Besinnung vieler auf alte Traditionen?

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Selina
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Selina »

pikant hat geschrieben:(09 Feb 2017, 11:03)

ich war in Russland in den 90er Jahren - was ich dort gesehen habe, war grosser Reichtum und viel Armut - an einer Ecke standen die Schwarzverkauefer mit den Zigarretten und an der anderen Seite die Nutten und ab und an hielten die grossen Schlitten und es wurde gekauft fast nur Westware!
ich hatte den Eindruck, dass die Kluft dort in Russland zwischen arm und reich viel groesser ist als in Deutschland und ja ich fuehlte mich nicht sicher.
war uebrigens in Moskau Stadt.
von Tradition damals auch nichts mehr zu sehen, denn die Traditionsdenkmaeler waren fast alle beschaedigt oder weg und die Stadt machte eine nicht sauberen Eindruck, aber an jeder Ecke Schwarzhaendler, Ganoven und ueberall Bettler und Arme zu sehen......
Stimmt. Diese Kluft zwischen Arm und Reich ist heute in Russland enorm hoch geworden. Gab es auch schon zu Sowjetzeiten, aber jetzt viel krasser. Ist in Moskau besonders deutlich zu sehen. Aber diese Traditionspflege im besten Wortsinne findet man dennoch auch noch, vor allem auf dem Lande und in den Familien, wo immer noch viel gesungen wird (nicht nur getrunken ;))
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schokoschendrezki
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Selina hat geschrieben:(09 Feb 2017, 10:56)
Nicht alles, was Putin macht, ist Machtkalkül. Die Russen haben ein ganz anderes Verhältnis zu ihrer Heimat, zum Teil stark romantisierend (bis hin zum Kitsch, siehe die ewigen mit Volksmusik untermalten Birkenwäldchen-Motive im Film), aber das ist alles ziemlich ehrlich und auch nachvollziehbar. Bei Besuchen hab ich das deutlich gespürt und mit Respekt zur Kenntnis genommen, auch wenn ich mir so etwas, die "tiefe Liebe zur Heimat", für mich selbst nicht vorstellen könnte in diesem emotionalen Ausmaß. Aber ehrlich ist das meistens bei denen gemeint. Zum Teil sogar liebenswert.
Dass das bei den Leuten ehrlich gemeint ist, bezweifle ich keinen Augenblick. Ebenso dass es bei Putin ausschließlich Machtkalkül ist.

Aber unabhängig davon: Das erste avantgardistische Bild der Moderne, das berühmte Schwarze Quadrat, ist von Kasimir Malewitsch, einem Russen und hängt in der Eremitage. Die erste avantgardistische Musik/Ballett-Aufführung, Le sacre du printemps ist von Igor Strawinsky, ebenfalls einem Russen. Avantgardistisches Theater beginnt mit Wsewolod Meyerhold, gleichfalls ein Russe. Ich könnte die Reihe noch lange fortsetzen. Man muss schon genau hinschauen. Ich lasse in meinem Internet-Radio zu sicher mindestens einem Drittel Musik der Richtung Russian Abstract/Experimental HipHop laufen. Es ist schier unglaublich, was Russland jenseits des mainstreams an kreativem künstlerischem Potenzial aufzuweisen hat. Was in Musik-Studios irgendwo im Lande, in Jekaterinenburg oder Krasnojarsk oder sonstwo ausgetüftelt und produziert wird. Ich würde es als "tiefe Kultur" bezeichnen.
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Selina
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Selina »

schokoschendrezki hat geschrieben:(09 Feb 2017, 11:16)

Dass das bei den Leuten ehrlich gemeint ist, bezweifle ich keinen Augenblick. Ebenso dass es bei Putin ausschließlich Machtkalkül ist.

Aber unabhängig davon: Das erste avantgardistische Bild der Moderne, das berühmte Schwarze Quadrat, ist von Kasimir Malewitsch, einem Russen und hängt in der Eremitage. Die erste avantgardistische Musik/Ballett-Aufführung, Le sacre du printemps ist von Igor Strawinsky, ebenfalls einem Russen. Avantgardistisches Theater beginnt mit Wsewolod Meyerhold, gleichfalls ein Russe. Ich könnte die Reihe noch lange fortsetzen. Man muss schon genau hinschauen. Ich lasse in meinem Internet-Radio zu sicher mindestens einem Drittel Musik der Richtung Russian Abstract/Experimental HipHop laufen. Es ist schier unglaublich, was Russland jenseits des mainstreams an kreativem künstlerischem Potenzial aufzuweisen hat. Was in Musik-Studios irgendwo im Lande, in Jekaterinenburg oder Krasnojarsk oder sonstwo ausgetüftelt und produziert wird. Ich würde es als "tiefe Kultur" bezeichnen.
Ja klar. Aber das eine schließt das andere nicht aus. Da hört einer seinen Strawinsky und danach singt er mit seiner Familie Volkslieder. Und ins Theater gehen die alle so oft, zumindest die, die es sich noch leisten können, dass deren Genusspalette durchaus von Klassik bis avantgardistisches Theater reicht.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Selina hat geschrieben:(09 Feb 2017, 11:26)

Ja klar. Aber das eine schließt das andere nicht aus. Da hört einer seinen Strawinsky und danach singt er mit seiner Familie Volkslieder. Und ins Theater gehen die alle so oft, zumindest die, die es sich noch leisten können, dass deren Genusspalette durchaus von Klassik bis avantgardistisches Theater reicht.
Naja, "avantgardistisches Theater" war sicher eher 20er Jahre Moskau und Petersburg bis Stalin. Ich habe das Beispiel "Meyerhold" eher angeführt, um den Unsinn dieser festen Assoziation "Russen" -> "Balalaika, Matroschkas, Wodka" aufbrechen zu helfen. Leute wie (Künstlername) "sclwn" (https://www.youtube.com/watch?v=xK6cNnLUD4g) sind ziemlich in der Realität von heute. Sie demonstrieren mit ihrer avantgardistischen Kunst, dass es gewissermaßen ein Entrinnen gibt. Man ist einer kulturellen Prägung nicht einfach ausgeliefert. Auch nicht im Südural. Man ist absolut frei.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Selina »

schokoschendrezki hat geschrieben:(09 Feb 2017, 11:39)

Naja, "avantgardistisches Theater" war sicher eher 20er Jahre Moskau und Petersburg bis Stalin. Ich habe das Beispiel "Meyerhold" eher angeführt, um den Unsinn dieser festen Assoziation "Russen" -> "Balalaika, Matroschkas, Wodka" aufbrechen zu helfen. Leute wie (Künstlername) "sclwn" (https://www.youtube.com/watch?v=xK6cNnLUD4g) sind ziemlich in der Realität von heute. Sie demonstrieren mit ihrer avantgardistischen Kunst, dass es gewissermaßen ein Entrinnen gibt. Man ist einer kulturellen Prägung nicht einfach ausgeliefert. Auch nicht im Südural. Man ist absolut frei.
Ja klar, das hab ich schon verstanden, wie du das Theaterbeispiel gemeint hattest. Und ich fügte halt hinzu, dass es diese ganze Palette "von bis" gibt. Die haben gerade in Moskau dermaßen viele Theater, das reicht auch bis zu experimentellen und Off-Theatern. Und man kann, wie du schreibst, der Heimattümelei schon entrinnen, sofern man will. Aber nicht alle sehen das als sich gegenseitig völlig ausschließende Angelegenheiten. Da passen oft die scheinbar konträrsten Dinge ziemlich gut zusammen. Auch Mentalitätsfragen spielen eine Rolle. Und natürlich in diesem Riesenland auch territoriale Unterschiede. Schlimm nur, dass Kunst und Kultur für die Leute eben auch immer unerschwinglicher werden. Btw: Russland nur immer als Diktatur und Autokratie zu sehen, wo die "unterdrückten" Menschen unbedingt etwas bräuchten, mit dem sie einen Hauch "westlicher Freiheit" genießen könnten, das ist mir zu kurz gesprungen.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(08 Feb 2017, 12:37)

Ich wüßte kaum etwas politisch-idologischeres als ein "Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit" als eine unhinterfragbare und bedingungslose anthropologische Konstante vorauszusetzen. Dazu muss man noch nicht einmal großartig akademisch Wälzer hinterfragen. Schon der wikipedia-Eintrag zum Begriff "Grundbedürfnis" beginnt so:

(https://de.wikipedia.org/wiki/Grundbed%C3%BCrfnis)
Kurz und knapp und aufs Wesentliche beschränkt.
Aber selbstverständlich haben Menschen ein Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe - das hat weder etwas mit Politik, noch mit Ideologie zu tun.
Menschen sind soziale Wesen, sie sind ohne eine Gruppe, der sie sich zugehörig fühlen und von der sie anerkannt werden, gar nicht überlebensfähig.
Das wird dir jeder Soziologe bestätigen.

