Türkei: Linksextremisten greifen wiederholt Nato-Soldaten an

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palulu
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Re: Türkei: Linksextremisten greifen wiederholt Nato-Soldate

Beitrag von palulu »

Wasteland » Mi 10. Dez 2014, 01:25 hat geschrieben:
Bist du der Meinung Bürgerrechte und Minderheitenrechte lassen sich vereinbaren mit islamischer Politik?
Also Bürgerrechte im Sinne von mehr individueller Freiheit und Minderheitenrechte im Sinne von mehr religiöser Freiheit, auch zum Beispiel für Menschen völlig anderer Religionen wie zum Beispiel Yeziden oder nehmen wir als willkürliches Beispiel, Animisten aus Afrika (wenn es solche in der Türkei gäbe)?
Ja. Das glaubt im Übrigen auch die Regierung selber. Sie verweist in Bezug auf die Minderheitenrechte dabei auf die multikulturelle Vergangenheit des Osmanischen Reiches. Was viele, wie Du sicherlich weißt, im Westen nicht wissen, war die große Loyalität der (griechisch-)orthodoxen Kirche gegenüber dem Sultan. Schließlich übertrug man die Verantwortung für alle Christen im Reich (Millet-System) der Kirche und ermöglichte ihr gleichzeitig weitreichende Autonomiebefugnisse. Die Hohe Pforte mischte sich in innerchristliche Angelegenheiten nicht ein. Eine kulturelle Autonomie ist also nicht gänzlich fremd. Das türkische Volk war auch nie so zentralistisch organisiert wie man es von heute kennt. Das Osmanische Reich und auch die Geschichte der Türken ist streckenweise der deutschen Geschichte über Teilungen und Segregation (Stichwort Flickenteppich) nicht unähnlich. So gesehen ist das Osmanische Reich ein Produkt der Überwindung des "anatolischen Flickenteppichs", der Beyliks (Fürstentümer). Im Wissen um diese Vergangenheit sind die muslimischen Parteien tendenziell gegenüber Minderheitenrechte und Autonomie zuträglicher eingestellt. Im Gegensatz dazu kann man Kemalisten und Nationalisten mit diesem Thema jagen. Die AKP-Politik bez. dieser Bereiche führen sie auch als Beweis dafür ins Feld, dass Erdogans geheime Agenda die Teilung der Türkei sei - in Auftrag gegeben vom CIA-MOSSAD-EU-FINANZ-Lobby.

Animisten würde die Regierung umgehend alle Rechte einräumen. Je näher Gruppierungen dem Islam sind, desto abweisender reagiert die AKP auf Einforderungen von Minderheitenrechte wie im Falle der Aleviten. Gerade Jesiden - neben Aramäern - wandern in diesen Tagen sehr verstärkt in die Türkei ein.

In remote areas of southeast Turkey towards the Syrian and Iraqi borders, their once-abandoned villages are starting to come back to life, with new houses being built by the communities themselves. Many Yazidis are returning from exile now that the Turkish government leaves them undisturbed. Despite centuries of persecution the Yazidis have never abandoned their faith, testimony to their remarkable sense of identity and strength of character. If they are driven from Iraq and Syria by IS extremists, the likelihood is that more will settle in southeast Turkey where they are left to live out their beliefs in peace.
http:// http://www.bbc.com/news/blogs-magazine-monitor-28686607

Wider Erwarten für ihre Kritiker, stellt diese Migration für die AKP keinerlei Problem dar.
Wie schätzt du Erdogans Vorstellung einer idealen Türkei ein? Gottesstaat oder islamische Demokratie, mit dem Risiko das die Demokratie auch einmal nicht islamisch geführt sein könnte?
Die AKP selber hat sich dazu eindeutig positioniert: das Modell der Partei heißt Muhafazakâr Demokrasi (Konservative Demokratie). Was Konservative Demokratie letztlich ist, darüber gibt es Debatten.

Asking ourselves what the party’s values are, the first look is at the party’s political program.
Conservatism is described by the AKP as a gradual change which favours balance instead of
radical solutions. It names family, tradition and the achievements of former societies as the
most important conservative values.42 The AKP defines its original political concept as
Muhafazakar Demokrasi („Conservative Democracy“) which was developed only after the
election success of the party in 2002. 43 This is unusual and raises the question whether
„conservative democracy“ is either an expression of “inner convictions” or rather a chosen
At a conservatism congress organised by the party in 2004 Fırat, the late vice president of the
party, defined conservative democracy as a “synthesis of conservatism and democracy that
connects traditional Turkish values with elements of European conservatism”.

Quelle:
Joppien, Charlotte (2011): A Reinterpretation of Tradition? - The Turkish AKP and its Local Politics. Hamburg. Online verfügbar unter: http://www.lse.ac.uk/europeanInstitute/ ... CJ2011.pdf.

