Die Schia

Moderator: Moderatoren Forum 8

Antworten
Benutzeravatar
Platon
Beiträge: 19503
Registriert: Sa 31. Mai 2008, 19:27
user title: Im Schützengraben d Geschichte

Die Schia

Beitrag von Platon »

Nach dem Erfolgsstrang Sufismus möchte ich in diesem einen weiteren "anderen" Islam thematisieren. Denn die westliche Sicht auf den Islam ist sehr stark "puritanisch"-sunnitisch geprägt, so daß Schiiten sehr schnell als "anders" erscheinen können und sie zu einem anderen Islam gehören, als den man so kennt.

Besonders interessant sind bei den Schiiten die religiösen Praktiken, aber auch die politische Dimension zum Einen in Hinsicht der islamischen Revolution im Iran 1979 welche zur Errichtung einer 12er-schiitischen Theokratie führte und das Thema des Schia Revival oder die Entstehung eines schiitischen Halbmondes besonders nach dem Irak-Krieg 2003.

Ich werde mich in meinen Ausführungen in erster Linie auf die 12er Schiiten beziehen.

Zunächst Was sind Schiiten?
Die Schiiten entstanden, wie die meisten wohl wissen, in der Frühzeit des Islam um die Frage wer der rechtmäßige Nachfolger von Mohammed als Führer der Umma sei. Entweder als Kalif oder in der schiitischen Tradition als Imam. Aus schiitischer Sicht war Ali der rechtmäßige Nachfolger, er stand jedoch hinter den drei ersten Kalifen Abu Bakr, Umar und Uthman zurück um den Frieden und die Einheit nicht zu gefährden. Als er dann aber als Vierter Kalif an der Reihe war, bekam er mit Muawiya - dem Gouverneur in Damaskus und Begründer der späteren Ummayaden-Dynastie - einen Konkurrenten. Der Höhepunkt der Auseinandersetzung beider Parteien war die Schlacht von Siffin die in einem Unentschieden endete, Ali wurde einige Zeit später ermordet - nicht von Muawiya, von einer anderen Gruppe - und in der Folge ernannte sich Muawiya zum Kalif. Der älteste Sohn von Ali, Hassan, verzichtete angesichts seiner Schwäche auf seinen Anspruch auf den Thron des Kalifen - er wird von den Schiiten als zweiter Imam verehrt.

Als dann allerdings der Sohn von Muawiya, Yazid, die Nachfolge als Kalif antrat brach der Streit wieder aus und der jüngere Bruder von Hassad, Hussein, erhob wieder Anspruch auf die Führung der Umma.
Hierzu wurde er von Anhängern in den Südirak gerufen um von dort den Ummayaden den Thron streitig zu machen. Hierzu brach er mit einem kleinen Heer, darunter Frauen und Kinder, von Mekka nach Kufa auf, wurde allerdings bei Kerbala von Truppen der Ummayaden gestellt. Diese Schlacht von Kerbala ist bis heute das Zentrum schiitischer Religiösität. Denn sie zog sich einige Zeit hin, mit der Zeit wurden die Truppen Husseins vom Wasser von Euphrat und Tigris abgeschnitten und man kämpfte bis zum letzten Mann, bis am Ende Hussein - durchlöchert von Pfeilen und bis zum letzten Atemzug heroisch kämpfend getötet wurde. Dabei kamen ihm diejenigen welche ihn in den Südirak gerufen haben nicht zur Hilfe und so konnte sich der aus schiitischer Sicht rechtmäßige Anspruch auf die Führung der Umma nicht durchsetzen. Der unrechtmäßige Herrscher Yazid hatte sich durch die Schwäche der Anhänger Alis - der Partei Alis, Schiat Ali - gegen den rechtmäßigen und wahren Herrscher durchsetzen können.

Vier Jahre später machte sich eine Schar von Büßern auf, dieses Unrecht zu sühnen, indem sie gegen die Ummayaden zogen. Dabei blieben sie auch einige Zeit in Kerbala am Grab von Hussein, um das geschehene Unrecht zu betrauern. Danach zogen sie weiter nach Syrien wo sie angesichts ihrer militärischen Unterlegenheit - die von vorne herein klar war - gnadenlos nieder gemetzelt wurden. Dieser Märtyrertod als Buße der unterlassenen Hilfeleistung bei der Schlacht von Kerbala bildete den Ausgangspunkt der Ashura-Festspiele in dem diese Buße seit nun über Tausend Jahren ritualisiert wiederholt wird.

In der Folge gab es noch weitere Imame welche allesamt direkte Nachfahren von Ali waren und damit zum Ahl al Bait gehörten. Angehörige/Leute des Hauses (des Propheten). Daraus entstand eine Doktrin des Imamat, nach der diese Imame Führer der wahren Umma, der nunmehr unter sunnitischer Mehrheit lebenden Anhänger der Partei Alis, über besonderes religiöses Wissen verfügten und selbst auch unfehlbar waren. Daraus entstand dann eine eigene Jurispundenz, welche sich von den sunnitischen Rechtsschulen unterscheidet und eine eigene Religiösität. Zum Beispiel werden die Imame als Heilige verehrt und ihre Grabstätten sind berühmte Pilgerstätten. Neben Kerbala, wo Hussein beerdigt wurde vor allem Najaf, mit dem Grab von Ali. Im Iran gilt Maschhad als Pilgerziel Nummer Eins, weil dort der achte Imam begraben sein soll. In Afghanistan ist es die blaue Moschee in Mazar e Scharif die ebenfalls ein Kandidat für die letzte Ruhestätte von Ali sein soll.
Es gibt dann auch eine Reihe von Gruppen unter den Schiiten je nachdem welche Imame sie anerkennen, wobei die 12er Schiiten die größte Gruppe sind. Daneben gibt es die Zaiditen, die Ismailiten und mit den Aleviten in der Türkei und Alawiten in Syrien nochmal Andere.



Nun zu einigen Videos von Ashura. Dabei geht es häufig sehr blutig zu, weil die religiöse Symbolik das verlangt. Die blutigen Hände, das blutüberströmte Gesicht und das blutbefleckte Hemd - alles Zeichen des Märtyrertods von Hussein. Auch gibt es Selbstkasteiungen um die Nichterfolgte Hilfeleistung bei Kerbala zu büßen, was dann naturgemäß auch sehr blutig werden kann.
Hier ein stimmungsvolles Video von Ashura in Kerbala.
[youtube][/youtube]

Aus Bahrain. Vorsicht! Es fließt sehr viel Blut!
[youtube][/youtube]

Afghnistan:

Iraq&Iran:

Libanon:


Bericht über Ashura von pressTV:
[youtube][/youtube]


Diese religiöse Symbolik spielte eine große Rolle während der islamischen Revolution 1979. Die meiste Zeit in den letzten 1400 Jahren waren die Schiiten eine Minderheit gewesen und hatten sich daher als Unterdrückte und Kämpfer für die Unterdrückten verstanden. Doch trotz allem wurde die meiste Zeit der Märtyrertod von Hussein und die schiitische Religiösität unpolitisch verstanden. Die schiitischen Kleriker verstanden bis in die 1960er Jahre hinein den Schiismus mehrheitlich als eine unpolitische Religion bzw. man war der Ansicht sich mit dem Herrscher einigen zu können. Jedoch gab es einige Leute welche dies insgesamt oder zu gewissen Zeitpunkten nicht so sahen und politisch aktiv wurden. So spielte 1891 Ayatollah Schirazi, welcher damals der angesehenste unter den Klerikern war, eine Schlüsselrolle bei den Tabak-Protesten als er eine entsprechende Fatwa veröffentlichte. In der konstitutionellen Revolution 1905-1911 spielten Kleriker auch eine gewisse Rolle und es gab in den 1950ern mit Kashani einen direkten Vorläufer Khomeinis.
Doch galt damals ein unpolitischer Kleriker Hussein Borujerdi als der Angesehendste unter den Großayatollahs im Iran. Aus diesem Grund konnten die politischen Kleriker wie u.A. Khomeini nur eingeschränkt in die Geschehnisse eingreifen. Erst nach dessen Tod 1961 hatte man dann freie Bahn.
Dabei zeigte sich etwas interessantes. Denn es kam zu einer Entritualisierung von Ashura. Für weite Teile der iranischen Bevölkerung spielte dabei Ali Schariati eine Hauptrolle, welcher einen revolutionären Schiismus propagierte und dabei Anlehnungen an linkes/marxistisches Gedankengut nahm, welches er sich in Paris angeeignet hatte. (Sartre, Franz Fanon u.A.) Von ihm wurde der Satz popularisiert:

Jeder Tag ist Ashura, jeder Ort ist Kerbala.

Der Kampf gegen den Ungerechten Herrscher sollte nicht rituell wiederholt sondern im hier und jetzt erfolgen. Die Bereitschaft zum Märtyrertum war dabei stets mitgedacht und natürlich war der Schah und seine ausländischen Stützen wie die USA und Israel als eben jener ungerechter Herrscher gegen den man zu kämpfen hatte. Für Khomeini war nun der Weg bereitet, welcher den Schah offen beschuldigte Yazid zu sein, gegen den man, im Sinne der Unterdrückten überall auf der Welt, aufstehen und kämpfen müsste.
Dies wurde dann später erweitert als Saddam zum Yazid mutierte und man nun tatsächlich auf dem Weg nach Kerbala sterben konnte. Hier vermischten sich dann nationalistische, anti-koloniale und schiitisch-islamische Inhalte zu einem Gemisch das man bis heute im Iran bewundern kann.
[youtube][/youtube]

Interessant ist, dass 2009 bei der grünen Revolution nun Khamenei zum Yazid wurde und auch dort die typischen schiitischen Symbole wie die grüne Farbe als Farbe des Islam und die eingefärbten/blutigen Hände und die blutigen Kleidungsstücke auftauchten.


