NicMan hat geschrieben:(16 Dec 2020, 21:34)Ich würde gerne eine Hypothese zu den Ursachen dieser Spaltung einwerfen. Hat die zunehmende Polarisierung, das Gekränktsein, das ständige Beharren auf der eigenen Position vielleicht auch etwas mit einem zu starken Individualismusbegriff innerhalb der Gesellschaft zu tun? Zwar ist immer die Rede von betroffenen "Gruppen", aber in Diskussionen geht es ja letzlich dann immer darum, ob das spezifische Individuum XY sich aufgrund seiner
persönlichen Hintergrundgeschichte überhaupt zum Thema äußern darf. Ich höre also ständig das Wort ICH. ICH bin betroffen, ICH bin gekränkt, ICH werde diskriminiert.
Wie soll Gesellschaft funktionieren, wenn es nur noch das ICH gibt, wenn wir alle nur noch bezugslose, vereinzelte Individuen sind, die den anderen Menschen nur nach seinem Nutzen für uns bewerten? Das ICH soll jedem gefallen, das ICH soll nicht anecken, das ICH soll nicht gekränkt werden; das geht nun vielleicht etwas vom Thema ab, aber dieser Aspekt fällt mir in vielen emotionalen Debatten schon auf. Um den
anderen zu verstehen, mich mit dem
anderen auszutauschen muss ich auch von meinem ICH absehen, es zurücknehmen, es nicht als heilige und unfehlbare Instanz ansehen.
Der Individualismus war eine notwendige Befreiungsbewegung auf die Fesseln der autoritären Gesellschaft. Jetzt schlägt er in eine vereinzelte Gesellschaft der gekränkten ICHs um, in der die persönliche Freiheit nicht zur zusätzlichen Stärkung der Gesellschaft, sondern für die Heiligsprechung des ICHS dient.
Da mag viel dran sein.
Warum aber fällt die Individualisierung der Gesellschaft zusammen mit einer immer stärker ausgeprägten Empfindsamkeit der Individuen? Das will mir noch nicht einleuchten. Individualisierung bedeutet ja zunächst einmal Loslösung von Kollektivierung. Der Effekt den wir aber beobachten ist eine teilweise ins hysterische abgleitende Idealisierung von Opferrollen - nicht unbedingt nur der eigenen, sondern von ganz bestimmten als Opfergruppen anerkannten Personengruppen. Das müssen noch nicht einmal Minderheiten sein - immerhin sind Frauen eher in der Mehrheit. Typischerweise sind es aber Minderheiten.
Es fällt auch auf, dass es nicht unbedingt die betroffenen Personengruppen selber sind, die ein Problem thematisieren, sondern viel eher würde ich denken, dass es Menschen sind, die, einer Mission folgend, sich als Anwälte von Personengruppen sehen, die sie gegen angebliche Diskriminierung schützen "müssen". Der Eifer der dabei zu beobachten ist, erinnert mich noch am ehesten an Tugendeifer religiöser Fanatiker, bei denen jeder die noch höhere Form des Ideals zum Ziel der Tugend ernennen muss. Niemals ist es tugendhaft genug.
In meinen Augen ist das also weniger ein Effekt der Individualisierung, sondern eher ein Effekt der "Verweichlichung" - provokant könnte ich auch sagen, ein Effekt der "Feminisierung" von Debattenräumen, in denen Gefühle zu Fakten geadelt werden, wenn sie nur glaubhaft in Stellung gebracht werden.
Als ein Kind der 70er kann ich sagen, dass damals jede Minderheit ein vielfaches von dem aushalten musste, was heute eine Minderheit aushalten muss. Damals war es schon ein schlimmes Schicksal eine Brille tragen zu müssen. Aber da musste man halt durch.
Heute scheint man dem Raubtier in uns die Reißzähne so weit runtergefeilt zu haben, dass wir nur noch Brei vertragen. Nichts darf die Seele betrüben, es sei denn, jemand verstößt gegen genau diese Regel. Dann trifft ihn der Zorn der Gezähmten.