Identität ist ein Akt sozialer Konstruktion: Die eigene Person oder eine andere Person wird in einem Bedeutungsnetz erfaßt. Die Frage nach der Identität hat eine universelle und eine kulturell-spezifische Dimensionierung. Es geht immer um die Herstellung einer Passung zwischen dem subjektiven "Innen" und dem gesellschaftlichen "Außen", also um die Produktion einer individuellen sozialen Verortung. Die Notwendigkeit zur individuellen Identitätskonstruktion verweist auf das menschliche Grundbedürfnis nach Anerkennung und Zugehörigkeit. Es soll dem anthropologisch als "Mängelwesen" bestimmbaren Subjekt eine Selbstverortung ermöglichen, liefert eine individuelle Sinnbestimmung, soll den individuellen Bedürfnissen sozial akzeptable Formen der Befriedigung eröffnen. Identität bildet ein selbstreflexives Scharnier zwischen der inneren und der äußeren Welt. Genau in dieser Funktion wird der Doppelcharakter von Identität sichtbar: Sie soll einerseits das unverwechselbar Individuelle, aber auch das sozial Akzeptable darstellbar machen. Insofern stellt sie immer eine Kompromißbildung zwischen "Eigensinn" und Anpassung dar. Das Problem der "Gleichheit in der Verschiedenheit" beherrscht auch die aktuellen Identitätstheorien.

Du solltest mal aufhören, alles was nicht deiner persönlichen Sichtweise entspricht als "politisch-ideologisch" abzuqualifizieren und/oder "eindeutig im rechten politischen Spektrum zu verorten".
Vielleicht solltest du dir zuerst einmal den zitierten Link durchlesen, da werden verschiedene Identitätstheorien (und zwar von Soziologen und Psychologen, nicht von Ideologen) angerissen, weiterhin würde ich dir empfehlen, dich mal hier oder hier zu informieren.
Und noch etwas: es gibt nicht eine allgemeingültige Identitätstheorie, sondern es gibt viele, aber eines haben alle gemeinsam - sie betonen die soziale/gesellschaftliche Komponente bei der Entwicklung der idividuellen Identität.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(09 Feb 2017, 12:38)
Du solltest mal aufhören, alles was nicht deiner persönlichen Sichtweise entspricht als "politisch-ideologisch" abzuqualifizieren und/oder "eindeutig im rechten politischen Spektrum zu verorten".
Vielleicht solltest du dir zuerst einmal den zitierten Link durchlesen, da werden verschiedene Identitätstheorien (und zwar von Soziologen und Psychologen, nicht von Ideologen) angerissen, weiterhin würde ich dir empfehlen, dich mal hier oder hier zu informieren.
Ich habe mir den (sehr guten) verlinkten Artikel sogar sehr genau durchgelesen und Dir mit einem Hinweis auf die (für mich jedenfalls) entscheidende Passage auch schon geantwortet: http://www.politik-forum.eu/viewtopic.p ... 0#p3815660
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(09 Feb 2017, 10:21)

Damit hast Du aber eigentlich nur sozusagen den "bis-vor-kurzem-Stand" in dem eigentlich sehr sehr guten verlinkten Artikel von Heiner Keupp umschrieben. Nur einen Absatz danach heißt es:



Und damit sind wir bei einem Gegenwartsmodell zur Frage der Identität, das sowohl bei dem Buch von Spitta als auch in dem (nun schon gelaufenen) dradio-Beitrag der Reihe "Essay und Diskurs" ("Der Mythos von der kulturellen Identität") als auch in vielen anderen Beiträgen entwickelt wurde: Auf der Suche nach einer einheitlichen, stabilen und (meinetwegen per "Erziehung" vermittelbaren) kulturellen Identität stellt man immer nur Dynamik, Veränderung, Instabilität fest und arbeitet sich sukzessive rückwärts bis man sich einen imaginären, ahistorischen, entpolitisierten Kulturraum "erarbeitet" hat. Bei Heinrichs ist das die "vorgängige Einheit der alten Deutschen", bei Putin "Mütterchen Russland", bei Pegida das "Abendland", bei Orbán das Ungarn der Landnahme 897 und bei den meisten Menschen die bekannte sogenannte "gute alte Zeit". In allen diesen Fällen handelt es sich weitestgehend natürlich um Fiktionen. Das könnte man alles noch paradox und belustigend finden. Wenn es nicht permanent und zum Teil in übelster Weise politisch instrumentalisiert werden würde.
Es gibt bei Identitätstheorien keinen "bis-vor-kurzem-Stand" ==> siehe Links im voran gegangenen Beitrag und es gibt auch kein Gegenwartsmodell, weil es keine einehitliche, allgemeingültige Identitätstheorie gibt, sondern viele verschiedene.
Alle diese Identitätstheorien haben Vorzüge und Mängel, geben Antworten und lassen Fragen unbeantwortet, weisen Widersprüche und neue Fragen auf.
Und aus diesem Grund ist auch keine der Identitätstheorien bisher (endgültig) widerlegt.
Die Behauptung, es gäbe ein allgemeingültiges Gegenwartsmodell zur Identitätsbildung/-entwicklung und die Behauptung "kulturelle Identiät sei ein Mythos" sind Ideologie und nichts weiter, weil da die Deutungshoheit und der Besitz einer allgemeingültigen Wahrheit beansprucht werden, was in den verschiedenen Identitätstheorien nicht der Fall ist.
Insbesondere Spitta hat keinerlei empirische Forschung betrieben, kann auf keinerlei Studien und deren Analyse verweisen - sie geht einzig vom Standpunkt des Dekonstruktivismus (des "Diskurses") an das Thema Identität/Identitätsentwicklung heran. Gleiches gilt für Daniel Hornuff.
Beide Spitta und Hornuff sind keine Soziologen oder Psychologen - sie sind fachfremd - erlauben sich aber dennoch ein Urteil darüber, was denn Identität ist, was sie ausmacht und wie sich Identität entwickelt und das ist ganz eindeutig Ideologie!
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(09 Feb 2017, 12:38)

Aber selbstverständlich haben Menschen ein Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe - das hat weder etwas mit Politik, noch mit Ideologie zu tun.
Menschen sind soziale Wesen, sie sind ohne eine Gruppe, der sie sich zugehörig fühlen und von der sie anerkannt werden, gar nicht überlebensfähig.
Das wird dir jeder Soziologe bestätigen.
Das bestreite weder ich noch wird das in einem der von mir verwiesenen Beiträge bestritten. Im Gegenteil. Die durchschnittlich tatsächlich eher linksliberal eingestellten Menschen, die eine anti-identitäre, anti-kulturalistische Position vertreten, ist die Notwendigkeit sozialer Zugehörigkeit, die Einbettung in soziale Sicherungssysteme, die Freiheit von existenzieller Armut usw. vielleicht noch bewusster als den Kulturalisten. Es sind aber Gemeinschaften jenseits von Identität. Das ist sehr sehr wichtig. Eine der universellen Grundwerte besagt, dass die Menschenwürde unabhängig von individuellen Einstellungen, Vorlieben, Geschlecht, Ethnie ist und jedem gleichermaßen zukommt. Noch einmal Giorgio Agamben (Klappentext zu "Die kommende Gemeinschaft"):
Das kommende Sein ist weder individuell noch allgemein, sondern beliebig. Singulär, doch ohne Identität. Bestimmt, doch nur im leeren Raum des Beispiels. Und dennoch weder allgemein- noch gleichgültig: es ist im Gegenteil solcherart, dass es immer angeht. Es ist der eigentliche Gegenstand der Liebe. Seine Logik: die Paradoxa der Mengenlehre, die Ununterscheidbarkeit einer Klasse von ihren Elementen, einer Sache von ihrer Bezeichnung. Seine Ethik: einzig die eigene Seinsweise sein, nichts vermögen als die eigene Möglichkeit oder Potenz, die Sprache als solche erfahren. Seine Politik: eine Gemeinschaft ohne jede Voraussetzung oder Bedingung der Zugehörigkeit (italienisch, rot, moslemisch, kommunistisch sein) zu bilden, der unwiderrufliche Auszug aus dem Staat, die Konstruktion eines mitteilbaren Körpers.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Selina »

schokoschendrezki hat geschrieben:(09 Feb 2017, 13:10)