Nun zum Schia Revival.
Die meiste Zeit in der islamischen Geschichte waren die Schiiten von der politischen Macht ausgeschlossen. Ausnahmen bildeten lediglich die Fatimiden in Ägypten und der Iran unter den Safawiden. In den letzten 40 Jahren hat sich das geändert. Neben der Revolution von 1979 und der Entstehung der Amal-Bewegung und später der Hisbollah im Libanon hat vor allem der Sturz von Saddam Hussein die Lage in der Region grundlegend verändert. Weil im Irak lebt eine schiitische Mehrheit, womit sie in einer Demokratie naturgemäß eine dominierende Rolle spielen. Anders als dies unter Saddam Hussein der Fall war, welcher den arabischen Nationalismus propagierte in dem Christen und Sunniten den Ton angaben. Schiiten hatten da wenig zu sagen.
Dazu kommt dann die Rivalität zwischen der islamischen Republik Iran und Saudi-Arabien, welches befürchtet von schiitischen Verbündeten des Iran eingekreist zu werden bzw. die Entstehung eines Schiitischen Halbmondes von Libanon (Hisbollah, Amal), über Syrien (Alawiten/Assad), Irak, Iran, Afghanistan (Hazara/Hizb e Wahdat) bis nach Jemen (Houthi-Aufstand). Dazu kommen die Schiiten im eigenen Land, welche im Zuge des arabischen Frühlings wieder vermehrt demonstrieren. Proteste in Saudi-Arabien 2011-2012
Dazu sind die Wahabiten und die von ihnen ideologisch und finanziell ausgestattenen Salafisten extrem anti-schiitisch eingestellt, was sich in Anschlägen auf Pilger in Pakistan, Afghanistan, Irak und auch Syrien immer wieder bemerkbar macht. Insbesondere im Irak sind dabei schon sehr viele Menschen umgekommen.

Ausgeführt wurde diese Geschichte im Buch The Shia Revival: How Conflicts within Islam Will Shape the Future
http://www.nytimes.com/2006/08/13/books ... nji.t.html

kurzer Al Jazeera-Bericht dazu:


uneingeschränkt sehenswert:
[youtube][/youtube]



Zum Ende des nun doch sehr langen Beitrags soll auch ein Reformer bei den Schiiten bzw. hier den 12er Schiiten nicht unerwähnt bleiben. Es handelt sich dabei um Abdolkarim Soroush, welcher als Liberaler mit säkular-pluralistischen Positionen gilt.
http://de.wikipedia.org/wiki/Abdolkarim_Soroush
[youtube][/youtube]

Zum Abschluss noch als Literaturhinweis für Leserinnen und Leser, welche sich ein wenig mehr Hintergrundwissen über die Schia, ihre Entstehung und Entwicklung anlesen wollen das ultimative Standartwerk zur Einführung in die Thematik:
Die Schiiten - Heinz Halm
Zuletzt geändert von Platon am So 5. Aug 2012, 20:08, insgesamt 6-mal geändert.
Dieser Beitrag ist sehr gut.
Benutzeravatar
NMA
Beiträge: 11636
Registriert: Mo 24. Mai 2010, 15:40
user title: Europa-Idealist
Wohnort: Franken

Re: Die Schia

Beitrag von NMA »

Was wäre dieses Unterforum nur ohne Platon? :thumbup:
Pulse of Europe
https://pulseofeurope.eu/de/

Weniger Klimaschutz wird teurer als mehr Klimaschutz!
Benutzeravatar
Katenberg
Beiträge: 12048
Registriert: Mo 12. Dez 2011, 20:06
user title: nationalliberal
Wohnort: Großherzogtum Hessen

Re: Die Schia

Beitrag von Katenberg »

Seeheimer » So 5. Aug 2012, 21:34 hat geschrieben:Was wäre dieses Unterforum nur ohne Platon? :thumbup:
Ein reines Gemetzel! :D
There was blood upon t risers
there were brains upon t chute
Intestines were a-dangling from his paratroopers suit
He was a mess, they picked him up
and poured him from his boots
And he ain't gonna jump no more
Benutzeravatar
Ferit
Beiträge: 2948
Registriert: Sa 31. Mai 2008, 19:16
user title: Prolet
Wohnort: Pacific Northwest

Re: Die Schia

Beitrag von Ferit »

Ich hätte da schon ein paar Fragen. Inwiefern unterscheidet sich das Gebet bzw. die Art wie sie das Gebet verrichten? Fasten Schiiten auch im Ramadan? Wenn ja, wie Sunniten? Kann / Darf ein Schiit einen Sunniten heiraten oder muss der Sunnit konvertieren?

Danke.
Zuletzt geändert von Ferit am Mo 6. Aug 2012, 18:22, insgesamt 1-mal geändert.
Benutzeravatar
Mithrandir
Beiträge: 5858
Registriert: Di 3. Jun 2008, 03:30

Re: Die Schia

Beitrag von Mithrandir »

Vielen Dank für die aufschlussreiche Erläuterung, Platon!
Das ist im Vergleich zu so manchen Hintergrundartikeln diverser Zeitungen deutlich interessanter.
Benutzeravatar
ralphon
Beiträge: 2748
Registriert: Sa 7. Jun 2008, 00:15
user title: Bier predigen, Wasser saufen

Re: Die Schia

Beitrag von ralphon »

Platon » So 5. Aug 2012, 19:49 hat geschrieben:... rechtmäßige Nachfolger
Papst. außerdem:
...unfehlbar...Imame als Heilige verehrt und ihre Grabstätten sind berühmte Pilgerstätten.
also: Schiiten = Katholen
Sunniten = Evangelen.

Warum haben die Schiiten irgendwann aufgehört, sich ihre Führer zu wählen?

Vom theologischen Selbstverständnis des Islam her ist der Schiitismus wirklich nicht puritanisch. Denn Mohammed galt als letzte einer Reihe von Propheten. Keiner der früheren Propheten hat jemals eine erbliche Dynastie gebildet.
Benutzeravatar
Platon
Beiträge: 19503
Registriert: Sa 31. Mai 2008, 19:27
user title: Im Schützengraben d Geschichte

Re: Die Schia

Beitrag von Platon »

ralphon » Mi 8. Aug 2012, 12:57 hat geschrieben:
Papst. außerdem:



also: Schiiten = Katholen
Sunniten = Evangelen.

Warum haben die Schiiten irgendwann aufgehört, sich ihre Führer zu wählen?

Vom theologischen Selbstverständnis des Islam her ist der Schiitismus wirklich nicht puritanisch. Denn Mohammed galt als letzte einer Reihe von Propheten. Keiner der früheren Propheten hat jemals eine erbliche Dynastie gebildet.
Man kann das nicht so leicht vergleichen, weil auch unter den Sunniten teilweise Heiligenverehrung und Pilgerfahrten zu Gräbern existiert hat und auch nach wie vor existiert. Das war dann so eine Art Volksislam, welcher auch lokale Traditionen aufgenommen hat und zumeist eng mit Sufi-Gruppen verknüpft ist. Die diversen Reformbewegungen - vor allem die Wahabiten - versuchen das aber zu unterbinden, weil sie ja einen reinen Islam schaffen wollen. Man kann das aber nicht auf alle Sunniten verallgemeinern.
Ein Beispiel die Geschichte in Timbuktu als die Salafisten-Eroberer diverse Kulturschätze zerstört haben, weil sie Gegenstand von Heiligenverehrung der Anwohner vor Ort waren.


Die Schiiten haben nicht gewählt sondern es galt das dynastische Prinzip - das ist ja der Knackpunkt bei der Sache - wobei es teils Streitigkeiten gab welcher Sohn nun Nachfolger sein soll. Irgendwann war bei den 12er Schiiten dann aber die Linie ausgestorben, weswegen man dann den Mahdi aus dem Hut gezaubert hat. Später kamen dann die Ulemas die sich aber auch erst vor 200-300 Jahren wirklich durchgesetzt haben.
Dieser Beitrag ist sehr gut.
Benutzeravatar
Liegestuhl
Moderator
Beiträge: 40973
Registriert: Mo 2. Jun 2008, 12:04
user title: Herzls Helfer
Wohnort: אולדנבורג

Re: Die Schia

Beitrag von Liegestuhl »

Sind die Alawiten nun eigentlich Schiiten oder nur der Schia nah?
Ich schulde dem Leben das Leuchten in meinen Augen.
Benutzeravatar
Liegestuhl
Moderator
Beiträge: 40973
Registriert: Mo 2. Jun 2008, 12:04
user title: Herzls Helfer
Wohnort: אולדנבורג

Re: Die Schia

Beitrag von Liegestuhl »

Liegestuhl » Mi 8. Aug 2012, 14:25 hat geschrieben:Sind die Alawiten nun eigentlich Schiiten oder nur der Schia nah?
Ich möchte das ungern ein zweites Mal fragen.
Ich schulde dem Leben das Leuchten in meinen Augen.
jabarin

Re: Die Schia

Beitrag von jabarin »

Liegestuhl » Mo 13. Aug 2012, 12:51 hat geschrieben:
Ich möchte das ungern ein zweites Mal fragen.
man merkt, die islamexperten hier können gar nicht an sich halten, um diese frage als erste zu beantworten... :D

nun, ich würde sagen, die frage hängt davon ab, wie man "shia" im einzelnen definiert und welchen wert man fremd- und eigenzuschreibungen beimisst.

ich würde behaupten, die alawiten sind shiiten.

wenn man shiiten simpel und ursprünglich als "anhänger alis" klassifiziert, dann sind alawiten shiiten - auch wenn sie in ihrer verehrung für ali aus sicht anderer shiiten wohl zu weit gehen.

die (meisten) alawiten sehen sich selbst als shiiten.
die (meisten zwölfer-)shiiten sehen sie als shiiten.
die (meisten) sunniten sehen sie als shiiten.

und "politisch" wurde die eigen- und fremdzuschreibung als "shiiten" in den letzten jahrzehnten noch eher verfestigt.

insofern kann man behaupten, sie sind shiiten. gegenwärtig jedenfalls - es mag durchaus sein, dass sie in ihrem selbstverständnis irgendwann zu einer anderen auffassung gelangen, ähnlich wie die drusen.
Benutzeravatar
Ferit
Beiträge: 2948
Registriert: Sa 31. Mai 2008, 19:16
user title: Prolet
Wohnort: Pacific Northwest

Re: Die Schia

Beitrag von Ferit »

Bezugnehmend auf dein Posting:
Platon » Mo 26. Aug 2013, 17:51 hat geschrieben: Ich habe in der letzten Zeit einiges zur Schia gelesen und werde demnächst in meinem Strang dazu, mal ein paar Beiträge zu diesem Thema schreiben. Da können wir ja dann mal ausdiskutieren, ob es wirklich nur ein "Sie missverstehen nur einiges" ist.

