schokoschendrezki hat geschrieben:(17 Dec 2017, 09:59)
Es geht darum, dass es völlig legitim und intellektuell achtbar ist, die Positionen des Existenzialismus abzulehnen oder auch als irrelevant anzusehen. Aber eine geistig-philosophische Strömung, die derart nachhaltig die ganze zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts beeinflusste und die gerade heute wiederentdeckt wird als "Quatsch" zu bezeichnen ... das geht eben nicht. Was Du schreibst bestätigt nur noch einmal was ich schon weiter oben geschrieben habe: Dass der Freiheitsbegriff ambivalent ist. Die Unterscheidbarkeit von "Willensfreiheit" und "Handlungsfreiheit" steht zum Beispiel dafür. Die Aufklärung prägte die Vorstellung von Freiheit als "Grundrecht". Deine Formulierung "reale Freiheit" suggeriert, dass es eigentlich nur eine einzige Auslegung dafür gibt und alle anderen irreal sind. Sartre gibt zu - ich finde momentan die Quelle nicht - dass die
Handlungsfreiheit, zum Beispiel in diktatorischen Sysemen extrem eingeschränkt sein kann, dass es aber praktisch keine Situation gebe, in der der Mensch von seiner Verurteilung zur Entscheidungsfreiheit befreit sei. Und das schließt selbstverständlich auch die Situation ein, in der Todeszelle zu sitzen.
Mir geht es nicht um die Diskussion über den Existentialismus, sondern um die Phrasendrescherei. Einen Satz herauszugreifen und zu einer pseudo-philosophischen Parole zu verhunzen, hat nichts mit dem Existentialismus Sartres zu tun. Deswegen habe ich den Satz im Zusammenhang zitiert. Die Mühe des Abtippens hätte ich mir offensichtlich auch sparen können.
In der zitierten Stelle geht es nicht um einen bestimmten oder einen ambivalenten Freiheitsbegriff, sondern um gar keinen Freiheitsbegriff. Es geht um die Bedingung für die Freiheit - nach Sartre. Wenn es, wie Sartre behauptet, keine außerpersönliche Legitimation gibt, kann der Mensch sein Handeln eben nur durch sich selbst begründen und rechtfertigen. Das ist alles. Über die konkrete, praktische, angewandte, reale Freiheit ist damit nichts gesagt. Darauf hinzuweisen suggeriert nichts, sondern weist auf den Unterschied zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit hin. Mir zu unterstellen, ich würde damit eine "einzige Auslegung" suggerieren wollen, ist entweder eine vorsätzlich falsche Darstellung oder einfach nur Dummheit.
In der Todeszelle gibt es nichts zu entscheiden. Dein Verweis auf die Erzählung "Die Mauer" war einfach nur Käse. Einfach mal lesen.
Interessanter ist allerdings die Schrift "Ist der Existentialismus ein Humanismus?", aus der der zitierte Satz stammt.
Sartre behauptet, daß ein Arbeiter, der in eine christliche Gewerkschaft eintritt, nicht nur sich selbst bescheidet, sonder anzeigt: "ich will für
alle Selbstbescheidung üben, folglich hat mein Schritt die ganze Menschheit gebunden."
Gleich anschließend verpflichtet, wer heiratet, "die ganze Menschheit auf den Weg der Monogamie".
Ich finde das sehr beeindruckend, wie ohne jegliche Begründung die individuelle Entscheidung eines einzelnen Menschen zur Menschheitsfrage aufgeblasen wird. Das ist Religion und sonst gar nichts. Sartre rekurriert damit ja nicht auf den kategorischen Imperativ, wie einige Interpreten behaupten, weil er nicht eine verbindende Idee aufgreift wie Kant, sondern mit der Identität von Mensch und Menschheit ganz tief in die Traditionskiste greift.
"Whoever destroys a soul, it is considered as if he destroyed an entire world. And whoever saves a life, it is considered as if he saved an entire world."
Jerusalem Talmud, Sanhedrin 4:1 (22a)
http://talmud.faithweb.com/articles/schindler.html
Diese Identität findet sich auch im Koran, bezeichnenderweise in Bezug auf die Juden:
Sure 5 : 32
“Aus diesem Grunde haben Wir den Kindern Isrāʾīls vorgeschrieben : Wer ein menschliches Wesen tötet, ohne (daß es) einen Mord (begangen) oder auf der Erde Unheil gestiftet (hat), so ist es, als ob er alle Menschen getötet hätte. Und wer es am Leben erhält, so ist es, als ob er alle Menschen am Leben erhält."
Ob im mutmaßlichen Neo-Existentialismus diese Gleichsetzung vollzogen wird, wage ich zu bezweifeln.
Vermutlich wird es sich um einen "Existentialismus" für Leute handeln, die die Hülle für ihr iPhone so auswählen, daß das Apple-Logo sichtbar bleibt.