Das bestreite weder ich noch wird das in einem der von mir verwiesenen Beiträge bestritten. Im Gegenteil. Die durchschnittlich tatsächlich eher linksliberal eingestellten Menschen, die eine anti-identitäre, anti-kulturalistische Position vertreten, ist die Notwendigkeit sozialer Zugehörigkeit, die Einbettung in soziale Sicherungssysteme, die Freiheit von existenzieller Armut usw. vielleicht noch bewusster als den Kulturalisten. Es sind aber Gemeinschaften jenseits von Identität. Das ist sehr sehr wichtig. Eine der universellen Grundwerte besagt, dass die Menschenwürde unabhängig von individuellen Einstellungen, Vorlieben, Geschlecht, Ethnie ist und jedem gleichermaßen zukommt.
:thumbup: Außerdem begreife ich ehrlich gesagt nicht, warum gerade bei der Diskussion über "Gemeinschaft" und "Identität" die Forderung immer so laut wird: Bitte keine Politik, keine Ideologie (Dark Angel). Meines Erachtens können solche Debatten nicht in irgendeinem luftleeren Raum geführt werden. Zumal das ja ein Politik-Forum für jedermann ist. Jeder sieht doch, wie solche Begriffe politisch und ideologisch gebraucht und missbraucht werden. Vielleicht sollten wir uns genau darüber unterhalten: Mit welchem Hintergrund und welcher politischen Absicht wird dieser oder jener Begriff heute interpretiert und eingesetzt? Fände ich fast noch spannender solch eine Diskussion.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(09 Feb 2017, 13:07)
Es gibt bei Identitätstheorien keinen "bis-vor-kurzem-Stand" ==> siehe Links im voran gegangenen Beitrag und es gibt auch kein Gegenwartsmodell, weil es keine einehitliche, allgemeingültige Identitätstheorie gibt, sondern viele verschiedene.
Alle diese Identitätstheorien haben Vorzüge und Mängel, geben Antworten und lassen Fragen unbeantwortet, weisen Widersprüche und neue Fragen auf.
Und aus diesem Grund ist auch keine der Identitätstheorien bisher (endgültig) widerlegt.
Das ist richtig. Nur: Die Realität, der sich diese Theorien zu widmen haben, haben einen bis-vor-kurzem-Stand. Einen Wendepunkt. Deshalb sicher sind diese Theorien (bislang) auch nicht einheitlich.
Die Behauptung, es gäbe ein allgemeingültiges Gegenwartsmodell zur Identitätsbildung/-entwicklung und die Behauptung "kulturelle Identiät sei ein Mythos" sind Ideologie und nichts weiter, weil da die Deutungshoheit und der Besitz einer allgemeingültigen Wahrheit beansprucht werden, was in den verschiedenen Identitätstheorien nicht der Fall ist.
Insbesondere Spitta hat keinerlei empirische Forschung betrieben, kann auf keinerlei Studien und deren Analyse verweisen - sie geht einzig vom Standpunkt des Dekonstruktivismus (des "Diskurses") an das Thema Identität/Identitätsentwicklung heran. Gleiches gilt für Daniel Hornuff.
Beide Spitta und Hornuff sind keine Soziologen oder Psychologen - sie sind fachfremd - erlauben sich aber dennoch ein Urteil darüber, was denn Identität ist, was sie ausmacht und wie sich Identität entwickelt und das ist ganz eindeutig Ideologie!
Weißt Du was: Unter anderem genau deshalb, weil sich - vom klassischen Standpunkt gesehen - "fachfremde" Menschen zu einem Thema ausführlich äußern und auch von einer relevanten Menge angehört und ernst genommen werden, von dem "Fachleute" meinen, sie "dürften" oder könnten sich dazu nicht äußern, liefern sie mit ihrer eigenen Person einen empirischen Beleg für die reale Möglichkeit der Freiheit von identitären Bindungen. In dem Falle Freiheit vom tradierten akademisch-universitären Feudalsystem.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Zunder »

schokoschendrezki hat geschrieben:(09 Feb 2017, 11:39)
Man ist absolut frei.
Mit der absoluten Freiheit kommst du noch nicht einmal von der Nabelschnur weg. Deine Überlebenschancen sind gleich Null.
Die Phrase von der absoluten Freiheit ist vor allem absolut sinnfrei. Mit der Wirklichkeit hat das alles herzlich wenig zu tun.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(09 Feb 2017, 13:17)

Das ist richtig. Nur: Die Realität, der sich diese Theorien zu widmen haben, haben einen bis-vor-kurzem-Stand. Einen Wendepunkt. Deshalb sicher sind diese Theorien (bislang) auch nicht einheitlich.

Weißt Du was: Unter anderem genau deshalb, weil sich - vom klassischen Standpunkt gesehen - "fachfremde" Menschen zu einem Thema ausführlich äußern, von dem "Fachleute" meinen, sie "dürften" oder könnten sich dazu nicht äußern, liefern sie mit ihrer eigenen Person einen empirischen Beleg für die reale Möglichkeit der Freiheit von identitären Bindungen. In dem Falle Freiheit vom tradierten akademisch-universitären Feudalsystem.
Sie können und dürfen - sofern sie sich nicht in das Fachgebiet - hier Soziologie, Psychologie - eingearbeitet haben, sind sie schlicht Laien, bestenfalls Amateure (wie jeder "Otto-Normalverbraucher" auch nur und geben entsprechend nur ihre persönliche Sichtweise wider, die aber eben keinen Ansprüch auf Gültigkeit erheben kann.
Sie liefern auch keinen empirischen Beleg, weil von ihnen - als Einzelperson - keine Allgemeingültigkeit abgeleitet werden kann. Schon ein einziges Gegenbeispiel widerlegt, deren These(n). Sie belegen damit nur eins, dass es Menschen gibt, die aus der statistischen Normalverteilung heraus fallen.
Als wissenschaftliche Methode in den emprisch arbeitenden Wissenschaften gilt immer noch: Nachvollziehbarkeit, Überprüfbarkeit und Falsifizierbarkeit.
Um es mit Popper (sinngemäß) auszudrücken: "jede Theorie, die in nur einem Aspekt widerlegt ist, muss fallen gelassen und/oder modifiziert werden"
Die Identitätstheorien von Soziologen und Psychologen sind eben nicht falsifiziert, darum haben sie immer noch Gültigkeit.

Und um zum eigentlichen Thread-Thema zurück zu kommen - der Rückbesinnung auf Traditionen:
Die sind u.a. dem geschuldet, was Digitalisierung, Virtualisierung, soziale Netzwerke nicht leisten können - nämlich den Aufbau und die Entwicklung zwischenmenschlicher Beziehungen auf emotionaler Basis.
Studien der MIT-Wissenschaftlerin Sherry Turkle und des Stanford-Wissenschaftlers Roy Pea haben ergeben, dass durch die Nutzung "sozialer Netzwerke" im Internet keine sozialen Kompetenzen entwickelt werden können, diese im Gegenteil sogar verkümmern.
Dies konnte auch anhand neuronaler Untersuchungen belegt werden. So wurde ein Zusammenhang zwischen Größe und Entwicklung des präfrontalen Cortex mit Größe und Intensität realer Kontakte nachgewiesen werden (Stiller und Dunbar 2007).
D.h. Größe und Volumen sozialer Gehirnstrukturen stehen also auch in direktem Bezug zur kognitiven sozialen Kompetenz, die sich nur in direkten sozialen Kontakten von Gruppen und nicht über virtuelle soziale Netzwerke herausbilden kann.
Dass die Rückbesinnung auf Traditionen (welcher Art die auch immer sein mögen) u.a. auch der Entwicklung sozialer Kompetenz(en), zwischenmenschlicher Beziehungen bzw als Ausgleich zur Digitalisierung und Virtualisierung dienen könnten, dass Menschen einfach Spaß haben, an dem was sie tun, lässt dein "pawlowscher Reflex", hinter allem eine "identitäre", "politisch räächts zu verortende Bewegung" auszumachen, gar nicht zu.
Statt dessen schredderst du lieber den Thread mit deinen "Ergüssen", dass alles nur mit Identität bzw "identitärer Bewegung" zu tun haben könnte bzw dort zu suchen ist.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Selina »

Da steh ich nun, ich armer Tor,
und bin so klug als wie zuvor.