PS
Zu deinen Fragen im dortigen Strang übrigens: Die 12er-Schiiten fasten natürlich auch, sie fasten aber glaube ich länger, also nicht bis zum Beginn des Sonnenuntergang sondern Fastenbrechen ist erst, wenn die Sonne ganz weg ist. Beim Beten gibt es einige ganz kleine Unterschiede in den Bewegungen. Wie das mit dem Heiraten ist, weiß ich nicht und wüsste auch nicht, wo ich das nachschlagen sollte. Dieses Buch ist das einzige wirklich brauchbare Übersichtsbuch, wenn es um solche Sachen geht.
Zu den Schiiten. Sie sind klar Moslems, daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Im Laufe der Zeit entwickelten sie den Glauben an die Imame. Sie sind der festen Meinung, dass nur Ali und seine Nachkommen die Nachfolger des Propheten sein können. Daher lehnen sie die ersten drei Kalife (Abu Bakr, Omar und Osman) ab, da diese das Recht Alis auf die Nachfolgeschaft des Propheten beschnitten. Sie glauben ferner, dass Ali und die 12 Imame keine Sünden begehen und somit sündenfrei sind. Das ist eines der wichtigsten Unterschiede zwischen uns Sunniten und den Schiiten. Von der Ausübung der Religion her gibt es wenig Unterschiede. Schiiten glauben an den Koran und beten auch (namaz), sie fasten auch im Fastenmonat Ramadan.
Es gibt allerdings gewisse Unterschiede, was das Glaubensdogma angeht. Das sunnitische Glaubensdogma besteht aus:

- Glaube an Allah, den einen Gott
- Glaube an seine Engel
- Glaube an die heiligen Bücher
- Glaube an die Propheten
- Glaube an das jüngste Gericht
- Glaube an das Schicksal: ob gut oder schlecht, es ist allein von Allah vorherbestimmt.

Das schiitische Glaubensdogma ist etwas anders:

- Glaube an Allah, den einen Gott
- Glaube, dass Allah gerecht ist (dies zeigt sich laut Schiiten dadurch, dass Allah zu keinem Zeitpunkt die Menschen ohne Führung, ohne Propheten und ohne Imame belassen habe)
- Glaube an die Propheten
- Glaube an die Imame: Nach schiitischem Glauben sind der Prophet, dessen Tochter Fatima und die Imame (somit auch Ali) in religiöser Hinsicht unfehlbar und sündenlos. Aufgrund dieser beiden Eigenschaften sind diese auch nicht wie der Rest der Menschen aus Staub erschaffen worden, sondern aus Licht.
- Glaube an das jüngste Gericht

(vgl. hierzu auch diese Quelle: http://eine-menschheit.de/index.php?pag ... erschiiten )

Ebenfalls gibt es beim Glaubensbekenntnis Unterschiede. Schiiten fügen einen Zusatz hinzu: لا إله إلا الله‏محمد رسول الله‏علي ولي الله. Das ist ein Zusatz, der von Sunniten nicht gemacht wird.

Weitere Unterschiede:

- Bei Gefahr ist die taqiyya, die Täuschung / das Verbergen des Glaubens legitim.
- Schiiten haben auch eine Zeitehe, was von uns Sunniten klar abgelehnt wird.
- Beim Gebet legen Schiiten manche zusammen, sodass sie 3 mal am Tag beten, statt wie wir Sunniten 5 mal am Tag.

Ich hoffe, das beantwortet deine Frage, Platon. Aus obigen Unterschieden können wir nicht folgern, dass Schiiten keine Moslems sind. Sie sind in mancher Hinsicht im Irrglauben, möge Allah sie rechtschaffen leiten.
Benutzeravatar
Ferit
Beiträge: 2948
Registriert: Sa 31. Mai 2008, 19:16
user title: Prolet
Wohnort: Pacific Northwest

Re: Die Schia

Beitrag von Ferit »

Anders verhält es sich mit den Aleviten (nicht verwechseln mit den Alawiten und auch nicht mit den Alawiden).

Diese kommen den 5 Säulen des Islams in keiner Weise nach. Diese da wären:

- Das Glaubensbekenntnis
- Das rituelle Gebet (Namaz)
- Das Fasten im Ramadan
- Almosen geben (Zekât)
- Die Pilgerfahrt nach Mekka (Hac)

Wie können wir behaupten, dass Aleviten also Moslems sind, wo sie doch keine der Pflichten nachkommen? Aleviten sind keine Muslime, bei ihnen scheitert es sowohl am Glaubensdogma, als auch in ihrer Ausübung der islamischen Pflichten.
Benutzeravatar
Ferit
Beiträge: 2948
Registriert: Sa 31. Mai 2008, 19:16
user title: Prolet
Wohnort: Pacific Northwest

Re: Die Schia

Beitrag von Ferit »

Liegestuhl » Mo 13. Aug 2012, 13:51 hat geschrieben:
Ich möchte das ungern ein zweites Mal fragen.
Ich beantworte deine Frage auch gerne.
Alawiten

A., auch Nussairîya, schiit. Sekte mit weiter Verbreitung in Westsyrien und im Südosten der Türkei (Aleviten). Gegründet wurde dieser Zweig der extremen Schiiten Mitte des 9. Jh. im Irak durch Muhammad ibn Nussair an-Namîrî, der - gegen dessen Widerspruch - die göttliche Natur des zehnten schiit. Imâms Alî al-Hâdî verkündete und sich selbst zum Propheten erklärte. Die Doktrin der A. ist eine mythische Lehre von der Entstehung der Welt, in der dem Vetter und Schwiegersohn des Propheten, dem ersten Imâm der Schiiten, Alî ibn Abî Tâlib, göttlicher Charakter verliehen wird. Im Verlaufe der Geschichte gab es verschiedene alawit. Dynastien im Maghreb, Jemen, in Mekka, Nordiran und Andalusien. In Syrien sind seit 1966 alawit. Offiziere der Baath-Partei an der Macht, zu denen der amtierende Präsident Bashshâr al-Asad gehört.
http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/i ... 7/alawiten

Ihre Religion entwickelte sich aus der schiitischen Richtung des Islams. Die Göttlichkeit von irgendwelchen Personen hat nichts mit dem Islam zu tun und somit sind sie als Muslime klar abzulehnen.
Kavenzmann

Re: Die Schia

Beitrag von Kavenzmann »

Ferit » Montag 26. August 2013, 19:02 hat geschrieben:
[...] Weitere Unterschiede:

- Bei Gefahr ist die taqiyya, die Täuschung / das Verbergen des Glaubens legitim.
- Schiiten haben auch eine Zeitehe, was von uns Sunniten klar abgelehnt wird.
- Beim Gebet legen Schiiten manche zusammen, sodass sie 3 mal am Tag beten, statt wie wir Sunniten 5 mal am Tag.

Ich hoffe, das beantwortet deine Frage, Platon. Aus obigen Unterschieden können wir nicht folgern, dass Schiiten keine Moslems sind. Sie sind in mancher Hinsicht im Irrglauben, möge Allah sie rechtschaffen leiten.

Ach ja, erinnert mich ein bißchen an das Gezänk zwischen Katholiken, Lutheranern, Reformierten, Unierten, Baptisten, Anglikanern, Methodisten, Mennoniten oder Mormonen.
Nicht zu vergessen "Jehovas Zeugen".

Die sprechen sich auch gegenseitig den wahren Glauben ab. Und dann noch Rudolf Steiner.
Der hat ja mit seiner "Anthroposophie" das s.M.n. einzig wahre Superchristentum erfunden. :D

Wir können festhalten: der (sogenannte) "Islam" hat ein frühes Schisma, ähnlich dem der christlichen Kirche (lateinische vs. griechische Kirche 1054 n.d.Z.).
Beide weisen auch nach diesem Schisma weitere Zersplitterungen und Flügelkämpfe auf.

http://www.historeo.de/hintergrund/stroemungen-im-islam
http://religionv1.orf.at/projekt03/reli ... oemung.htm
Benutzeravatar
Ferit
Beiträge: 2948
Registriert: Sa 31. Mai 2008, 19:16
user title: Prolet
Wohnort: Pacific Northwest

Re: Die Schia

Beitrag von Ferit »

Kavenzmann » Mi 28. Aug 2013, 10:35 hat geschrieben:
Ach ja, erinnert mich ein bißchen an das Gezänk zwischen Katholiken, Lutheranern, Reformierten, Unierten, Baptisten, Anglikanern, Methodisten, Mennoniten oder Mormonen.
Nicht zu vergessen "Jehovas Zeugen".

Die sprechen sich auch gegenseitig den wahren Glauben ab. Und dann noch Rudolf Steiner.
Der hat ja mit seiner "Anthroposophie" das s.M.n. einzig wahre Superchristentum erfunden. :D

Wir können festhalten: der (sogenannte) "Islam" hat ein frühes Schisma, ähnlich dem der christlichen Kirche (lateinische vs. griechische Kirche 1054 n.d.Z.).
Beide weisen auch nach diesem Schisma weitere Zersplitterungen und Flügelkämpfe auf.

http://www.historeo.de/hintergrund/stroemungen-im-islam
http://religionv1.orf.at/projekt03/reli ... oemung.htm
Sehe ich genauso. Wie ist das im Judentum eigentlich? Ist zwar off-topic, interessiert mich aber. Gibt es da unterschiedliche Glaubensrichtungen?
Kavenzmann

Re: Die Schia

Beitrag von Kavenzmann »

Ferit » Mittwoch 28. August 2013, 11:28 hat geschrieben: Sehe ich genauso. Wie ist das im Judentum eigentlich? Ist zwar off-topic, interessiert mich aber. Gibt es da unterschiedliche Glaubensrichtungen?
In welcher Religion gäbe es keine unterschiedlichen Auslegungen und Richtungen?

