Stoner hat geschrieben:(05 Jan 2021, 12:13)
Das ist auch für mich unstrittig, dass die Rechtssprechung
nicht darauf basieren sollte, sondern auf den geltenden Normen.
Was aber darauf durchaus auch basiert, sind unsere legal zustandekommenden Normen. Sie sind und werden immer auch davon bestimmt, so kommen auch Gesetzesänderungen zustande. Es wird plötzlich als ungerecht empfunden, dass Sex zwischen Männern strafbar ist, es wird plötzlich als ungerecht empfunden, dass jemand mit 190 durch die Stadt brettert, einen Menschen totfährt und nicht mehr als zwei oder drei Jahre dafür bekommt. Also wird der Gesetzgeber tätig.
Was die legal zustande gekommenen (Rechts-)Normen angeht, basieren diese in besonders essentiellen Bereichen, die im GG festgelegt sind, und so überragend hohen Rang haben, wie das Folterverbot in jeder Form, weniger auf einem geändertem Gerechtigkeitsempfinden, sondern eher auf einer faktenbasierten Lernerfahrung einer Unrechtsrechtsprechung. Die die Gründungsväter des GG dazu veranlasste, einen grundsätzlichen Rechtsrahmen zu schaffen, der eben nicht einem sich zuweilen recht merkwürdig änderndem Gerechtigkeitsempfinden des Volkes "gehorcht". Oder sich gar diesem Gerechtigkeitsempfinden unterwirft.
Diese leidvolle Erinnerung und Lernerfahrung bzw. ein daraus resultierendes, geändertes Rechtsverständnis, das nicht nur im Strafrecht, sondern auch in der föderalen Verfassheit der neugegründeten Bundesrepublik Deutschland - aus gutem Grund - seinen nicht verhandelbaren Niederschlag fand, mit all den dafür notwendigen Normen, hat nichts mit Gerechtigkeitsempfinden zu tun. Wem auch immer man dafür danken will.
Andersherum formuliert, geänderte Normen und damit verbundene Gesetzesänderungen oder Rechtszugeständisse zugunsten oder auch zuungusten des Individuums, seiner Unterschiedlichkeit, seiner Freiheit und Selbstbestimmheit, wie Sie in ihren Beispielen dargelegt werden, sind m,M.n. weniger das Ergebnis eines geänderten Gerechtigkeitsempfindens als vielmehr das Ergebnis einer rationalen Faktenlage, die durch erweiterte, meist wissenschaftlich abgesicherte, erweiterte Erkenntnisse zu Anpassungen von Alltagsgesetzen führ(t)e.
Dass heisst für mich zumindest, für das Schwulsein, "nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt", die Rosa von Praunheim formulierte, beförderte eine Änderung des Gerechtigkeitsempfinden so entscheidend als vielmehr die wissenschafliche Erkenntnislage, dass es unterschiedliche Sexualitäten gibt, Heterosexualität nicht die einzige natürlich vorkommende Form von menschlicher Sexualität ist. Insofern mag ein geänderes Recht. i.e. die Abschaffung des § 175 insofern zwar auch zu einem geänderten Gerechtigkeitsempfinden beigetragen haben, und dieses Gerechtigkeitsempfinden hilfreich für eine mehrheitliche Konsensfähigkeit der Gesetztes-/Normenänderung gewesen sein, aber nicht positiver Verursacher der Normenänderung.
Gleiches gilt für das Beispiel gesetzlicher Tempobeschränkung, das wohl mehr auf validen wissenschaftlich begründeten Studien/Statistiken und Untersuchungen basierte, die eine Einschränkung der großen Raserfreiheit zum Schutz von Leben und zur Verhindrung von überflüssig vielen Verkehrstoten oder auch lebenslang Schwerverletzten zu einem rationalen Gebot machten. Bei dem die Frage eines geändertem Gerechtigkeitsempfindens nicht den Ausschlag gab, allenfalls seinen Niedrschlag langsam aber sicher auch darin fand, dass diese Einschränkung der Freiheit des Individuums nicht nur vernunftbegabt, sondern auch gerechter sei. Eine bessere Balance verschiedener Interessenslagen hergestellt wurde.
Daß sich das Gerechtigkeitsempfinden dann gerne auch die moralische Hoheit solcher rationaler Entscheidungsfindungen krallt und als alleiniges Verdienst ans Schemisettl heftet, kann man beklagen. Oder bestreiten. Mich tangiert das aber eher periphär.