Die Frau ist AKP-kritisch, heute: 2014, zweifelt niemand an der programmatischen Ausrichtung der Partei: dieses Demokratieverständnis ist ihr Fundament. Vereinfacht ausgedrückt, aus meiner Sicht und in Bezug zu deiner Frage: die AKP hat sich dem Konsens angeschlossen, dass jede Partei, egal ob links, rechts oder liberal, ihre Legitimität nicht ausschließlich mehr über die eigene Ideologie deduzieren kann, sondern in freien Wahlen die Mehrheit überzeugen muss. Deshalb reagierte sie auch so empört auf die Gezi-Proteste, die diesen Konsens, den alle relevanten Parteien 90 Jahre nach der Republiksgründung verinnerlicht haben, in Frage zu stellen schien. Darum kann sie keinen Gottesstaat basierend auf der Scharia, wie sie im Iran oder Saudi-Arabien Anwendung findet, bevorzugen. Die türkische Regierungspartei forderte und fordert immer wieder ihre Gegner auf, doch bei den Wahlen anzutreten und sie zu besiegen, falls sie der Meinung seien, sie repräsentierten den Volkeswillen. Hierzu gibt es unzählige Links im Internet, die ich aus Zeitgründen, will schlafen gehen, nicht heraussuche. Auf Proteste reagiert sie stets mit dem Vorwurf, sie wollten die Niederlage an der Urne nicht akzeptieren.

Ein Scharia-Staat ist mit freien und geheimen Wahlen nicht vereinbar in der Realität. Siehe Iran, siehe Saud-Arabien, siehe die Golfstaaten etc. Das muss ich dir aber nicht erklären.

Ein solcher Staat steht zudem diametral den ökonomischen Vorstellungen und der politischen Ökonomie der AKP gegenüber. Ihr offen und sogar mit Stolz postuliertes neoliberales Wirtschaftskonzept ist in einem solchen sozial-politischen Gesellschaftsmilieu nur mit größter Mühe religiös zu legitimieren. Denn auch wenn Erdogan es nie zugeben würde, er ist auf dieses zinsbasierte System angewiesen. Schließlich ist die Türkei kein Rentenstaat.

Wahlen sind eine überaus - wirklich bedeutungsvolle - Legitimationsquelle der AKP gegenüber der politischen Opposition und der Weltöffentlichkeit + die neoliberale Wirtschaftsordnung sind die zwei Faktoren, die belegen, dass es Richtung Demokratie, die die islamischen Eigenarten der Türkei respektiert, geht; nicht, wie so oft behauptet, ein Scharia-Staat nach Vorbild der Saudis. Erdogan ist auch Realist. Er weiß, dass die Türkei so ein Abenteuer nicht unbeschadet überstehen würde.

Was die ideale Türkei in den Augen von Erdogan ist, ist einfach: so wehrhaft wie die USA, so verlässlich wie Deutschland, so traditionsbewusst wie Anatolien und so technologisch fortschrittlich wie Japan. Das fasst es gut zusammen. Das ist sein Ideal, eine wissenschaftliche, leistungsfähige und die Werte des Islam achtende junge Generation. Das drückt sich dann in diesem vermeintlichen Antagonismus zwischen vermehrten islamischen Gymnasien mit gleichzeitiger Hinwendung zu den vom Westen dominierten MINT-Fächern aus.

Die Türkei tickt einfach anders.

Zur Demokratie noch etwas Kurzes: in der Türkei wird nicht über die Existenz des demokratisch-republikanischen Systems gestritten, wie fälschlicherweise in den Medien oft dargestellt. Vielmehr wird darüber diskutiert, was Demokratie bedeutet und welches Verhältnis die Mehrheit zur Minderheit hat und vice versa. Die AKP vertritt eine radikaldemokratische Ansicht, heißt: wenn ich siege, darf ich bis zu den nächsten Wahlen auch tun, was ich will. Das ist ein riesiger Unterschied zu den arabischen Staaten und dem Iran, die teils nicht einmal das Prinzip der Wahlfreiheit umsetzen. Darum steht die Türkei auch im wahrsten Sinn des Wortes an der Schwelle zwischen konsolidierter Demokratie und dem russischen System unter Putin, der immer eine Mehrheit hat im Volk, und die von ihm abhängigen Oligarchen. Klar, im türkischen Kontext ist das etwas anders, aber es sind diese zwei Richtungen.
palulu
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Re: Türkei: Linksextremisten greifen wiederholt Nato-Soldate

Beitrag von palulu »

Attacke gegen US-Soldaten: Türkische Links-Nationalisten drohen bis zu 10 Jahren Haft
Deutsch Türkische Nachrichten | 05.12.14, 18:21

Eine Gruppe von zwölf Mitgliedern der links-kemalistischen Union der Türkischen Jugend (TGB), die Mitte November in Istanbul zwei Angehörige der US-Armee angegriffen haben, drohen nun zwischen einem und zehn Jahren Haft. Ihnen wird Beleidigung, Körperverletzung sowie Verletzung des Protests- und Versammlungsrechts vorgeworfen.

http://www.deutsch-tuerkische-nachricht ... hren-haft/
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