Habe irgendwo eine schöne satirische Liste zu dieser Frage im Judentum, ist aber gerade nicht auffindbar.

http://www.talmud.de/cms/Was_ist_juedis ... 258.0.html
http://de.wikipedia.org/wiki/Judentum#R ... _Judentums
Benutzeravatar
Platon
Beiträge: 19503
Registriert: Sa 31. Mai 2008, 19:27
user title: Im Schützengraben d Geschichte

Re: Die Schia

Beitrag von Platon »

Hier mal mein Text über die Lehre des Imamats.
Das Imamat:

Das Imamat ist eine zentrale Lehre der Schia, welches sie wesentlich und grundlegend vom sunnitischen Mehrheitsislam unterscheidet und über das man auch einen Großteil der Schiitischen (Geistes-)Geschichte verstehen kann. Sie hat den 12er-Schiiten (Ithna-Ashariyya) auch ihren Namen gegeben, welche auch Immamiya genannt werden.
Ausformuliert wurde die Lehre im wesentlichen zur Zeit des fünften und ganz besonders des sechsten Imams Jafar as-Sadiq, auf den einen Großteil der entsprechenden Überlieferungen zurückgehen und der auch sonst eine herausragende Rolle in der Entwicklung der Schia gespielt hat.

Sunniten und Schiiten sind sich über die Natur des Prophetentums weitgehend einig. Demnach verkündet der Prophet das Gesetz Gottes und führt die Menschen zu Gott. Während die Sunniten glauben, dass beide Funktionen mit dem Prophetentum Mohammeds, welcher bekanntlich als das Siegel der Propheten angesehen wird, endet, sind die Schiiten der Ansicht die Imame würden weiterhin die zweite Aufgabe erfüllen. Sie sind dafür verantwortlich die Menschen zu Gott zu führen und das religiöse Gesetz zu erklären und autoritativ zu interpretieren. Der aktuell lebende Imam ist der Beweis und „Guide“ (Hadi) Gottes auf Erden und es muss auch immer einen Imam auf der Welt geben, andernfalls würde diese aufhören zu existieren. Auf Jafar as-Sadiq soll der Ausspruch zurückgehen, dass wenn auf der Welt nur zwei Menschen existieren würden, würde einer davon der Beweis Gottes, also ein Imam, sein. Der Islam geht bekanntermaßen von zyklischen Offenbarungen im Laufe der Geschichte aus, welche allerdings mit Mohammed und dem Islam geendet haben. Auch während dieser Zeit habe es immer Imame gegeben.
Der Imam ist also eine sehr zentrale religiöse Figur, welche göttlich inspiriert ist über besonderes religiöses Wissen ('ilm) verfügt, z.B. das Wissen über die inneren, verborgenen, allegorischen Inhalte des Korans, und die Führung der Gemeinde der Gläubigen übernimmt. Er ist den Propheten allerdings theologisch untergeordnet.

Der Imam wird durch seinen Vorgänger eingesetzt. (nass) Dabei gilt das dynastische Prinzip, dass der Imam ein Angehöriger des Hauses des Propheten (Ahl al Bayt) sein muss und zwar der Linie, die aus der Verbindung von Fatima und Hussein hervorgegangen ist. Für gewöhnlich setzt der Vater seinen ältesten Sohn als Nachfolger ein.
In der Praxis hat das aber nicht immer reibungslos funktioniert. So war im Falle des sechsten Imams Jafar as-Sadiq, zunächst sein Sohn Ismail als Nachfolger vorgesehen. Als dieser aber noch zu seinen Lebzeiten starb wurde nach Ansicht der 12er Schiiten daraufhin ein anderer Sohn Musa al-Kasim zum Imam, über dessen Nachkommen es dann weiterging. So entstanden nach dem Tod des sechsten Imams eine Reihe von Gruppen die unterschiedlicher Ansicht in diesem Punkt waren. Das führte zur Spaltung und heutzutage wird die Imam-Linie von den etwas irreführend 7er-Schiiten Bezeichneten über Ismail weitergeführt, weswegen sie auch Ismailiten genannt werden und sich mittlerweile auch selbst so bezeichnen.
Die 12er-Schiiten haben wieder aus dieser Entwicklung auch Theologische Rückschlüsse gezogen. Denn die Einsetzung des neuen Imams ist natürlich keine persönliche Entscheidung eines Menschen sondern letzten Endes göttlich inspiriert. Die Tatsache, dass ihrer Ansicht nach zunächst Ismail und dann Musa al-Kazim zum siebten Imam eingesetzt wurde, hat sie zu der Erkenntnis kommen lassen, dass Gott manchmal seine Meinung ändert.
Ein weiteres Problem ergab sich als nach dem elften Imam Hassan al-Askari kein männlicher Nachkomme existierte und wieder entstanden eine Unmenge an Gruppen, welche mit diesem Problem unterschiedlich umgingen. Am Ende setzte sich eine Strömung durch, welche der Ansicht war, es gäbe einen männlichen Nachkommen, Mohammed al-Mahdi, der allerdings in die Verborgenheit gegangen sei. Er ist der zwölfte Imam, deswegen auch der Name 12er-Schiiten, für die heutzutage größte Strömung der Schia.
Nach deren Meinung wurden auch alle Imame durch ihre Zeitgenossen ermordet, vorzugsweise wurden sie vergiftet, während der dritte Imam Hussein natürlich den Märtyrer-Tod vor Kerbala erlitten hat. Da die Imame bekanntlich alle frei von Sünden sind haben sie ihren Tod unschuldig erlitten, was die Sache noch viel schlimmer macht.

Mit der Entrückung des 12ten Imams, welcher bis heute noch irgendwo lebt, denn wie gesagt: es muss immer einen Imam auf Erden geben, begann nach der 12er-Schiitischen Überlieferung zunächst die Zeit der „kleinen Verborgenheit“. Zu dieser Zeit gab es noch das Amt eines Botschafters, Tors (Bab) oder Stellvertreters (Na'ib) des verborgenen Imams. Dieser stand in Kontakt mit diesem und konnte Nachrichten von ihm übermitteln. (z.B. in der Form handgeschriebener Briefe) Auch dieses Amt wurde von Vater zum Sohn übertragen, es endete allerdings nach der vierten Person, welcher einen Nachricht des verborgenen Imams übermittelte, dass nun keiner mehr in seinem Namen sprechen würde. Damit beginnt die Zeit der großen Verborgenheit, die nach allgemeiner Ansicht bis heute andauert und nach allgemeiner Vorstellung erst im apokalyptischen Zeitalter endet.

Es ist noch zu erwähnen, dass diese Lehren von der Verborgenheit (Ghayba) und Rückkehr (Raj'a) des verborgenen Imams bereits vorher im schiitischen Millieu präsent waren, Wann immer Zweifel aufkamen, wie die Imam-Linie nun weiter zu führen sei, erwies sich die Ansicht der Imam sei gar nicht tot sondern entrückt als mögliche Antwort. Die meisten dieser Grüppchen haben die Zeiten aber nicht überdauert.

Die 12 Imame bilden bei den 12er-Schiiten mit Fatima und Mohammed die so genannten 14 Unfehlbaren, deren Aussprüche und Taten die Grundlage des schiitischen Rechts bilden und welche dadurch stellenweise von Sunnitischem Recht abweicht.

Angesichts der Entrückung des aktuellen Imams stellte sich für die Gemeinde der 12er-Schiiten irgendwann die Frage, wer nun eigentlich die vakante Führung der Gemeinde der Gläubigen übernehmen sollte? Wer sollte die Menschen recht leiten, wer sollte administrative Aufgaben übernehmen, wer die religiöse Steuern eintreiben?
Das führte auf der einen Seite zur Herausbildung der schiitischen Gelehrsamkeit, welche mit der Zeit eine Funktion des verborgenen Imam nach der Anderen für sich in Anspruch nahmen, da sie als Experten des religiösen Rechts, der Überlieferungen und der dazu notwendigen Methoden der Erkenntnis (usul al-fiqh) dafür besonders qualifiziert seien. Ein Standpunkt der sich in letzter Konsequenz auch erst im 19ten Jahrhundert durchsetzte, gegen die rivalisierende Strömung der Akhbaris, welcher der Ansicht waren, jeder Mensch könnte durch das Lesen der Überlieferung zu religiösem Wissen gelangen.
Der vorläufige Endpunkt dieser Entwicklung ist die Theorie des Velayet-e-Faqih von Khomeini, in dem er auch die politische Führerschaft für die religiösen Gelehrten in Anspruch nahm. Etwas völlig Neues, da man zuvor jede politische Herrschaft, die nicht von einem Imam ausgeübt wird, grundsätzlich für unrechtmäßig angesehen hat und das damit Anderen überlassen konnte. Die Islamische Republik trägt dem heute insofern noch Rechnung, dass in der Verfassung der verborgene Imam als eigentlicher Herrscher des Staates genannt wird und die Ulemas lediglich als seine Stellvertreter (Na'ib) handeln.
Und es ist übrigens keineswegs so, dass diese Lehre von allen Schiitischen Gelehrten (vorbehaltlos) vertreten wird. Die politischen Umstände im Iran sind aber heutzutage nun einmal so wie sie sind.

Auf der anderen Seite gab es aber immer wieder auch Einzelpersonen, welche für sich in Anspruch nahmen Stellvertreter des oder der verborgene 12te Imam selbst zu sein. Ein sehr gutes Beispiel ist der so genannte Bab, der Mitte des 19ten Jahrhundert zunächst erklärte das Tor (Bab) zum verborgenen Imam zu sein und schließlich dieser selbst. Dies verband sich mit millenaristischen Vorstellungen vom baldigen Weltende und z.B. auch der Abrogation der Scharia. Das führte zu Aufständen in deren Folge die Bewegung fast vollständig vernichtet wurde. Die Reste der Bewegung wurden von einer weiteren charismatischen Führerfigur (Baha'ullah) schließlich in eine neue Religion, die Baha'i, überführt. Diese verstehen sich nicht mehr als Teil sondern als Nachfolgereligion des Islam. (siehe auch den Strang zu den Baha'i)
Ich werde in einem weiteren Beitrag noch versuchen zusammenfassen was es mit den anderen noch heute existierenden Gruppierungen auf sich hat, welche schiitisch sind bzw. zumindest aus der Schia entstanden sind. (Drusen, Alawiten, Aleviten, Ahl-i Haqq, Zaiditen, Ismailiten)
Zuletzt geändert von Platon am Mi 28. Aug 2013, 14:24, insgesamt 1-mal geändert.
Dieser Beitrag ist sehr gut.
Benutzeravatar
Lomond
Beiträge: 11136
Registriert: Mo 11. Okt 2010, 02:14
user title: Laird of Glencairn
Wohnort: Schottland

Re: Die Schia

Beitrag von Lomond »

Liegestuhl » Mi 8. Aug 2012, 14:25 hat geschrieben:Sind die Alawiten nun eigentlich Schiiten oder nur der Schia nah?

