Sören74 hat geschrieben:(13 Jul 2021, 17:30)
Ja. Vielleicht muss man sich mit dem Gedanken anfreunden, dass es nie eine genaue Diagnose geben wird und auch nicht, wie gefährlich ein Mensch gegenüber anderen und sich selbst sein wird. Wenn dem so wäre, dann würde man auch eine Vielzahl an Suiziden verhindern können. Aber wenn überhaupt wird man nur grob eine Einschätzung darüber abgeben können, wie gefährlich jemand für sich und andere sein wird.
Aus eigener Erfahrung kann ich sowieso das Gegenteil berichten. Als ich seinerzeit anfing, mich nach der Schulzeit und dem Zivildienst, in ein Studium zu stürzen, erkrankte ich ebenfalls akut an einer Psychose. Da ich bemerkte, dass ich psychische Probleme bekam, war gleich im ersten Semester einer der ersten Schritte der Gang zur psychologischen Studienberatung der Universität. Diese schickte mich gleich zum Psychiater, der mir gleich die richtige Diagnose an den Kopf knallte, ohne sie mir zu erklären. Stattdessen wollte er mir eine Beruhigungsspritze geben. Als ich zögerte, wurde ich zur örtlichen Klinik geschickt. Dort wurde ich von einer Psychologin untersucht, die gerade einmal ihr Studium fertig hatte. Diese diagnostizierte mir lediglich eine Anpassungsstörung, was sich als falsch herausstellte. Eine Psychiaterin ließ mich in einen Kernspindtomographen stecken, um mich näher zu untersuchen. Ansonsten fühlte ich mich von ihr mit meinen Problemen nicht ernst genommen. Ich hatte den Eindruck, dass sie mich wegekeln wollte. Also brach ich den Kontakt zu ihr ab. Ich schwor mir, nie wieder zu solchen Quacksalbern zum gehen. Ich wollte meine Probleme in der folgenden Zeit alleine lösen, obwohl ich starke Einsamkeitsdepressionen hatte. Oder hätte ich zu meinen Eltern gehen sollen? Ich dachte, ich wollte mein Studium mit aller Gewalt weiterführen. Wenn ich meinen Eltern von meinen zusätzlichen psychischen Problemen berichtet hätte, dann würden sie sich noch mehr Sorgen machen. Also schwieg ich ihnen gegenüber. An einen Studienabbruch dachte ich damals noch nicht, da ich ahnte, dass ich die gleichen Probleme weiter haben würde, wenn ich stattdessen mit einer Ausbildung beginnen würde. So machte ich also weiter.
Das allerverrückteste an der gesamten Geschichte war, dass ich meinen letzten Hauptseminarschein, den ich an dieser Universität machen durfte, mit einer "Eins" bestand. Da ich über die Jahre hinweg immer mehr Angst bekam, dass mir mein Leben entgleiten würde, strengte ich mich immer mehr an, um genau dies zu verhindern. Wie bei so vielen üblich, dachte ich auch, ich würde mich in einem Krieg befinden. In meinem Kopf feierte die Paranoia auch fröhliche Urzustände. Als ich das Gefühl bekam, dass ich psychisch absolut nicht mehr konnte, bin ich dann doch zu meinen Eltern gegangen. Und diese haben mich dann eingewiesen.
Was ich aber sagen will, ist: Solange man nicht akut selbstmordgefährdet oder extrem verhaltensauffällig ist, bekommt man oftmals keine Behandlung. Und die Nachbarn und Kommilitonen scheren sich einen Dreck um einen, wenn man psychische Probleme hat. Ähnliches gilt oftmals für die Psychiater. Siehe oben. Wenn man dann aber ganz am Boden ist, dann probieren sie alle möglichen Medikamentencocktails an einem aus. Manche haben Glück. Bei denen hilft schon der erste Cocktail. Diejenigen, die Pech haben, müssen aber irgendwann in ein Pflegeheim, weil sie kaputttherapiert wurden. An begleitende Psychotherapie kann ich mich auch nicht erinnern. Bei mir war es jedenfalls so: Solange ich konnte, versuchte ich mich zu beherrschen und mein Leben im Griff zu halten. Ich ahnte, dass mir niemand helfen konnte außer ich mir selbst. Ich wurde auch nie gewalttätig oder laut. Die beste Entscheidung in meinem Studium war dennoch, dass ich selbst die Reißleine ziehen konnte. Andere können das nicht. Diese sind dann jetzt schon lange tot. Aber mein Eindruck war gewesen: Wenn ich mich selbst nicht mit allerletzter Kraft zu meinen Eltern schleppe, um ihnen zu sagen, dass ich nicht mehr konnte, dann würde ich draufgehen.
Von den Psychiatern sowie den anderen Mitmenschen in meiner Universitätsstadt bekam ich keine Hilfe in meiner psychischen Ausnahmesituation. Die Psychiater in der Klinik wiederum wollten mich derart mit Medikamenten zupumpen, dass ein normales Leben nicht mehr möglich war. Glücklicherweise hatte ich dann noch Hilfe von woanders. Außerdem war ich noch nie jemand, der früh aufgibt. Ich habe es im Laufe der Zeit immer mehr geschafft, mich ins Leben zurückzukämpfen. Aber dumme Sprüche musste ich mir nach der Klinik ebenfalls auch von der Familie eines Onkels anhören: "Psychose? Ja hat er denn Drogen genommen?" Nein, hatte ich nie. "Und ihm ist jetzt psychisch zu schlecht, um uns besuchen zu kommen? Wieso strengt er sich nicht an?" Mit diesem Teil der Familie haben wir auch keinen Kontakt mehr.
Im Nachhinein weiß ich jedenfalls, dass die Leute in meiner Universitätsstadt nicht alle gegen mich waren, als ich psychotisch war. Aber psychische Erkrankung hin oder her: Schon zu meiner Zeit waren die Menschen gleichgültig genug, dass es sie völlig kalt ließ, wie es ihren Mitmenschen ging. Dies dürfte sich heute noch verschlimmert haben.
Von daher wären meine Forderungen vor allem, dass die Menschen emphatischer auf ihre Mitmenschen zugehen sollten. Psychische Krankheiten sollten darüber hinaus nicht tabuisiert oder stigmatisiert werden, damit die Betroffenen leichter aus sich heraus gehen können, um ihre psychischen Probleme zu berichten. Es braucht eine bessere Versorgung mit Psychologen und Psychiatern bzw. mit Therapieplätzen. Und was die Schulen betrifft: Mehr Schulpsychologen bzw. ein Aufklärungsunterricht über psychische Erkrankungen wäre förderlich. Ich sehe da zwar schon die Rechtsknaller kommen, die dann behaupten, dass sich dann alle mit den psychischen Erkrankungen anstecken können, wenn man dies macht. Wenn dagegen psychische Erkrankte generell kriminalisiert und unter Generalverdacht gestellt werden, so ist dieser Schritt nicht hilfreich. Es ist statistisch erwiesen, dass im Durchschnitt psychisch Erkrankte sogar weniger kriminell sind als sogenannte "Gesunde". Und die meisten Morde und Vergewaltigungen werden sowieso von "Normalos" verübt, die voll zurechnungsfähig sind. Die wissen also, was sie tun. Und im schlimmsten Fall sind sie eben Soziopathen.