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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Unité 1 »

Dark Angel hat geschrieben:(09 Feb 2017, 14:45)

Und um zum eigentlichen Thread-Thema zurück zu kommen - der Rückbesinnung auf Traditionen:
Die sind u.a. dem geschuldet, was Digitalisierung, Virtualisierung, soziale Netzwerke nicht leisten können - nämlich den Aufbau und die Entwicklung zwischenmenschlicher Beziehungen auf emotionaler Basis.
Wenn sie das nicht leisten können, und sie können das nicht - haben sie überhaupt den Anspruch darauf? -, warum sollte es dann eine Rückbesinnung geben? Wenn die globalisierte Kommunikation keinen Ersatz für zwischenmenschliche Kommunikation darstellt, und "Traditionen" als Instrument sozialer Komptenz gelte, ist überhaupt nicht ersichtlich, warum es nicht bei einer gleichmäßigen Traditionspflege geblieben ist, stattdessen eine Rückbesinnung nötig sei. Folglich ist deine Gegenüberstellung Quatsch, globalisierte im Sinne von entgrenzter Kommunikation stellt kein Gegenstück zur zwischenmenschlichen dar.
Zweitens existieren zwischenmenschliche Beziehungen auf vielen Ebenen. Das implizit einer "Rückbesinnung auf Traditionen" zuschreiben zu wollen, verwischt das Eigentliche: "Rückbesinnung auf Traditionen" sind eine Möglichkeit für die Befriedigung des Bedürfnisses nach zwischenmenschlicher Kommunikation wie jeder andere Vereinsmeierei auch. Daran ist nichts besonderes.
Was zur Frage führt, warum denn nun eine "Rückbesinnung auf Traditionen" so wertvoll sein soll:
Dass die Rückbesinnung auf Traditionen (welcher Art die auch immer sein mögen) u.a. auch der Entwicklung sozialer Kompetenz(en), zwischenmenschlicher Beziehungen bzw als Ausgleich zur Digitalisierung und Virtualisierung dienen könnten, dass Menschen einfach Spaß haben, an dem was sie tun, lässt dein "pawlowscher Reflex", hinter allem eine "identitäre", "politisch räächts zu verortende Bewegung" auszumachen, gar nicht zu.
Statt dessen schredderst du lieber den Thread mit deinen "Ergüssen", dass alles nur mit Identität bzw "identitärer Bewegung" zu tun haben könnte bzw dort zu suchen ist.
Man kommt gar nicht umhin, allerwenigstens die Möglichkeit einer Identitätsstiftung, eines Trends zu identitärer Neuformulierung zu betrachten. Vereinsmeierei ist banal - kollektive selbstkonstituierende Identitäten, die ziemlich häufig ihre Wurzeln in vermeintlich wertebehafteten Traditionen haben, sind es nicht.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(09 Feb 2017, 13:10)

Das bestreite weder ich noch wird das in einem der von mir verwiesenen Beiträge bestritten. Im Gegenteil. Die durchschnittlich tatsächlich eher linksliberal eingestellten Menschen, die eine anti-identitäre, anti-kulturalistische Position vertreten, ist die Notwendigkeit sozialer Zugehörigkeit, die Einbettung in soziale Sicherungssysteme, die Freiheit von existenzieller Armut usw. vielleicht noch bewusster als den Kulturalisten. Es sind aber Gemeinschaften jenseits von Identität. Das ist sehr sehr wichtig. Eine der universellen Grundwerte besagt, dass die Menschenwürde unabhängig von individuellen Einstellungen, Vorlieben, Geschlecht, Ethnie ist und jedem gleichermaßen zukommt. Noch einmal Giorgio Agamben (Klappentext zu "Die kommende Gemeinschaft"):
Nein - das sind keine "Gemeinschaften jenseits der Identität", das sind Gemeinschaften, die zur Identitätsbildung/-entwicklung beitragen bzw Einfluss auf diese haben.
Individuen jeder Kultur identifizieren sich mit und über die Kultur, in der sie leben, in die sie hinein geboren werden - schon durch ihre Sozialisation.
Das hat nichts, aber auch gar nichts mit "identitär","kulturalistisch" oder ähnlichen links-ideologischen Begriffsfindungen zu tun.
Kein Individuum lebt außerhalb oder "jenseits" einer Kultur, sondern in und mit einer Kultur!

Und so wie DU "Kulturalismus" gebrauchst ist er nichts weiter, als ein, seiner eigentlichen Bedeutung entledigter ideologischer Kampfbegriff!

"Kulturalismus bezeichnet in allgemeinster Form eine philosophisch-kritische Bezugnahme auf die Kultürlichkeit des Verhältnisses von Mensch und Welt und mit besonderem Gewicht eine gegen jede Form des Naturalismus gerichtete Betonung, daß alle menschlichen Hervorbringungen im Alltag, in den Wissenschaften und nicht zuletzt in der Philosophie selbst Kulturleistungen sind.“ (Peter Janich)
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Zunder hat geschrieben:(09 Feb 2017, 14:23)

Mit der absoluten Freiheit kommst du noch nicht einmal von der Nabelschnur weg. Deine Überlebenschancen sind gleich Null.
Die Phrase von der absoluten Freiheit ist vor allem absolut sinnfrei. Mit der Wirklichkeit hat das alles herzlich wenig zu tun.
Erst einmal ist es eine ziemliche Binsenweisheit, dass es mehrere und auch recht unterschiedliche Freiheitsbegriffe, Aspekte, Dimensionen des Begriffs "Freiheit" gibt. Auch wenn sie einiges gemeinsam haben. Die Sartresche Freiheit, von der ich sprach, ist insofern absolut, als es die Art Freiheit ist, die der Mensch nicht erlangt oder die ihm gewährt wird, sondern die, zu der er verurteilt ist und die insofern sehr wohl absolut ist. Über diese Freiheit verfügt in vollem ungeingeschränkten Maße auch jemand, der in der Todeszelle sitzt. Es ist nicht die Abwesenheit von äußerem Zwang sondern eine innere Entscheidungsmöglichkeit, der man nicht entgeht.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(09 Feb 2017, 14:45)
Sie können und dürfen - sofern sie sich nicht in das Fachgebiet - hier Soziologie, Psychologie - eingearbeitet haben, sind sie schlicht Laien, bestenfalls Amateure (wie jeder "Otto-Normalverbraucher" auch nur und geben entsprechend nur ihre persönliche Sichtweise wider, die aber eben keinen Ansprüch auf Gültigkeit erheben kann.
So. Darf sie nicht. Das verwiesene Buch von Juliane Spitta ist auch keine Soziologie- oder Psychologie- sondern eine Philosophie-Dissertation. Wusstest Du, dass Dave Brubeck, einer der genialsten Pianisten der Jazz-Geschichte nicht mal Noten lesen konnte? Seine Aufnahmen sind sozusagen hilfloses Laien-, bestenfalls Amateur-Geklimper. :p
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(09 Feb 2017, 14:45)

Sie können und dürfen - sofern sie sich nicht in das Fachgebiet - hier Soziologie, Psychologie - eingearbeitet haben, sind sie schlicht Laien, bestenfalls Amateure (wie jeder "Otto-Normalverbraucher" auch nur und geben entsprechend nur ihre persönliche Sichtweise wider, die aber eben keinen Ansprüch auf Gültigkeit erheben kann.
Sie liefern auch keinen empirischen Beleg, weil von ihnen - als Einzelperson - keine Allgemeingültigkeit abgeleitet werden kann. Schon ein einziges Gegenbeispiel widerlegt, deren These(n). Sie belegen damit nur eins, dass es Menschen gibt, die aus der statistischen Normalverteilung heraus fallen.
Als wissenschaftliche Methode in den emprisch arbeitenden Wissenschaften gilt immer noch: Nachvollziehbarkeit, Überprüfbarkeit und Falsifizierbarkeit.
Um es mit Popper (sinngemäß) auszudrücken: "jede Theorie, die in nur einem Aspekt widerlegt ist, muss fallen gelassen und/oder modifiziert werden"
Die Identitätstheorien von Soziologen und Psychologen sind eben nicht falsifiziert, darum haben sie immer noch Gültigkeit.