Ich sag mal so:


Macht aus den Schi-iten
gute Alewiten! :thumbup:
Non enim propter gloriam, divicias aut honores pugnamus set propter libertatem solummodo quam Nemo bonus nisi simul cum vita amittit.
Benutzeravatar
Antonius
Beiträge: 4740
Registriert: Mo 9. Jun 2008, 23:57
user title: SURSUM CORDA
Wohnort: BRD

Re: Die Schia

Beitrag von Antonius »

Lomond » Mo 2. Dez 2013, 10:24 hat geschrieben: Ich sag mal so:

Macht aus den Schi-iten
gute Alewiten! :thumbup:
Ja, dann wäre der erste Schritt zur notwendigen Reformation im Islam getan. :thumbup:
SAPERE AUDE - Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.
Immanuel Kant (1724-1804)
Benutzeravatar
PublicEye
Beiträge: 4019
Registriert: Di 13. Mär 2012, 23:57

Re: Die Schia

Beitrag von PublicEye »

Antonius » Sa 28. Dez 2013, 14:54 hat geschrieben: Ja, dann wäre der erste Schritt zur notwendigen Reformation im Islam getan. :thumbup:
Allerdings nur in einem kleinen Teil der islamischen Umma.
Benutzeravatar
Platon
Beiträge: 19503
Registriert: Sa 31. Mai 2008, 19:27
user title: Im Schützengraben d Geschichte

Re: Die Schia

Beitrag von Platon »

Eine Reportage über eine Veranstaltung von Schiiten in Deutschland.

[youtube][/youtube]
Dieser Beitrag ist sehr gut.
Benutzeravatar
Platon
Beiträge: 19503
Registriert: Sa 31. Mai 2008, 19:27
user title: Im Schützengraben d Geschichte

Re: Die Schia

Beitrag von Platon »

Videos eines schiitischen Gelehrten der im Iran eine religiöse Ausbildung durchlaufen hat und in Kalifornien, USA als schiitischer Gelehrter aktiv ist. Darin erklärt er die zentralen schiitischen Lehren in englischer Sprache.
[youtube][/youtube]
Youtube-Liste
Dieser Beitrag ist sehr gut.
Benutzeravatar
Platon
Beiträge: 19503
Registriert: Sa 31. Mai 2008, 19:27
user title: Im Schützengraben d Geschichte

Re: Die Schia

Beitrag von Platon »

überragender Beitrag des Users Platon zum Schia-Sunna-Konflikt
http://www.politik-forum.eu/viewtopic.p ... 7#p3112227

Möglicherweise kommt noch einer dazu mit diversen Videos in dem Wahabiten gegen die Schia polemisieren, wenn ich was finde auch in die andere Richtung.
Dieser Beitrag ist sehr gut.
Benutzeravatar
Platon
Beiträge: 19503
Registriert: Sa 31. Mai 2008, 19:27
user title: Im Schützengraben d Geschichte

Re: Die Schia

Beitrag von Platon »

Zuletzt geändert von Platon am So 25. Okt 2015, 20:11, insgesamt 1-mal geändert.
Dieser Beitrag ist sehr gut.
Marie-Luise

Re: Die Schia

Beitrag von Marie-Luise »


Wegen ihrer lautstarken Gebete zum Ashura-Fest haben Afghanen und andere Asylbewerber eine Massenschlägerei bei Meißen veranstaltet.

http://www.mdr.de/nachrichten/massensch ... 417e7.html
palulu
Beiträge: 4437
Registriert: Mo 2. Jun 2008, 15:14
user title: Ich mag Ostdeutsche

Re: Die Schia

Beitrag von palulu »

Man sollte erwähnen, dass diese Selbstverstümmelung tatsächlich auch in schiitischen Strömungen außerhalb des Irans vorkommen, aber sie dennoch und hauptsächlich etwas Iranspezifisches sind. In dieser Größenordnung zumindest.
Benutzeravatar
Platon
Beiträge: 19503
Registriert: Sa 31. Mai 2008, 19:27
user title: Im Schützengraben d Geschichte

Re: Die Schia

Beitrag von Platon »

palulu » So 25. Okt 2015, 21:28 hat geschrieben:Man sollte erwähnen, dass diese Selbstverstümmelung tatsächlich auch in schiitischen Strömungen außerhalb des Irans vorkommen, aber sie dennoch und hauptsächlich etwas Iranspezifisches sind. In dieser Größenordnung zumindest.
Selbstverstümmelung? :?:
Dieser Beitrag ist sehr gut.
palulu
Beiträge: 4437
Registriert: Mo 2. Jun 2008, 15:14
user title: Ich mag Ostdeutsche

Re: Die Schia

Beitrag von palulu »

Ich meinte die Selbstgeißelung.

(Auch von Kindern, Achtung, böse Bilder: http://www.express.co.uk/news/world/614 ... t-machetes)
Benutzeravatar
Platon
Beiträge: 19503
Registriert: Sa 31. Mai 2008, 19:27
user title: Im Schützengraben d Geschichte

Re: Die Schia

Beitrag von Platon »

palulu » So 25. Okt 2015, 21:31 hat geschrieben:Ich meinte die Selbstgeißelung.

(Auch von Kindern, Achtung, böse Bilder: http://www.express.co.uk/news/world/614 ... t-machetes)
Im Iran fließt kein Blut. Das wurde von den Mullahs aus Gründen ritueller Reinheit verboten. Das gibt es nur dort wo die Mullahs nicht dominant sind, d.h. Bahrain und Afghanistan. Die Selbstgeißelungen gibt es bei den 12er Schiiten seit 1000 Jahren und ist erstmals bei den Buyiden überliefert, gibt es überall.
Zuletzt geändert von Platon am So 25. Okt 2015, 20:38, insgesamt 1-mal geändert.
Dieser Beitrag ist sehr gut.
Benutzeravatar
Ammianus
Beiträge: 6080
Registriert: Sa 17. Dez 2011, 22:05

Re: Die Schia

Beitrag von Ammianus »

Meines Wissens haben sich sowohl Khomeini als auch Chamenei dagegen ausgesprochen.
"Ich möchte an einem Ort sein, an dem es keine Politik gibt, keine Waffen, keine Religion."
Libanesin Anfang August 2020
palulu
Beiträge: 4437
Registriert: Mo 2. Jun 2008, 15:14
user title: Ich mag Ostdeutsche

Re: Die Schia

Beitrag von palulu »

Es findet auch im Iran statt, inkl. dem Zufügen von Fleischwunden. Einfach nur mal googeln.
Benutzeravatar
Platon
Beiträge: 19503
Registriert: Sa 31. Mai 2008, 19:27
user title: Im Schützengraben d Geschichte

Re: Die Schia

Beitrag von Platon »

palulu » So 25. Okt 2015, 21:54 hat geschrieben:Es findet auch im Iran statt,
Natürlich. Ist ja eines der zentralen Rituale bei den 12er Schiiten.
inkl. dem Zufügen von Fleischwunden.
Das ist wie gesagt etwas, was ich bisher immer nur von außerhalb des Irans gehört habe. Besonders die Golfregion und Afghanistan. Das religiöse Establishment steht dem meines Wissens sehr kritisch gegenüber, u.A. weil es die Gläubigen wie Fanatiker darstellt und damit dem Ansehen der Religion schadet.

Siehe Fatwa Khamenei:
Subject: About Ashura-Rites 50694e
Date: 28.01.09

Question: 1) Is the matam/latm (e.g. self-flagellation) with knifes (zanjeerzani with knifes) allowed during mourning ceremonies for Imam Hussain (a.)?

2) Is the matam/latm (e.g. self-flagellation) in form of hitting a sword on the head (e.g. Tatbeer) allowed during mourning ceremonies for Imam Hussain (a.)?

Answer: Bismihi Ta`ala

1) If the use of such chains leads, in the eye of the public, to defaming our school of thought or inflicting a noticeable harmful effect on the body, it is not permissible.

2) 1) Qama zani (tatbeer) is absolutely impermissible. In addition to the fact that hitting oneself / head with swords is not held in the common view as manifestations of mourning and grief and it has no precedent at the lifetime of the Imams (a.s.) and even after that and we have not received any tradition quoted from the Infallibles (a.s.) to support this act, be it privately or publicly, this practice would, at the present time, give others a bad image of our school of thought. Therefore, there is no way that it can be considered permissible.
http://www.khamenei.de/fatwas/further.htm

Hier werden ähnliche Einschätzungen von zahlreichen anderen schiitischen Gelehrten angeführt:

http://tatbir.org/?page_id=98

Wie gesagt, die Mullahs mögen das nicht so und wo die stark und organisiert sind gibt es das auch nicht.
Einfach nur mal googeln.
Vor 2 Jahren war ich im Iran vor Ort und habe einige Prozessionen gesehen, da fließt kein Blut. Ich könnte mir das nur vorstellen, dass es das irgendwo in der Provinz gibt, wo die religiöse Bürokratie der Islamischen Republik nur unzureichend hinreicht und man das da "schon immer so" gemacht hat.
Zuletzt geändert von Platon am So 25. Okt 2015, 21:13, insgesamt 3-mal geändert.
Dieser Beitrag ist sehr gut.
Benutzeravatar
Platon
Beiträge: 19503
Registriert: Sa 31. Mai 2008, 19:27
user title: Im Schützengraben d Geschichte

Re: Die Schia

Beitrag von Platon »

Heute ist mal wieder Ashura, also der 10te Tag des islamischen Monats Muharram, an dem Husayn bei Kerbala den Märtyrertod gestorben ist.
Dieser Beitrag ist sehr gut.
Benutzeravatar
Kael
Beiträge: 1573
Registriert: Mo 24. Dez 2012, 17:59

Re: Die Schia

Beitrag von Kael »

Ich hab nen Kumpel der ist schiite, ich nenne ihn immer beuteosmane, dafür bin ich ne Kartoffel.
Die Beziehung funktioniert
Benutzeravatar
Antonius
Beiträge: 4740
Registriert: Mo 9. Jun 2008, 23:57
user title: SURSUM CORDA
Wohnort: BRD

Re: Die Schia

Beitrag von Antonius »

