schokoschendrezki hat geschrieben:(20 Mar 2017, 14:25)
Auf europäische 1848-Helden wie General Bem, Lajos Kossuth oder Garibaldi berufen sich heute ebenso Nationalisten wie Europäer. Kossuth-Radio ist das größte ungarische Staatsradio und quasi die Orbán-Schnauze für stramm nationalistische und von nationalem Pathos nur so triefende Führeransprachen. Feiertage, nationales Pathos, Hymnen, Fahnen und Flaggen sind von jedem halbwegs mitdenkenden liberalen Individuum mit aller Konsequenz abzulehnen. Ohne ein kritisches Verhältnis zur eigenen Historie und ohne einen Verzicht auf Nationalpathos wird auch das ukrainische Volk kein angemessenes Verhältnis zu Leuten wie Bandera finden.
Die Nationalisten finden auch Beethoven gut oder die Sonne. Dennoch ist ein italienischer Flugzeugträger nach Garibaldi benannt und ein Symbol der Republik. Geschichtspolitik dreht sich immer darum, Symbole und Ereignisse im Sinne eines zu bestimmenden Narrativs zu deuten oder auszuwählen. Wenn man nun sagte, die Populisten wollen Beethoven für ihre
Geschichtspolitik haben, dann könnte man dem mit dem Argument nachgeben, das "liberale Individuum" Schokoschendrezkischer Prägung braucht ja auch diese Symbolik nicht. Das wäre aber völlig falsch, meiner Ansicht nach.
Der ehemalige Kulturchef vom SPIEGEL, Matussek, begrüßte es ausdrücklich, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt die Nationalflagge als Symbolik wieder dorthin zurück kehrte, wo sie seiner Meinung nach auch hingehöre, nämlich in die Mitte der Gesellschaft. Der Anlass damals war eine Fußballweltmeisterschaft.
Und so kann man es eben auch sehen - Deutungshoheiten muss man nicht den Rändern überlassen, man sollte es nicht mal.
Daher - klares Ja zur republikanischen Perspektive.
PS
Die Ukraine ist ein Sonderfall, da Revolution und Krieg ein besonderes Tempo verlangen, was die Geschichtsdeutung betrifft. Die Entsowjetisierung spielt da eine Rolle, die Idee der Einheit und die Vorstellung, auch für die Freiheit Europas zu kämpfen. Der Holodomor als alleiniger Gründungsmythos reichte da nicht mehr aus, jedenfalls ist sehr viel in Bewegung gekommen. Was dem hedonistisch-urban geprägten "Individuum" im Westen wohl am ehesten unverständlich erscheinen mag, ist der emanzipatorische Aspekt, der mit der Flaggensymbolik verknüpft wird. Das Entkommen aus dem ehemaligen "Völkergefängnis" wird sicher auch als identitätsstiftend verstanden, aber auch als Liberation im kämpferischen Sinne.
Es ist doch bezeichnend, dass eine ursprünglich eher unpolitische Tradition, das folkloristische Besticken von Hemdchen, mittlerweile als Symbol von Unabhängigkeit und Einigkeit gedeutet wird.
Aber, wie gesagt, ein Sonderfall.