Und um zum eigentlichen Thread-Thema zurück zu kommen - der Rückbesinnung auf Traditionen:
Die sind u.a. dem geschuldet, was Digitalisierung, Virtualisierung, soziale Netzwerke nicht leisten können - nämlich den Aufbau und die Entwicklung zwischenmenschlicher Beziehungen auf emotionaler Basis.
Studien der MIT-Wissenschaftlerin Sherry Turkle und des Stanford-Wissenschaftlers Roy Pea haben ergeben, dass durch die Nutzung "sozialer Netzwerke" im Internet keine sozialen Kompetenzen entwickelt werden können, diese im Gegenteil sogar verkümmern.
Dies konnte auch anhand neuronaler Untersuchungen belegt werden. So wurde ein Zusammenhang zwischen Größe und Entwicklung des präfrontalen Cortex mit Größe und Intensität realer Kontakte nachgewiesen werden (Stiller und Dunbar 2007).
D.h. Größe und Volumen sozialer Gehirnstrukturen stehen also auch in direktem Bezug zur kognitiven sozialen Kompetenz, die sich nur in direkten sozialen Kontakten von Gruppen und nicht über virtuelle soziale Netzwerke herausbilden kann.
Schädelvermessungen (Kraniometrie) sind übrigens auch Teil einer ausgeprägten Traditionslinie. Man konnte mit den Werten etwa einen "Nordischen Kapitän" von einem "Ostischen Grinser" unterscheiden.
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Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(09 Feb 2017, 15:04)

Nein - das sind keine "Gemeinschaften jenseits der Identität", das sind Gemeinschaften, die zur Identitätsbildung/-entwicklung beitragen bzw Einfluss auf diese haben.
Individuen jeder Kultur identifizieren sich mit und über die Kultur, in der sie leben, in die sie hinein geboren werden - schon durch ihre Sozialisation.
Das hat nichts, aber auch gar nichts mit "identitär","kulturalistisch" oder ähnlichen links-ideologischen Begriffsfindungen zu tun.
Kein Individuum lebt außerhalb oder "jenseits" einer Kultur, sondern in und mit einer Kultur!
Bereits der von Dir zitierte Psychologe Heiner Keupp spricht in dem von Dir zitierten Artikel davon, dass moderne Identitätstheorien einen "radikalen Bruch mit allen Vorstellungen von der Möglichkeit einer stabilen und gesicherten Identität" vollziehen. Mit identität als quasi "laufendem Projekt" mit mehreren parallel laufenden und sich z.T. widersprechenden Linien. Es existiert also schonmal nicht eine Kultur. Oder, wenn man die Perspektive wechselt: Bezogen auf (genau) eine Kultur lebt jedes Individuum jenseits dieser einen Kultur. Und da die spezifischen "Projekt"-Kumulationen in ihrer jeweiligen Ausprängung individuell sind (der eine befasst sich mit Computer-Spielen, liebt altberliner Küche und spielt Jazz auf dem Saxophon der andere ist Bayern-Müchen-Fan, befasst sich mit Vektoranalysis und geht in seiner Freizeit schwimmen) macht es überhaupt keinen Sinn von irgendeiner einheitlichen Kulturprägung zu sprechen. Einzige Ausnahme und Sonderfall ist die Sprache.
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Beitrag von Zunder »

schokoschendrezki hat geschrieben:(09 Feb 2017, 15:41)

Erst einmal ist es eine ziemliche Binsenweisheit, dass es mehrere und auch recht unterschiedliche Freiheitsbegriffe, Aspekte, Dimensionen des Begriffs "Freiheit" gibt. Auch wenn sie einiges gemeinsam haben. Die Sartresche Freiheit, von der ich sprach, ist insofern absolut, als es die Art Freiheit ist, die der Mensch nicht erlangt oder die ihm gewährt wird, sondern die, zu der er verurteilt ist und die insofern sehr wohl absolut ist. Über diese Freiheit verfügt in vollem ungeingeschränkten Maße auch jemand, der in der Todeszelle sitzt. Es ist nicht die Abwesenheit von äußerem Zwang sondern eine innere Entscheidungsmöglichkeit, der man nicht entgeht.
Die Freiheit Sartres, zu der der Mensch verurteilt ist, ist die"Freiheit", sich entscheiden zu müssen. Das ist ziemlich genau das Gegenteil von einer absoluten Freiheit.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Zunder hat geschrieben:(09 Feb 2017, 16:21)

Die Freiheit Sartres, zu der der Mensch verurteilt ist, ist die"Freiheit", sich entscheiden zu müssen. Das ist ziemlich genau das Gegenteil von einer absoluten Freiheit.
Meiner Ansicht nach ist das Gegenteil von einer absoluten Freiheit die populäre Auffassung, der Mensch sei zu freien Entscheidungen gar nicht in der Lage. Die bewusste Entscheidung, die Hand zu heben käme lange lange nach dem eigentlich steuernden unbewussten Signal. Glücklicherweise haben meines Wissens selbst die Schöpfer und Hauptvertreter dieser Ansicht dies zumindest in Teilen revidiert. Sartre übrigens rechnet auch die Entscheidung, sich "für nichts" zu entscheiden für eine freie Entscheidung.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Dark Angel »

Unité 1 hat geschrieben:(09 Feb 2017, 15:03)

Wenn sie das nicht leisten können, und sie können das nicht - haben sie überhaupt den Anspruch darauf? -, warum sollte es dann eine Rückbesinnung geben? Wenn die globalisierte Kommunikation keinen Ersatz für zwischenmenschliche Kommunikation darstellt, und "Traditionen" als Instrument sozialer Komptenz gelte, ist überhaupt nicht ersichtlich, warum es nicht bei einer gleichmäßigen Traditionspflege geblieben ist, stattdessen eine Rückbesinnung nötig sei. Folglich ist deine Gegenüberstellung Quatsch, globalisierte im Sinne von entgrenzter Kommunikation stellt kein Gegenstück zur zwischenmenschlichen dar.
Zweitens existieren zwischenmenschliche Beziehungen auf vielen Ebenen. Das implizit einer "Rückbesinnung auf Traditionen" zuschreiben zu wollen, verwischt das Eigentliche: "Rückbesinnung auf Traditionen" sind eine Möglichkeit für die Befriedigung des Bedürfnisses nach zwischenmenschlicher Kommunikation wie jeder andere Vereinsmeierei auch. Daran ist nichts besonderes.
Ich schrieb zwischenmenschliche Beziehung und nicht zwischenmenschliche Kommunikation - eine Beziehung ist "geringfügig" mehr als nur Kommunikation, weil zwischenmenschliche Beziehungen genau das schaffen, was Kommunikation allein nicht kann, nämlich soziale Kompetenz(en) entwickeln.
Wenn eine Rükbesinnung auf Tradition - egal welche und was man darunter auch verstehen will - zwischenmenschliche Beziehungen fördern kann, dann fördert das auch die Entwicklung sozialer Kompetenz(en).
Die Wiederentdeckung und Weitergabe traditioneller Handarbeitstechniken/Handwerkstechniken firmiert auch unter "Rückbesinnung auf Traditionen". Und da die vielfach in Vergessenheit geraten sind, IST Rückbesinnung notwendig.
Unité 1 hat geschrieben:(09 Feb 2017, 15:03)]Was zur Frage führt, warum denn nun eine "Rückbesinnung auf Traditionen" so wertvoll sein soll:
Nennt sich Pflege des kulturllen Erbes und ist u.a. ein Hauptanliegen der UNESCO ==> Deklaration von 1954 und Pariser Vertrag von 1972.
Unité 1 hat geschrieben:(09 Feb 2017, 15:03)Man kommt gar nicht umhin, allerwenigstens die Möglichkeit einer Identitätsstiftung, eines Trends zu identitärer Neuformulierung zu betrachten. Vereinsmeierei ist banal - kollektive selbstkonstituierende Identitäten, die ziemlich häufig ihre Wurzeln in vermeintlich wertebehafteten Traditionen haben, sind es nicht.
Nein natürlich kommt man nicht umhin, wenn man gewöhnt ist, alles durch die ideologische Brille zu betrachten und Tradition(en) oder z.B. ethisch-moralische Werte als "überflüssigen Ballast" betrachtet, dessen man sich schnellstens entledigen sollte. Dann ist das natürlich seehhr hilfreich, wenn man das in einem ganz bestimmten politischen Spektrum verorten kann.
Jaaa natürlich - "Vereinsmeierei" - was schließen sich Menschen überhaupt in Vereinen zusammen, wenn nicht als "kollektive selbstkonstituierende Identitäten"?
Schon mal auf die Idee gekommen, dass die gemeinsame Interessen, ein gemeinsames Hobby verbindet, welches sich nur in einem Verein betreiben lässt? Nicht?
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Zunder »