Platon hat geschrieben:(05 Aug 2012, 19:49)
(...)
Zum Abschluss noch als Literaturhinweis für Leserinnen und Leser, welche sich ein wenig mehr Hintergrundwissen über die Schia, ihre Entstehung und Entwicklung anlesen wollen das ultimative Standartwerk zur Einführung in die Thematik:
Die Schiiten - Heinz Halm
Wenn man die Beschreibung der Schia, die Du uns hier (dankenswerterweise) gegeben hast, liest, dann wird klar,
wie weit auch diese Richtung im Mohammedanismus von der Christlichen Lehre entfernt ist.
Seltsame Rituale wie die der Ashura, zeigen uns diese tiefe Kluft.
Es gibt keinerlei Berührungspunkte, und einmal mehr wird die geistige und spirituelle Dimension des Christlichen Abendlands deutlich.
SAPERE AUDE - Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.
Immanuel Kant (1724-1804)
Wasteland
Beiträge: 15939
Registriert: So 1. Jun 2008, 23:32
user title: Nil admirari

Re: Die Schia

Beitrag von Wasteland »

Im Irak gibt es das auch mit der Selbstgeisselung.
Benutzeravatar
Platon
Beiträge: 19503
Registriert: Sa 31. Mai 2008, 19:27
user title: Im Schützengraben d Geschichte

Re: Die Schia

Beitrag von Platon »

Antonius hat geschrieben:(11 Oct 2016, 10:54)

Wenn man die Beschreibung der Schia, die Du uns hier (dankenswerterweise) gegeben hast, liest, dann wird klar,
wie weit auch diese Richtung im Mohammedanismus von der Christlichen Lehre entfernt ist.
Seltsame Rituale wie die der Ashura, zeigen uns diese tiefe Kluft.
Es gibt keinerlei Berührungspunkte, und einmal mehr wird die geistige und spirituelle Dimension des Christlichen Abendlands deutlich.
Nun es gibt schon gewisse Paralellen.

Die Person des Hussein bzw. seine Märtyrergeschichte zeigt gewisse Ähnlichkeiten mit der Person von Jesus und der Passion. Die auffälligste Ähnlichkeit ist, dass beides als Angelpunkt der Weltgeschichte gesehen wird. Für die Schiiten ist das Ereignis der Höhepunkt der Theodizee, d.h. in diesem Ereignis hat sich in besonderer Weise die Ungerechtigkeit der Welt und die Unterdrückung der Wahrheit und des Rechts zum Ausdruck gebracht. Und es ist besonders der eigenen Erlösung zuträglich, wenn man dieses Ereignis betrauert. Analog zum inneren Glauben an Christus als Erlöser im Christentum. Trauer und Glauben.
Dazu sind beide Geschichten nach dem typischen Muster von Märtyrergeschichten konstruiert, mit Vorahnungen, Zweifeln und am Ende das Einsehen in die Unausweichlichkeit des Willen Gottes und der unbedingten Notwendigkeit den Märtyrertod zu sterben. Ich kann das jetzt nicht alles im Detail aus dem Gedächtnis aufzählen, aber es gibt schon auffällige Paralellen zwischen der Passion Christi und dem Märtyrertod von Hussein.
Das hat aber tendenziell damit zu tun, dass dort in der Region alle Heiligen- und Märtyrergeschichten ähnliche Elemente aufweisen.

Es gibt auch Paralellen zwischen der Verehrung von Maria der Mutter von Jesus und von Fatima der Mutter von Hussein. Denen beide durch ihre Rolle als Mütter und als herausragende spirituelle weibliche Personen große Verehrung zukommen.
https://en.wikipedia.org/wiki/Fatimah#Shia_view

Es gibt auch Ähnlichkeiten in der Spiritualität, die Bedeutung von Reliquien, von Gebeten, Amuletten und dergleichen.

In der Schia gibt es einen starken Einschlag von griechischer Philosophie im religiösen Denken, da man sich konstruktiv mit der Mutazila-Theologie auseinander gesetzt hat und die philosophische Tradition des Islam fortführt, wie ja auch im Christentum mit ihrer neoplatonischen Theologie und in beiden Religionen gibt es eine starke mystische Tradition.

Man könnte vielleicht auch die Rolle von Heiligen und Märtyrern im Katholizismus und die Rolle der Imame und späterer Märtyrer vergleichen und die damit zusammen hängende Verehrung an Schreinen und von Pilgerfahrten.

Es ist auch so, dass es gewisse Ähnlichkeiten in der Interpretation von Texten gibt, weil Christen lesen das alte Testament und schauen wo sie die Passion Christi unterbringen können, während die Schiiten den Koran lesen und nach Spuren der Imame suchen und entsprechend kommt es zu unterschiedlichen Interpretationen mit Juden bzw. Nicht-Schiiten, da Schiiten in bestimmte Verse ihre Imame hineinlesen, wie die Christen in bestimmte Stellen der Bibel ihren Jesus hineinlesen.

Es gibt also schon eine Menge Dinge die im Christentum, vor allem dem Katholizismus und bei den Schiiten ähnlich sind und man könnte hier von Berührungspunkten sprechen, gerade was die Spiritualität angeht, da bei beiden Religiösen Strömungen die Rolle von heiligen Personen ganz ganz wichtig und der Einfluss von neuplatonischen Vorstellungen vorhanden ist. Aber es sind natürlich zwei unterschiedliche Traditionen und es gibt auch wesentliche Unterschiede.
Zuletzt geändert von Platon am Di 11. Okt 2016, 12:03, insgesamt 2-mal geändert.
Dieser Beitrag ist sehr gut.
Benutzeravatar
Platon
Beiträge: 19503
Registriert: Sa 31. Mai 2008, 19:27
user title: Im Schützengraben d Geschichte

Re: Die Schia

Beitrag von Platon »

Wasteland hat geschrieben:(11 Oct 2016, 11:22)

Im Irak gibt es das auch mit der Selbstgeisselung.
Es gibt im Christentum, ich meine vor allem auf den Phillippinen, ja auch Leute die sich tatsächlich ans Kreuz nageln lassen um den Tod von Jesus besser nachvollziehen oder betrauern(?) zu können. Das erinnert schon stark an Ashura.

Auch historisch ist dem Christentum die Selbstgeißelung zur Vergebung der Sünde keineswegs fremd. Um etwas Anderes geht es zumindest im Endergebnis bei Ashura auch nicht, wenngleich es natürlich auch nicht exakt das Gleiche ist. Die Vorstellung durch das Zufügen von Schmerz für begangene Sünden zu büßen, ist aber schon vergleichbar.
https://de.wikipedia.org/wiki/Flagellanten
Dieser Beitrag ist sehr gut.
Benutzeravatar
Platon
Beiträge: 19503
Registriert: Sa 31. Mai 2008, 19:27
user title: Im Schützengraben d Geschichte

Re: Die Schia

Beitrag von Platon »

Ammianus hat geschrieben:(25 Oct 2015, 20:43)

Meines Wissens haben sich sowohl Khomeini als auch Chamenei dagegen ausgesprochen.
Revolutionsführer Khamenei hat heute seine entsprechende Fatwa noch einmal auf Facebook gepostet.
https://www.facebook.com/www.Khamenei.i ... =3&theater
Dieser Beitrag ist sehr gut.
Benutzeravatar
Antonius
Beiträge: 4740
Registriert: Mo 9. Jun 2008, 23:57
user title: SURSUM CORDA
Wohnort: BRD

Re: Die Schia

Beitrag von Antonius »

Platon hat geschrieben:(11 Oct 2016, 11:44)
Nun es gibt schon gewisse Paralellen.

Die Person des Hussein bzw. seine Märtyrergeschichte zeigt gewisse Ähnlichkeiten mit der Person von Jesus und der Passion. Die auffälligste Ähnlichkeit ist, dass beides als Angelpunkt der Weltgeschichte gesehen wird. Für die Schiiten ist das Ereignis der Höhepunkt der Theodizee, d.h. in diesem Ereignis hat sich in besonderer Weise die Ungerechtigkeit der Welt und die Unterdrückung der Wahrheit und des Rechts zum Ausdruck gebracht. Und es ist besonders der eigenen Erlösung zuträglich, wenn man dieses Ereignis betrauert. Analog zum inneren Glauben an Christus als Erlöser im Christentum. Trauer und Glauben.
Dazu sind beide Geschichten nach dem typischen Muster von Märtyrergeschichten konstruiert, mit Vorahnungen, Zweifeln und am Ende das Einsehen in die Unausweichlichkeit des Willen Gottes und der unbedingten Notwendigkeit den Märtyrertod zu sterben. Ich kann das jetzt nicht alles im Detail aus dem Gedächtnis aufzählen, aber es gibt schon auffällige Paralellen zwischen der Passion Christi und dem Märtyrertod von Hussein.
Das hat aber tendenziell damit zu tun, dass dort in der Region alle Heiligen- und Märtyrergeschichten ähnliche Elemente aufweisen.

Es gibt auch Paralellen zwischen der Verehrung von Maria der Mutter von Jesus und von Fatima der Mutter von Hussein. Denen beide durch ihre Rolle als Mütter und als herausragende spirituelle weibliche Personen große Verehrung zukommen.
https://en.wikipedia.org/wiki/Fatimah#Shia_view

Es gibt auch Ähnlichkeiten in der Spiritualität, die Bedeutung von Reliquien, von Gebeten, Amuletten und dergleichen.

In der Schia gibt es einen starken Einschlag von griechischer Philosophie im religiösen Denken, da man sich konstruktiv mit der Mutazila-Theologie auseinander gesetzt hat und die philosophische Tradition des Islam fortführt, wie ja auch im Christentum mit ihrer neoplatonischen Theologie und in beiden Religionen gibt es eine starke mystische Tradition.

Man könnte vielleicht auch die Rolle von Heiligen und Märtyrern im Katholizismus und die Rolle der Imame und späterer Märtyrer vergleichen und die damit zusammen hängende Verehrung an Schreinen und von Pilgerfahrten.

Es ist auch so, dass es gewisse Ähnlichkeiten in der Interpretation von Texten gibt, weil Christen lesen das alte Testament und schauen wo sie die Passion Christi unterbringen können, während die Schiiten den Koran lesen und nach Spuren der Imame suchen und entsprechend kommt es zu unterschiedlichen Interpretationen mit Juden bzw. Nicht-Schiiten, da Schiiten in bestimmte Verse ihre Imame hineinlesen, wie die Christen in bestimmte Stellen der Bibel ihren Jesus hineinlesen.

