten Couleurs im 19. Jahrhundert ausgelöste Anti-Rechtsschulen-Kampagnen hat der sunnitische Islam mittlerweile selbst diese innerreligiöse Stabilität verloren. Das heißt allgemeiner Niedergang + religiöse Instabilität = unser hier und jetzt. Eine der Folgen davon ist die Schwächung des gemäßigten Mainstreams. An diesem Punkt stehen wir heute.
Mit dem Ergebnis, dass heute jeder halb-gebildete muslimische Autodidakt meint, eine Buchari-Edition zuhause reiche aus, um irgendwelche Fatwas herauszugeben und Ge- und Verbote abzuleiten. Auch kennt der Salafist nur eine Koraninterpretation (natürlich nur die strengste wie die von Ibn Kathir) und auch nur eine Lesart. Unbekannt hingegen für ihn sind dagegen die 14 verschiedenen Lesarten des Korans – die ein Hafiz (jemand, der den Koran auswendig kennt) einst beherrschen musste -, diese Lesarten beinhalten bereits verschiedene Auslegungen, noch bevor die eigentliche Interpretation überhaupt beginnt. Für die klassischen muslimischen Theologen waren allein diese Lesarten eines der Argumente für die Göttlichkeit des Korans, und eine Begründung, wieso dieses Buch bis in alle Zeiten Gültigkeit habe – durch die schiere Unerschöpflichkeit an Deutungs- und Lösungsmöglichkeiten.
Hierbei ist folgender Punkt wichtig: Mit solchen Dingen wie „Koranauslegung“ befassten sich ausschließlich Spezialisten. Für das gemeine Volk war der Koran weder ein Gesetzbuch noch eine detaillierte Anleitung für den Alltag. Es diente schlicht der Liturgie. Eine melodische Rezitation oder auch nur der kalligrafische Ausdruck hatten sehr viel mehr Einfluss auf die Menschen, als irgendeine logische Schlussfolgerung vom Gelehrten Ibn XYZ. Ebenso erwähnen sollte man die beim volk wirkungsmächtigen Sufi-Orden, die ihre Aktivitäten auf das Reinigen des Inneren Selbst konzentrierten. Es ist falsch zu glauben, dass es sich beim Sufismus um eine Art exotischer Randerscheinung des Islams handelt. Ganz zu schweigen von daraus erwachsenen Persönlichkeiten wie ar-Rumi oder Ibn Arabi, die einen Universalismus und Offenheit vertraten, die heute in der muslimischen Welt selten geworden ist. Und wo dies noch vertreten wird, wird diese bedroht. (Mittlerweile werden in Ländern wie Nigeria, Libyen oder dem Irak selbst konservative Theologen ermordet, die so etwas wie Kritik an der oberflächlichen radikalen Frömmelei der Lanbartträger äußerten)
Man kann zu den traditionellen Rechtsschulen stehen wie man will: Unbestritten ist, dass zur Ausbildung eines klassischen Faqīh Disziplinen und Fähigkeiten gehörten, die dem modernen muslimischen Aktivisten salafistischer Prägung völlig abgeht. In der Regel waren und sind die maßgeblichen Köpfe der islamistischen Erneuerungsbewegungen ausgebildete Ingenieure, die nicht oder nur oberflächlich in Berührung kamen mit Fächern wie „mantiq“ (Logik), „Kalam“ (systematische Theologie), „falsafa“ (Philosophie), „Tafsir“ (Koranauslegung) oder den Hadithdisziplinen.
Tatsächlich lehnen diese Eiferer selbst die die konservativen Rechtsschulen ab mit dem Verweis, dass es so etwas im „reinen Ur-Islam“ nicht gegeben hat.
Im Grunde haben wir ja schon längst eine islamische Reformation – man stelle sich aber folgendes Szenario vor, um das Ausmaß zu begreifen: Calvins Genfer Gottesstaat (wo Andersdenkende wie Michael Servetus, der die Dreifaltigkeit ablehnte, auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden) habe durch Ölfunde und einer unheilvollen Allianz mit dem übermächtigen Osmanischen Reich es geschafft, seine Lehren in den Rest der christlichen Welt auszubreiten, sowohl durch zahlreiche Finanzspritzen als auch durch das massenhafte Verschicken von kostenlosen Büchern, die gerade in kriegsgebeultete Ländern – am besten „failed states“ offene Türen einrennen.
Dies von mir erstmal als eine Art Anregung. Zu mir kurz: 40 jähriger philosophisch, wirtschaftswissenschaftlich und geschichtlich interessierter Mensch, beheimatet in der deutschen Hauptstadt, auf der inneren Suche nach dem, was der Wahrheit am nächsten kommt.