Die Freiheit Sartres ist situationsbezogen, steht also grundsätzlich in einem gesellschaftlichen Kontext, bzw. in einem Verhältnis zur Umwelt. Das hat nichts mit Determinismus zu tun.
Zuletzt geändert von Zunder am Do 9. Feb 2017, 16:49, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Und vielleicht muss man an dieser Stelle mit einem Missverständnis aufräumen: Eine Philosophie der "Gemeinschaft jenseits von Identität" ist im Gegensatz zu einer psychologischen oder soziologischen Analyse eben nicht nur Analyse sondern auch Synthese im Sinne einer Handlungsethik. Sie ist keine Ideologie (wie hier häufig behauptet) denn sie ist eben auch eine (zumindest gedankliche) Analyse. Der Mangel an "empirischen Daten" ist dann kein Mangel, wenn das Gedankengebäude logisch und konsistent ist. Ähnlich wie etwa die Stringtheorie, die auch nicht (direkt) auf empirischen Daten basiert, sagt sie gewissermaßen auch, welche Experimente (Handlungen) zu machen sind, um ihre Richtigkeit zu bestätigen.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Zunder »

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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(09 Feb 2017, 15:52)

So. Darf sie nicht. Das verwiesene Buch von Juliane Spitta ist auch keine Soziologie- oder Psychologie- sondern eine Philosophie-Dissertation. Wusstest Du, dass Dave Brubeck, einer der genialsten Pianisten der Jazz-Geschichte nicht mal Noten lesen konnte? Seine Aufnahmen sind sozusagen hilfloses Laien-, bestenfalls Amateur-Geklimper. :p
Vergleichst du mal wieder Äppel mit Birnen?
Schon mal was vom "absoluten Gehör" gehört? Soll durchaus Menschen geben, die darüber verfügen und jeden Ton richtig treffen, ohne Noten lesen zu können.
Ich weiß, dass Spitta eine Philosophie-Dissertation geschrieben hat und gerade deshalb kann sie mit ihrer Arbeit keinen Anspruch erheben, irgendwelche relevanten Ergebnisse und/oder praxistaugliche Lösungen vorzuweisen. Genau darum ist ihre Arbeit eine rein weltanschauliche Sichtweise. So what!
Und nochwas: ich habe nirgends etwas von "hilflos" geschrieben, noch habe ich abgewertet. Es ist schlicht und ergreifend eine Tatsache, dass ein Laie oder Amateur nicht über das gleiche Fachwissen verfügt, wie der jeweilige Fachwissenschaftler.
Ich habe Arhäologie studiert und dennoch bin ich Laie, was Klassische Archäologie, Ägyptologie oder Orientalistik angeht. Hat was mit fortschreitender Spezialisierung in den einzelnen Fachrichtungen zu tun.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Zunder »

Jimi Hendrix konnte übrigens auch keine Noten lesen und die Beatles haben sogar äolische Kadenzen komponiert, ohne zu wissen, was das ist.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(09 Feb 2017, 16:42)

Und vielleicht muss man an dieser Stelle mit einem Missverständnis aufräumen: Eine Philosophie der "Gemeinschaft jenseits von Identität" ist im Gegensatz zu einer psychologischen oder soziologischen Analyse eben nicht nur Analyse sondern auch Synthese im Sinne einer Handlungsethik. Sie ist keine Ideologie (wie hier häufig behauptet) denn sie ist eben auch eine (zumindest gedankliche) Analyse. Der Mangel an "empirischen Daten" ist dann kein Mangel, wenn das Gedankengebäude logisch und konsistent ist. Ähnlich wie etwa die Stringtheorie, die auch nicht (direkt) auf empirischen Daten basiert, sagt sie gewissermaßen auch, welche Experimente (Handlungen) zu machen sind, um ihre Richtigkeit zu bestätigen.
Das "Gedankengebäude" ist eben nicht logisch und in sich konsistent - es weist Mängel auf und diese Mängel sind weltanschaulich-ideologischer Natur.
Der Hauptmangel besteht darin, dass Spitta alles dekonstruiert - angefangen von nationalen Gesetzen, über Staat und Nation bis hin zur individuellen und kollektiven Identität. Sie lehnt jede Vorstellung von Gemeinschaft, ja sogar die Vorstellung individueller Indentität ab und meint so zu einem neuen Politikbegriff zu gelangen.
An diesem Punkt befindet sie sich in der Tradition Derridas und Marx', wobei sie Derridas Vorstellungen einer Politik folgt, die an konkreten Vorhaben orientierten losen Zusammenschlüssen realisierbar wird. Dabei folgt sie den Vorstellungen des Marxismus, dass es keinen substantiellen Grund zur Bildung von Gemeinschaften gibt und eine Identifikation nur über das zu erfolgen habe, was Menschen sachlich miteinader verbindet - und nichts anders. Mit der von Spitta favorisierten Form der "Identifikation" als lose Organisation politisch gemeinsam Handelnder bezieht sie sich auf Rosa Luxemburgs Begriff der "revolutionären Realpolitik", wobei sie Luxemburg gründlich missversteht, die ja gerade eine Gemeinschaft propagiert, die die politische Macht erringen soll - das Proletariat.
Und an dieser Stelle tritt der entscheidende Mangel in Spittas Arbeit zutage - einerseits will sie die "marxistisch-revolutionären" Vorstellungen bewahren, andererseits will sie keine andere individuelle Identifikation, als die von ihr bevorzugte temporäre, lokale projektgebundene.
Wenn das nicht ideologisch ist, was dann?
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Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(09 Feb 2017, 16:56)

Vergleichst du mal wieder Äppel mit Birnen?
Schon mal was vom "absoluten Gehör" gehört? Soll durchaus Menschen geben, die darüber verfügen und jeden Ton richtig treffen, ohne Noten lesen zu können.
Ich weiß, dass Spitta eine Philosophie-Dissertation geschrieben hat und gerade deshalb kann sie mit ihrer Arbeit keinen Anspruch erheben, irgendwelche relevanten Ergebnisse und/oder praxistaugliche Lösungen vorzuweisen. Genau darum ist ihre Arbeit eine rein weltanschauliche Sichtweise. So what!
Und nochwas: ich habe nirgends etwas von "hilflos" geschrieben, noch habe ich abgewertet. Es ist schlicht und ergreifend eine Tatsache, dass ein Laie oder Amateur nicht über das gleiche Fachwissen verfügt, wie der jeweilige Fachwissenschaftler.
Ich habe Arhäologie studiert und dennoch bin ich Laie, was Klassische Archäologie, Ägyptologie oder Orientalistik angeht. Hat was mit fortschreitender Spezialisierung in den einzelnen Fachrichtungen zu tun.
Schon o.k. Ich habe das Buch von Spitta ganz sicher nicht gekauft und gelesen, um "praxistaugliche Lösungen" für irgendwas darin zu finden. Wenn ich für die Planung von Kindergärten und Grundschulen in einem Bundesland verantwortlich wäre, bräuchte ich soziologische und mit empirischen Daten zuverlässig abgesicherte Analysen etwa über die zukünftige demographische Bevölkerungsentwicklung. Ein vernünftiges Verhältnis zu einer sich radikal ändernden Welt zu finden ist aber ein Problem grundsätzlich anderer Art. Der eine jüngere Ansatz, der mich momentan begeistert ist der: Eine Angst "zweiter Ordnung" zu entwickeln. Eine Angst vor einer Gesellschaft, in der zunnehmend nur noch Angst thematisiert und politisch instrumentalisiert wird. Den anderen jüngeren Ansatz, nämlich ein vernünfitges Verhältnis zu einer "Gemeinschaft jenseits von Identität" zu finden, habe ich paradoxerweise nirgends so genau und präzise formuliert vorgefunden wie ausgerechnet in dem von Dir reingestellten Keupp-Artikel. Also nochmal (in einer etwas ausführlicheren Variante):
Gesellschaftliche Prozesse, die mit Begriffen wie Individualisierung, Pluralisierung, Globalisierung angesprochen sind, haben das Selbstverständnis der klassischen Moderne grundlegend in Frage gestellt. Der dafür stehende Diskurs der Postmoderne hat auch die Identitätstheorie erreicht. In ihm wird ein radikaler Bruch mit allen Vorstellungen von der Möglichkeit einer stabilen und gesicherten Identität vollzogen. Es wird unterstellt, «daß jede gesicherte oder essentialistische Konzeption der Identität, die seit der Aufklärung den Kern oder das Wesen unseres Seins zu definieren und zu begründen hatte, der Vergangenheit angehört»
Hält man sich wirklich nur streng an den Text, so sind folgende DInge unzweifelhaft zu entnehmen: 1. Es gibt eine Diskontiniutät, eben einen historischen Bruch. Was früher mal mit "Identität" verbunden war, ist heute jedenfalls etwas ganz grundsätzlich anderes. 2. Es gibt aktuell einen Dissenz zumindest in Teilaspekten zum Identitätsbegriff. Es ist nicht, keineswegs "klar", wie darüber zu urteilen ist, 3. In einem Punkt sind sich aktuelle verschiedene Überlegungen und Ansätze jedoch einig: Die Vorstellung einer einheitlchen, stabilen, gesicherten Identiät auf der Basis einer Kultur ist nicht mehr haltbar. Es ist völlig o.k. zu behaupten, jedes Individuum lebe in einer Kultur. Es ist dann nur eben eine Meinung außerhalb des aktuellen kanonischen akademischen Wissenstands.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Zunder hat geschrieben:(09 Feb 2017, 16:52)