Es gibt also schon eine Menge Dinge die im Christentum, vor allem dem Katholizismus und bei den Schiiten ähnlich sind und man könnte hier von Berührungspunkten sprechen, gerade was die Spiritualität angeht, da bei beiden Religiösen Strömungen die Rolle von heiligen Personen ganz ganz wichtig und der Einfluss von neuplatonischen Vorstellungen vorhanden ist. Aber es sind natürlich zwei unterschiedliche Traditionen und es gibt auch wesentliche Unterschiede.
Ich denke nicht, daß die "Person des Hussein bzw. seine Märtyrergeschichte gewisse Ähnlichkeiten mit der Person von Jesus und der Passion" zeigt.
Beide Ereignisse mögen zwar "als Angelpunkt der Weltgeschichte gesehen" werden, dennoch sind sie - aus meiner Sicht - nicht vergleichbar.

Jesus Christus, der Gottessohn, verkündete eindeutig: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt"; und wies damit auf die höhrere metaphysische Ebene hin.
Hussein war, nach allem was ich weiß, eine politischer Führer, der eine irdische Machtposition anstrebte.

Zweifellos ist das Christentum vom Hellenismus mitgeprägt worden, vor allem was Vorstellung von der Rolle der Vernunft in der Religion betrifft.
Mission beispielsweise sei nur durch gutes Reden und Überzeugung möglich, keinesfalls durch Gewalt,
wie Papst Benedikt XVI. in seiner berühmten Vorlesung im September 2006 in der Aula der Universität Regensburg ausführte.
Die Ausbreitung des Islam erfolgte dagegen iaR durch Gewaltandrohung.

Auch zur Rolle der Heiligen habe ich meine Zweifel, ob sie ähnlich oder vergleichbar sind:
Der christliche Heilige hat sich durch seinen Lebenswandel für die Gemeinschaft in ethischer Hinsicht verdient gemacht,
während im Islam (auch in der Schia, soweit ich weiß) der "Djihad" immer noch hochgepriesen wird, leider.
In diesem Zusammenhang gehört auch, daß bestimmte Verkleidungsnormen, speziell auch im schiitischen Iran, durch den Staat gewaltsam durchgesetzt werden,
was dazu führt, daß die Befolgung dieser staatlichen Normen durch die Individuen nichts über deren religiöses Befinden aussagt,
wie Du selbst einmal ausgeführt hast, wenn ich mich recht entsinne.
SAPERE AUDE - Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.
Immanuel Kant (1724-1804)
Benutzeravatar
Antonius
Beiträge: 4740
Registriert: Mo 9. Jun 2008, 23:57
user title: SURSUM CORDA
Wohnort: BRD

Re: Die Schia

Beitrag von Antonius »

Platon hat geschrieben:(11 Oct 2016, 11:59)
Es gibt im Christentum, ich meine vor allem auf den Phillippinen, ja auch Leute die sich tatsächlich ans Kreuz nageln lassen um den Tod von Jesus besser nachvollziehen oder betrauern(?) zu können. Das erinnert schon stark an Ashura.
(...)
Das mag daran erinnern, hat aber nichts mit der Christlichen Lehre zu tun.
Aus meiner Sicht zweifellos ein Fehlverhalten!

Wir sollten nicht vergessen:
Nach Christlichen Lehre ist der Gottessohn Jesus Christus am dritten Tag wieder auferstanden; wir feiern Ostern.
SAPERE AUDE - Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.
Immanuel Kant (1724-1804)
Benutzeravatar
Kael
Beiträge: 1573
Registriert: Mo 24. Dez 2012, 17:59

Re: Die Schia

Beitrag von Kael »

Durch so etwas werden dritte aber nicht verletzt ;)
Benutzeravatar
Platon
Beiträge: 19503
Registriert: Sa 31. Mai 2008, 19:27
user title: Im Schützengraben d Geschichte

Re: Die Schia

Beitrag von Platon »

Einer der bekanntesten Besonderheiten im schiitischen Islam ist die Zeitehe, eine Ehe die für eine bestimmte Zeit geschlossen wird und nach Ablauf der Zeit ohne irgendeine Form der Scheidung endet.
Die Ehe ist im islamischen Recht ein Vertrag, in dem Mann und Frau in ein bestimmtes rechtliches Verhältnis, charakterisiert durch Rechte und Pflichten zueinander, treten und beide legal miteinander Sex haben können ohne sich dem Vorwurf der Unzucht auszusetzen. Ein Vorwurf der je nach jeweiliger Rechtsprechung harte Strafen bis hin zur Todesstrafe nach sich ziehen kann.

In der dauerhaften Ehe ohne zeitliche Begrenzung verpflichtet sich der Mann der Frau ein Brautgeld bezahlen, für ihren Unterhalt aufzukommen und es entsteht ein erbrechtlicher Anspruch beider Ehepartner füreinander. Wenngleich in vielen Fällen das Brautgeld nicht bezahlt wird, sondern als Druckmittel der Frau gegenüber ihrem Mann dient. Weil er ist verpflichtet es zu bezahlen und in nicht wenigen Fällen kann und will er das nicht.
Eine Ehe wird wie jeder Vertrag nach klassischem Recht abgeschlossen von zwei geschäftsfähigen Parteien. Das heißt die Volljährigkeit muss eingetreten sein und man muss geistig gesund sein. Wenn eine oder beide Parteien nicht volljährig sind, kann man eine Ehe über einen Vormund abschließen. Hier gibt es dann einige problematische Regelungen, wenn z.B. das Mädchen bereits in sehr jungen Jahren verheiratet wird, was in vormodernen Zeiten wohl durchaus sehr üblich war, weil damit ein Mund weniger zu stopfen ist. Heutzutage gibt es starke Unterschiede im Heiratsalter zwischen 9 Jahren, was im Jemen und ich meine auch Saudi Arabien als Beginn der Pubertät und damit frühestes Heiratsalter gesehen wird, und 18 Jahren (Tunesien, Marokko, Türkei). Im Iran liegt es, glaube ich, bei 13 für Mädchen und 15 für Jungen. Besonders problematisch kann es werden, wenn es um die Frage geht, ob die Frau einwilligen muss. Denn für den Fall einer nicht geschäftsfähigen Frau, d.h. einem minderjährigen Mädchen, für das ein Vormund eine Ehe abschließt, wird unter Umständen Schweigen als Zustimmung gewertet bzw. offenbar gibt es auch die Meinung man könne dann den erklärten Willen des Mädchen nicht verheiratet zu werden ignorieren. (siehe: Walī mudschbir) Und das ist dann genau der Fall, was als Kinderzwangsehen etc. bekannt und offenbar mit allgemein gültigen Vorstellungen von Menschenwürde und Menschenrechten nicht in Einklang zu bringen ist, wenn man meint das heute auch noch umsetzen zu müssen.
Die Frau ist gemäß dem klassischen Recht dem Mann zum Gehorsam verpflichtet, der unter Umständen Wohnort und den Umfang sozialer Aktivitäten bestimmen kann. In der heutigen Zeit ist das natürlich alles ein wenig anders, weil Frauen ökonomisch und sozial unabhängiger von ihrem Mann leben können und man unter dem Einfluss der modernen Welt und neuer Realitäten es die Unterordnung der Frau unter dem Mann, wie vor 500 oder 1000 Jahren, so nicht oder nur in Ausnahmefällen gibt. Das ist aber dann von Land zu Land und von Millieu zu Millieu stark unterschiedlich.
Dieses Ungleichgewicht zugunsten des Mannes im klassischen Eherecht kommt auch bei der Scheidung zum Tragen, da allein der Mann die Scheidung aussprechen kann. Die Frau hat allerdings die Möglichkeit sich mit dem Mann darauf zu einigen, dass sie ihm einen Vermögenswert gibt/überlässt, z.B. ihre Brautgabe und dieser dafür die Scheidung ausspricht. Es gibt auch die Möglichkeit bestimmte Umstände geltend zu machen um eine Ehe vor dem Richter annullieren zu lassen, wie Impotenz des Mannes, die Unfähigkeit oder fehlende Bereitschaft für den Unterhalt aufzukommen etc.
Es gibt also auch im klassischen islamischen Recht, Möglichkeiten bestimmte Härten für die Frau zu lindern. Dazu kommt es immer ganz stark auf die soziale Herkunft der Frau an, wenn eine Frau aus einer angesehen Familie kommt, hat sie natürlich ganz andere Möglichkeiten ihren Ehemann zur Räson zu bringen, als eine Frau ohne irgendwelche Verbindungen. Das der Mann aber rechtlich im Großen und Ganzen die bessere Stellung hat ist offenkundig.
Die moderne Gesetzgebung ist wie man bereits am Beispiel des Heiratsalters gesehen hat von Land zu Land stark unterschiedlich, teilweise finden sich moderne Auslegungen der Scharia, Übernahmen aus der westlichen Gesetzgebung oder eben auch noch vormoderne Regelungen des klassischen Rechts. Man sollte also bevor man sich zum Retter der muslimischen Frau aufschwingt erst einmal anschauen wie die moderne Gesetzgebung im jeweiligen Land denn tatsächlich aussieht. In Ländern wie dem Jemen dürfte man aber mit seiner Kritik zumeist richtig liegen.

Eine Doku über ein Scheidungsgericht im Iran und die dortigen Regeln:
[youtube][/youtube]

Der Witz bei einer Zeitehe ist nun, dass sie wie gesagt auf Zeit abgeschlossen wird, die Frau ihr Brautgeld bekommt, ihr allerdings keinerlei Unterhalt zusteht und kein erbrechtlicher Anspruch entsteht. Das heißt eine Zeitehe kommt den Mann im Normalfall günstiger. Und das ist dann auch genau der springende Punkt bei der Sache. Denn der Nutzen der Ehe wird heutzutage wie in der klassischen Literatur vor allem darin gesehen, dass Menschen eine Ehe schließen können, die die finanziellen Mittel für eine dauerhafte Ehe nicht haben. Es galt und gilt auch als eine Möglichkeit in seiner Jugend erste sexuelle Erfahrungen zu machen, ehe man sich dann in eine dauerhafte Ehe begibt. Gerade heutzutage ist das von Relevanz, da das tatsächliche durchschnittliche Heiratsalter im Iran bei 23 für Frauen und 27 für Männer liegt. [Quelle] Wenngleich es auch noch zahlreiche Kinderehen gibt (Quelle), ich vermute das ist alles stark Millieu-spezifisch. Es gibt dazu die Variante einer nicht-sexuellen Ehe, in der es nur um das gemeinsame Zusammenleben geht ohne sich dem Vorwurf der Unzucht auszusetzen.

