Tom Bombadil hat geschrieben:Wo genau siehst du Verständnis? Die Türkei ist souverän und kann Entscheidungen nach eigenem Ermessen treffen, ob die richtig oder falsch sind, steht auf einem anderen Blatt. Es ist doch offensichtlich, dass Erdogan die IS gewähren lässt, um die Kurden zu schwächen, für mich ist auch klar, dass er sich damit ins eigene Fleisch schneiden wird. Je länger die Kurden Erdogan den Gefallen tun und in einem aussichtslosen Kampf um eine für den Ausgang des Krieges bedeutungslose Stadt kämpfen und dadurch schwächer werden, desto mehr geht dessen Plan auf. Und nein, vom menschlichen Gesichtspunkt habe ich keinerlei Verständnis für Erdogan, eine Strategie zu analysieren und zu begreifen hat auch nichts mit Verständnis im Sinne von gutheißen zu tun.
Ihr Argument hat mich ueberzeugt. Da lag ich bei Ihnen wohl falsch.
Ich muss aber sagen das ich Ihre Strategie des Rueckzugs nicht teile.
Tom Bombadil hat geschrieben:Inwiefern wäre der Verlust der Stadt ein fataler Rückschritt für die Kurden? Was genau würde passieren? In der Stadt halten sich jetzt noch hunderttausende Kurden auf? Wohl kaum. Die sind jetzt schon heimatlos und selbst falls es gelingen sollte, die Stadt zu halten, ist diese immer noch zerstört und man hat viel Kraft gebraucht, um diese Schlacht zu gewinnen. Die IS ist dann aber immer noch da, immer noch stark und kann an anderer Stelle erneut zuschlagen. Manchmal ist es besser, sich zurück zu ziehen, seine Kräfte neu zu sammeln und einen Plan zu schmieden, wie man den Krieg gewinnen kann.
Ich hatte es schon beschrieben. Der Verlust des Kantons Kobane wuerde die beiden restlichen Kantone (auch wenn alle drei Enklaven sind) stark beeintraechtigen, da Kobane zwischen den beiden anderen Kantone liegt wuerden Entlastungsangriffe wegfallen, falls Kobane in der Hand der Jihadisten ist und diese dann das Kanton Efrin (westlich von Kobane) oder das Kanton Cizire (oestlich von Kobane) angreifen.
Ihre Frage zu den derzeitigen Fluechtlingen die heimatlos sind ist legitim,aber bei einer vollstaendigen Eroberung wuerde sich eine Reansiedlung dieser Fluechtlinge wohl auf Jahre verzoegern - selbst wenn man Kobane dann wieder zurueck erobert dauert es Wochen und Monate bis man die Umgebung von Minen und IED gesaeubert hat. Was glauben Sie tun die Kurden im Irak derzeit ?
Es vergeht kein Tag wo nicht ein toter oder verletzter Peshmerga vermeldet wird. Diese Peshmerga fallen nicht im Kampf, sondern sind Opfer dieser heimtueckischen IEDs. Die Jihadisten verstecken diese selbst gebastelten Bomben einfach ueberall. Die sind wirklich sehr einfallsreich, wenn es darum geht Menschen zu toeten. Die yezidische Kurdenstadt Shingal ist heute schon uebersaet mit IEDs, weil die Jihadisten wissen das sie auch bald diese Stadt raeumen muessen. Das wird lange dauern bis Menschen wieder dort leben koennen - deshalb waere ein Rueckzug aus Kobane fatal. Aber Sie haben schon Recht, so heikel wie in der Stadt Amirli ist es nicht, wo turkmenische Zivilisten vom IS umzingelt wurden - das stimmt schon.
JJazzGold hat geschrieben:Es wird wahrscheinlich daran liegen, dass ich mich zwangsläufig mit den Verhältnissen diverser Gruppen und Organisationen, abstarkt und live vor Ort, intensiver beschäftigen musste, als die meisten nur aus der Distanz Beobachtenden. An Ihr Wissen bezüglich kurdischer Verhältnisse und Geschichte komme ich bei Weitem nicht heran, deshalb lese ich Ihre Beiträge auch immer wieder gerne und möchte Ihnen an dieser Stelle ein Kompliment machen. Sie sind ohne Frage parteiisch pro kurdisch geprägt. Nichts desto trotz bemühen Sie sich erfolgreich um sachliche Darstellung, einschließlich kritischer Betrachtung beider Seiten. Das findet man in Foren nicht allzu oft, explizit wenn es um die "Verteidigung" eigener Interessen geht.
Ich gehe noch einen Schritt weiter als Sie, ich wünsche den Kurden ihren eigenen Staat, begründet auf die Erfahrungen, die ich in Kurdistan in vielen Gesprächen, Erlebnissen und Beobachtungen sammeln konnte. Meines Erachtens sind gerade die Kurden im Irak dazu geeignet einen friedlichen, wirtschaftlich stabilen Kurdenstaat etablieren zu können. In Syren betrachte ich die Lage etwas anders, dort lassen sich die Kurden in einem Kampf aufreiben, der auch ein Stellvertreterkampf ist. In eigenem Interesse, als auch im Interesse Dritter, wie Assad, Erdogan und last not least auch den westlichen Interessen. Ich habe zwar Verständnis für ihren verzweifelten Kampf, sehe aber mittelfristig wenig Erfolg auf die Möglichkeit, die autonomen Gebiete in ihrer bisherigen Form zu halten.
Ich hatte mir schon gedacht das Sie live vor Ort waren, Ihre Beitraege zeugen naemlich von teils detailierter Beobachtung. Ich wuerde jetzt auch nicht sagen das ich bezueglich der kurdischen Verhaeltnisse mehr Wissen haette, da Sie ja schon vorort waren. Manchmal ist es so, das Aussenstehende eine groessere und kritischere Uebersicht ueber die Verhaeltnisse haben als Einheimische, bedingt dadurch nicht voreingenommen zu sein. Ich zumindest versuche so gut wie es geht selbstkritisch zu argumentieren - das gelingt manchmal, manchmal auch nicht.
Der Stellvertreterkampf von dem Sie schreiben, also ja, damit haben Sie Recht. Die Kurden in Syrien tanzen derzeit auf vielen Hochzeiten ob das zum Erfolg fuehrt ? Ich weiss es nicht. Und genau hier faengt eben das selbstkritische Denken an. Vielleicht ist bei uns Kurden auch nur der Wunsch der Vater des Gedankens wenn es derzeit um "Rojava" geht.
Rojava bedeutet auf Kurdisch wortwoertlich "Westen". Damit ist aber eher Westkurdistan gemeint, was geographisch gesehen Nordostsyrien ist.
Make Kurdistan Free Again...