Wenn man anerkennt, daß eine Existenz jenseits von Identität gar nicht möglich ist, erledigt sich der Rest von selbst.
Eine "Existenz jenseits von Identität" ist nix, das man "anerkennt" oder überhaupt anzuerkennen hätte, sondern etwas, das man schlicht und einfach lebt.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Zunder »

schokoschendrezki hat geschrieben:(09 Feb 2017, 22:19)

Eine "Existenz jenseits von Identität" ist nix, das man "anerkennt" oder überhaupt anzuerkennen hätte, sondern etwas, das man schlicht und einfach lebt.
Die Anerkennung bezieht sich auf die Tatsache, daß eine Existenz jenseits von Identität nicht möglich ist.
Die Illusion, eine solche Existenz leben zu können, bleibt davon unberührt.
Das Finanzamt wird sich von der erfundenen Nicht-Identität vermutlich genauso wenig beeindrucken lassen wie von der erfundenen Reichsbürgerschaft.
Mit dem Leben in der Nicht-Identität könnte es besonders dann ziemlich eng werden, wenn z.B. der IS in die Lage versetzt ist, die Identität als Ungläubiger zu bestimmen.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Zunder hat geschrieben:(10 Feb 2017, 01:17)

Die Anerkennung bezieht sich auf die Tatsache, daß eine Existenz jenseits von Identität nicht möglich ist.
Die Illusion, eine solche Existenz leben zu können, bleibt davon unberührt.
Das Finanzamt wird sich von der erfundenen Nicht-Identität vermutlich genauso wenig beeindrucken lassen wie von der erfundenen Reichsbürgerschaft.
Mit dem Leben in der Nicht-Identität könnte es besonders dann ziemlich eng werden, wenn z.B. der IS in die Lage versetzt ist, die Identität als Ungläubiger zu bestimmen.
Naja ... also dass der Begriff "Identität" mindestens ebenso facettenreich und mehrdimensional ist wie "Freiheit" ist doch selbstverständlich. Gemeint ist natürlich eine festgelegte, eindeutige, benennbare Identität in einer festgelegten, eindeutigen, benennbaren Kultur.

Ich beziehe mich noch einmal auf den von Keupp dargelegten "Bruch mit allen Vorstellungen von der Möglichkeit einer stabilen und gesicherten Identität": Eine Traditionsrückbesinnung (um auch noch mal beim Thema zu bleiben) ist doch auch nicht nur die Feststellung eines real vorhandenen Trends sondern mindestens ebenso eine Handlungsstrategie, um eben diesen historischen Bruch zu "heilen". Und parallel bzw. entgegengesetzt dazu ist das Konzept einer "Gemeinschaft jenseits von Identität" eine Handlungsstrategie, um die Tatsache dieses Bruchs ins Positive zu wenden, ihn als Befreieung von traditionellen Bindungskräften zu feiern und den real fortschreitenden Prozess der kulturellen (!) Entwurzelung des Individuums noch tatkräftig anzufeuern. Nicht zuletzt, indem man eine stärkere soziale (!) Verwurzelung dagegensetzt.
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Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(09 Feb 2017, 22:12)
Hält man sich wirklich nur streng an den Text, so sind folgende DInge unzweifelhaft zu entnehmen: 1. Es gibt eine Diskontiniutät, eben einen historischen Bruch.
Gibt es den tatsächlich oder wird der nur behauptet?
schokoschendrezki hat geschrieben:(09 Feb 2017, 22:12)Was früher mal mit "Identität" verbunden war, ist heute jedenfalls etwas ganz grundsätzlich anderes.
Grundsätzlich bedeutet mehrheitlich. Aber genau dieses "mehrheitlich" trifft in der Realität eben nicht zu.
schokoschendrezki hat geschrieben:(09 Feb 2017, 22:12)2. Es gibt aktuell einen Dissenz zumindest in Teilaspekten zum Identitätsbegriff. Es ist nicht, keineswegs "klar", wie darüber zu urteilen ist, 3. In einem Punkt sind sich aktuelle verschiedene Überlegungen und Ansätze jedoch einig: Die Vorstellung einer einheitlchen, stabilen, gesicherten Identiät auf der Basis einer Kultur ist nicht mehr haltbar. Es ist völlig o.k. zu behaupten, jedes Individuum lebe in einer Kultur. Es ist dann nur eben eine Meinung außerhalb des aktuellen kanonischen akademischen Wissenstands.
Oh - nein, diese "Einigkeit" besteht keinesfalls. Diese "Einigkeit" betrifft nur einne relativ kleinen Teil der Gesamtbevölkerung und dieser kann nicht - auch wenn er das gerne tut - die Deutungshoheit für sich beanspruchen, was denn zur Identitätsbildung beiträgt.
Es handelt sich lediglich um eine Behauptung - für die jeder Beleg fehlt - dass Identitätsbildung nicht an die von der (einen) Kultur maßgeblich beeinflusst ist, in der Mensch lebt, in die er hinein geboren ist.
Es gibt auch keinen "aktuellen kanonischen Wissensstand", weil es eben nicht eine allgemein anerkannte Identitätstheorie gibt, sondern viele verschiedene.
Und nur weil eine, von einem Teil der Bevölkerung - präferiert wird, handelt es sich noch lange nicht um "aktuellen kanonischen Wissensstand".
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Feb 2017, 09:03)

Naja ... also dass der Begriff "Identität" mindestens ebenso facettenreich und mehrdimensional ist wie "Freiheit" ist doch selbstverständlich. Gemeint ist natürlich eine festgelegte, eindeutige, benennbare Identität in einer festgelegten, eindeutigen, benennbaren Kultur.

Ich beziehe mich noch einmal auf den von Keupp dargelegten "Bruch mit allen Vorstellungen von der Möglichkeit einer stabilen und gesicherten Identität": Eine Traditionsrückbesinnung (um auch noch mal beim Thema zu bleiben) ist doch auch nicht nur die Feststellung eines real vorhandenen Trends sondern mindestens ebenso eine Handlungsstrategie, um eben diesen historischen Bruch zu "heilen". Und parallel bzw. entgegengesetzt dazu ist das Konzept einer "Gemeinschaft jenseits von Identität" eine Handlungsstrategie, um die Tatsache dieses Bruchs ins Positive zu wenden, ihn als Befreieung von traditionellen Bindungskräften zu feiern und den real fortschreitenden Prozess der kulturellen (!) Entwurzelung des Individuums noch tatkräftig anzufeuern. Nicht zuletzt, indem man eine stärkere soziale (!) Verwurzelung dagegensetzt.
Und genau hier ist der entscheidende Denkfehler! Zäsuren sind und bleiben Zäsuren, die können weder geheilt nich ins positive gewendet werden.
Genauso wenig können Kultur und Sozialsystem/Sozialstrukturen auseinander dividiert werden. Sie sind integraler Bestandteil jeder Kultur.
Eine kulturelle Entwurzelung ist immer auch eine soziale Entwurzelung.
Und die "traditionellen Bindungskräfte" von denen du (alle) Menschen befreit sehen und deren Befreiung du feiern willst, sind in erster Linie emotionale Bindungen.
Wenn du Menschen von ihren "traditionellen Bindungskräften" befreien willst, was bleibt dann noch vom Menschen übrig?
Das ist doch genau das, was immer wieder kritisiert wird - das ist die Ideologie, die einen "neuen Menschen" schaffen will. Eine Ideologie die "grandios" gescheitert ist - die Ideologie des Marxismus, die trotz allem weiter verfolgt wird, wenn auch in etwas "anderem Gewand".
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Beitrag von Zunder »

schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Feb 2017, 09:03)
......Befreieung von traditionellen Bindungskräften zu feiern und den real fortschreitenden Prozess der kulturellen (!) Entwurzelung des Individuums noch tatkräftig anzufeuern. Nicht zuletzt, indem man eine stärkere soziale (!) Verwurzelung dagegensetzt.
Ich hab's gerne konkret. Und wenn man solche unverbindlichen Allgemeinplätzchen auf ihren Realitätsgehalt untersucht, wird man feststellen, daß eine "kulturelle Entwurzelung des Individuums" in Deutschland letztmals 1933 ff stattfand.
Eine vernunftorientierte Kultur zeichnet sich gerade dadurch aus, daß sie sich verändert, ohne ihre Grundlagen zu zerstören.
Soziale Verwurzelung ist übrigens nicht Gegenteil, sondern Bestandteil von kultureller Verwurzelung, wobei ich den Begriff "Verwurzelung" ohnehin für ein bißchen problematisch halte. Er zielt auf ein organisch-naturbehaftetes Verhältnis, das dem eigentlichen Verständnis von Kultur widerspricht.