Hier eine Arte-Doku zum Thema:
[youtube][/youtube]

Das sunnitische Recht lehnt die Zeitehe ab. Demnach wurde sie zwar in vorislamischer Zeit praktiziert bis in die Frühgeschichte des Islam hinein, wurde dann aber von Mohammed abgeschafft. Die Schiiten erklären, dass die Zeitehe nicht von Mohammed sondern vom zweiten Kalifen Omar abgeschafft wurde und dieser nicht für verboten erklären kann, was der Prophet des Islam erlaubt hat. Im Wikipedia-Artikel über die Zeitehe kann man die Details dieser Kontroverse nachlesen, auch wenn sich das ein wenig so liest als wenn ein Orientalistik-Student eine Zusammenfassung einer Hausarbeit bei Wikipedia gepostet hat.

Wenn man mehr darüber wissen will lohnt sich ein Blick in „Law of Desire: Temporary Marriage in Shi'i Iran“ (GoogleBooks, Amazon) in dem eine Autorin in den 1980ern Interviews im Iran geführt hat, um sich anzusehen, wie die Zeitehe in der sozialen Praxis nach der Islamischen Revolution 1979 gelebt wird.
Zuletzt geändert von Platon am Di 1. Nov 2016, 12:20, insgesamt 2-mal geändert.
Dieser Beitrag ist sehr gut.
Benutzeravatar
Platon
Beiträge: 19503
Registriert: Sa 31. Mai 2008, 19:27
user title: Im Schützengraben d Geschichte

Re: Die Schia

Beitrag von Platon »

Habe vorhin einen interessanten Artikel gelesen über iranische Exiltheologen, die mit kontroversen Thesen für Unruhe sorgen. Aber bevor ich erkläre worum es da geht, einige einführende Worte zur schiitischen Geistlichkeit.
Was hat es mit diesen Leuten auf sich? Es gab im 13ten Jahrhundert einen wichtigen schiitischen Gelehrten Allama Hilli (dt. der Großgelehrte von Hilla). Dieser hatte erklärt, wie man in Fragen zu denen in den religiösen Quellen (Koran und Hadith) keine eindeutige Antwort gegeben ist, zu einer religiös richtigen/wahren Ansicht kommen könnte. Hierzu müsse man eigenständige Rechtsfindung betreiben, was allerdings nur möglich sei, wenn man eine entsprechende Ausbildung durchlaufen habe, die einen dazu befähigt. Man erhält sie in einer schiitischen Hochschule, im Iran besonders prominent die Hochschule in Qom. Es gibt noch andere Einrichtungen in Teheran und Isfahan. Außerhalb des Iran vor allem die Hochschule in Najaf, Irak. Diese Studien können dann schon mal 20-30 Jahre dauern.
Grundlage ist die umfassende Kenntnis der arabischen Sprache und Grammatik um die religiösen Quellen und die theologischen Werke lesen und kompetent verstehen zu können. Dazu Kenntnisse der (aristotelischen) Logik um sauber zu argumentieren. Man liest die theologischen Standartwerke der Methoden der Rechtsfindung (usul al fiqh), der gültigen Rechtsmeinungen (furu al fiqh) und weiterer religiöser Disziplinen. Was man in moderner Zeit sehr viel macht ist westliche Philosophie (Heidegger, Freud) zu studieren, man setzt sich damit auseinander. Natürlich um am Ende die Wahrheit des Islam aufzuzeigen, indem man sie widerlegt oder einige ihrer Argumente und Begriffe übernimmt. Es gibt natürlich Internet und die Hochschule in Qom hat auch eine eigene Website. Man hat sich diese Seminare also nicht so vorzustellen, dass die dortigen Studenten und Professoren abgeschottet von der Welt leben und nur in ihrem eigenen Saft schmoren, ganz im Gegenteil! Das hat auch damit zu tun, dass die Islamische Republik als Herrschaft eben der schiitischen Rechtsgelehrten konstruiert ist. Man würde die Legitimation des politischen Systems untergraben, würde man sich die theologischen Hochschulen zum Feind machen, indem man sie übertrieben zensiert oder ihnen sonstwie auf die Nerven geht. Das führt dazu, dass gerade bei den Schiiten im Iran eine recht freie Atmosphäre herrscht und zahlreiche Reformtheologen des Islam in Qom studiert haben und auch politisch durch die Reformbewegung innerhalb des Systems wirksam wurden. Dabei handelt es sich um eine politische Strömung innerhalb der Islamischen Republik, die nach der Revolution 1979 zu den Unterstützern von Khomeini gehörten, später allerdings erklärten die Ideale der damaligen Revolution würden nur unzureichend umgesetzt und daher für eine Reform des politischen Systems, mehr Demokratie und mehr Menschenrechte eintreten. Einige Vertreter haben es damit dann übertrieben und mussten dann in Verbindung mit den Protesten 2009 ins Exil gehen. Einigen ihrer prominenten Vertreter war es möglich an westlichen Universitäten ein Auskommen zu finden und ihre Ideen dort weiter zu entwickeln und als Bücher und im Internet zu publizieren.

[youtube][/youtube]

Im eingangs erwähnten Artikel kann man nun lesen, dass die Thesen dieser Exiltheologen neue Reformideen propagieren und in den religiösen Institutionen im Iran von den Gelehrten diskutiert und natürlich nach Kräften widerlegt werden. Im konkreten Fall geht es um die These, dass Mohammed seine Offenbarungen im Traum erhalten habe soll.
[...]„Reich ohne Himmel“ lautet der Titel des Essays – eine religionshistorische Schrift, gerichtet an ein Fachpublikum. Erst in der Mitte des Textes erfährt der Leser, wo das besagte Reich liegt und warum ihm der Himmel abhanden gekommen ist. Der Autor erzählt dort von einer persönlichen Begegnung: Kürzlich habe ihn ein Gelehrter aus der heiligen iranischen Stadt Qom besucht und berichtet, dass inzwischen auch dort viele Geistliche der Meinung seien, der Koran sei eine Traumerzählung des Propheten. „Nun auch die Gelehrten?, fragte ich entrüstet meinen Besucher und wollte von ihm wissen, wie sie das begründen würden. Ganz einfach und nachvollziehbar, antwortete er: Etwas zu sehen oder zu hören, was andere nicht wahrnehmen, ist bekanntlich eine Krankheit. Behauptet jemand, er höre oder sehe im wachen Zustand etwas, was andere nicht vernehmen können, schicken wir ihn höchstwahrscheinlich in die Psychiaterie. Wenn wir annehmen, dass Mohammed – Friede sei mit ihm – in wachem Zustand die Koranverse hörte, während andere das nicht konnten, dann liegt – Gott behüte – ein Fall von Halluzination vor. Dann wäre der Prophet geisteskrank – und welcher Gelehrte käme auf solch einen schwachsinnigen Gedanken?“[...]
http://iranjournal.org/gesellschaft/ira ... chiitentum

Die These stammt ursprünglich von Abdolkarim Soroush und es soll am Ende darauf hinauslaufen, den Koran für eine historisierende Interpretation zu öffnen. Das heißt man versteht die Offenbarungen im Koran als in einer historischen Situation entstanden und kann dadurch dann argumentieren man wolle den Sinn einer bestimmten Regelung in dieser historischen Situation erkennen und diesen Sinn dann auch in der modernen Zeit umsetzen. Damit ist man natürlich schon sehr weit hin zu einer Reform und Modernisierung des Islam.
[...]Soroush schreibt: „Die Sprache des Koran ist rein menschlich und weltlich. Gott sprach nicht, er schrieb auch kein Buch. Es war ein historischer Mensch, der in Gottes Namen sprach. Und die göttliche Eingebung war nichts anderes als Mohammeds persönliche Erfahrung. Seine Beschreibung von Diesseits und Jenseits fußt ausschließlich auf seiner tribalen Erfahrung in Saudi-Arabien vor 1.400 Jahren.“ Nach Soroush ist der Koran ein genaues Spiegelbild von Mohammeds psychischer Verfassung. „Wir begegnen im Koran Höhepunkten und Niedergängen. Wo der Prophet sich wohlfühlt, ist auch der Text erbaulich, erreicht seine bewundernswerte Sprachgewalt und Eloquenz. Und umgekehrt, wo er banal und oberflächlich ist, zeugt er von der Niedergeschlagenheit und Bedrücktheit seines Autors.“ Mohammeds Wissen entspreche genau dem seiner Zeit, schreibt Soroush, und zählt „die sachlichen Fehler des Korans“ auf, über die man heute lachen könne: „Niemand glaubt heute noch, Meteoriten seien Teufelssteine, der Himmel besitze sieben Decken oder die Berührung des Teufels verursache Wahnsinn.“[...]
http://iranjournal.org/gesellschaft/ira ... iitentum/2

Er hat diese Idee vor allem über BBC Persia (persisch) verbreitet.
پرگار: "قرآن، رویاهای پیامبر؟" ، بخش اول
پرگار: "قرآن، رویاهای پیامبر؟"، بخش دوم
Text:
رویاهای رسولانه؛ زهی کرشمه خوابی که به ز بیداری ست
Wiederlegung von Großayatollah Naser Makarem Shirazi
پاسخ آیت الله مکارم شیرازی به سخنان عبدالکریم سروش
Dieser Beitrag ist sehr gut.
Benutzeravatar
Platon
Beiträge: 19503
Registriert: Sa 31. Mai 2008, 19:27
user title: Im Schützengraben d Geschichte

Re: Die Schia

Beitrag von Platon »

Heute ist wieder Aschura. Darum zwei Videos von Twitter.
1. Ein Sine-Zani, also ein "Brustschlagen" in einem iranischen Dorf Mohammad-Abad:

2. Das Herumziehen eines Wagens auf dem Allah, Mohammad, Ali und Fatima stehen in der Amir Chakhmaq-Moschee in Yazd:
Dieser Beitrag ist sehr gut.
Antworten