Der für mich plausibelste Gegenentwurf zur Gemeinschaft, die auf sozialer, völkischer oder religiöser Homogenität beruht, ist nach wie vor die bürgerliche Gesellschaft, die die Beziehungen freier Individuen zueinander und zum Staat, resp. dem Gemeinwesen als Ganzes, durch ein gesichertes Rechtsverhältnis bestimmt. Diese Gesellschaft, zweifellos eine Errungenschaft der abendländischen Kultur, gilt es zu verteidigen.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Feb 2017, 09:03)

Naja ... also dass der Begriff "Identität" mindestens ebenso facettenreich und mehrdimensional ist wie "Freiheit" ist doch selbstverständlich. Gemeint ist natürlich eine festgelegte, eindeutige, benennbare Identität in einer festgelegten, eindeutigen, benennbaren Kultur.

Ich beziehe mich noch einmal auf den von Keupp dargelegten "Bruch mit allen Vorstellungen von der Möglichkeit einer stabilen und gesicherten Identität": Eine Traditionsrückbesinnung (um auch noch mal beim Thema zu bleiben) ist doch auch nicht nur die Feststellung eines real vorhandenen Trends sondern mindestens ebenso eine Handlungsstrategie, um eben diesen historischen Bruch zu "heilen". Und parallel bzw. entgegengesetzt dazu ist das Konzept einer "Gemeinschaft jenseits von Identität" eine Handlungsstrategie, um die Tatsache dieses Bruchs ins Positive zu wenden, ihn als Befreieung von traditionellen Bindungskräften zu feiern und den real fortschreitenden Prozess der kulturellen (!) Entwurzelung des Individuums noch tatkräftig anzufeuern. Nicht zuletzt, indem man eine stärkere soziale (!) Verwurzelung dagegensetzt.
Aber natürlich "feiern" Linke die Zerstörung der Identifikationsgrundlage bzw Entwurzelung aus ihrer Indentifikationsgrundlage als "Befreiung". Schließlich lassen sich, in ihrer Identität verunsicherte, entwurzelte Individuen sehr viel besser ideologisch manipulieren und indoktrinieren, als Individuen, die eine gesicherte Indentifikationsgrundlage haben, sich nicht nur lose über das identifzieren bzw organisieren, was sie "sachlich miteinader verbindet - und nichts anderes".
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Kael »

Wo wurde denn das Individuum 1933 entwurzelt? Es wurde eher verwurzelt.
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Zunder
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Zunder »

Kael hat geschrieben:(10 Feb 2017, 19:16)

Wo wurde denn das Individuum 1933 entwurzelt? Es wurde eher verwurzelt.
Es ging um die "kulturelle Entwurzelung".
Die Kultur der Weimarer Republik war unter anderem geprägt von der Freiheit der Lehre, der Freiheit der Kunst, Meinungsfreiheit und so Zeugs.
Eine Liste mit den Namen bekannter Emigranten findest du auf Wiki:
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_bek ... 80%931945)
Ich glaube, das muß nicht wirklich ausgeführt werden.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Fuerst_48 »

Zunder hat geschrieben:(10 Feb 2017, 20:01)

Es ging um die "kulturelle Entwurzelung".
Die Kultur der Weimarer Republik war unter anderem geprägt von der Freiheit der Lehre, der Freiheit der Kunst, Meinungsfreiheit und so Zeugs.
Eine Liste mit den Namen bekannter Emigranten findest du auf Wiki:
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_bek ... 80%931945)
Ich glaube, das muß nicht wirklich ausgeführt werden.
Kulturelle Verlustliste ist treffend. Aber auch die für die Wissenschaften ist beträchtlich.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von JJazzGold »

Zunder hat geschrieben:(10 Feb 2017, 20:01)

Es ging um die "kulturelle Entwurzelung".
Die Kultur der Weimarer Republik war unter anderem geprägt von der Freiheit der Lehre, der Freiheit der Kunst, Meinungsfreiheit und so Zeugs.
Eine Liste mit den Namen bekannter Emigranten findest du auf Wiki:
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_bek ... 80%931945)
Ich glaube, das muß nicht wirklich ausgeführt werden.
....und so Zeugs. :D :thumbup:
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Selina »

Dark Angel hat geschrieben:(10 Feb 2017, 15:55)

Aber natürlich "feiern" Linke die Zerstörung der Identifikationsgrundlage bzw Entwurzelung aus ihrer Indentifikationsgrundlage als "Befreiung". Schließlich lassen sich, in ihrer Identität verunsicherte, entwurzelte Individuen sehr viel besser ideologisch manipulieren und indoktrinieren, als Individuen, die eine gesicherte Indentifikationsgrundlage haben, sich nicht nur lose über das identifzieren bzw organisieren, was sie "sachlich miteinader verbindet - und nichts anderes".
Sorry, aber gibts diese sicher interessante These auch in verständlichem Deutsch? ;)
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(10 Feb 2017, 11:34)

Und genau hier ist der entscheidende Denkfehler! Zäsuren sind und bleiben Zäsuren, die können weder geheilt nich ins positive gewendet werden.
Genauso wenig können Kultur und Sozialsystem/Sozialstrukturen auseinander dividiert werden. Sie sind integraler Bestandteil jeder Kultur.
Eine kulturelle Entwurzelung ist immer auch eine soziale Entwurzelung.
Und die "traditionellen Bindungskräfte" von denen du (alle) Menschen befreit sehen und deren Befreiung du feiern willst, sind in erster Linie emotionale Bindungen.
Wenn du Menschen von ihren "traditionellen Bindungskräften" befreien willst, was bleibt dann noch vom Menschen übrig?
Das ist doch genau das, was immer wieder kritisiert wird - das ist die Ideologie, die einen "neuen Menschen" schaffen will. Eine Ideologie die "grandios" gescheitert ist - die Ideologie des Marxismus, die trotz allem weiter verfolgt wird, wenn auch in etwas "anderem Gewand".
Aber auch Du hast (mehrfach) davon gesprochen, dass Digitalisierung, Virtualisierung, soziale Netzwerke den Menschen kulturell entfremde und dass Traditionsrückbesinnung ein Gegenrezept dazu sei. Dass du also etwas - einfach gesprochen - "durchdrücken" willst. Oder ich hab das falsch verstanden ...?

Der Satz "Eine kutlruelle Entwurzelung ist immer auch eine soziale Entwurzelung" ist eine schön klingende Phrase, wirklich, und nicht mehr. Einfach mal einen Meter, eine Dekade zurücktreten und überlegen, wohin die Weltgesellschaft sich eigentlich wirklich hinentwickelt, hinentwickeln will. Bei allem Respekt für praktische Politik: Steuersätze verändern, Budget-Richtlinien anpassen, Kreiszusammenschlüsse organisieren ,.. alles ehrenwerte Tätigkeiten, aber für das grundlegende Problem, das sich u.a. im reflexhaften Traditionsrückbesinnungsbedürfnis äußert, müssen schon grundlegendere Gegenentwürfe her. Ich bestreite vehement, dass emotionale Bindungen mit traditionellen Bindungskröften identisch sind. Meine emotionalen Bindungen zu den mir nahestenden Menschen haben nix, aber auch gar nix mit Kulturdraditionen zu tun. Eine wirklich radikal andere Gesellschaftsvision muss her. In den kommenden Gemeinschaften (jenseits von Identität) wird Konsum, Geld, Neid keine Rolle mehr spielen. Statt dessen soziale Verantwortung, Solidarität. Und auf der anderen Seite werden sich alle identitären Bindungen vollständig auflösen. Es wird nur noch Individuen und frei schwebende, völlig separierte Teilgemeinschaften geben. Am Ende wird sich auch die gemeinsame Sprache als identitäres Merkmal auflösen. Warum ist das keine Ideologie? Warum ist das kein Aufruf zur verordneten Menschenschaffung? Weil der Zug ohnehin in diese Richtung läuft. Lieber aktiv beim Weichenstellen dabei sein als diesen Zug der Zeit sinnloserweise und mit Gewalt stoppen zu wollen. Weil es bedeutet, den objektiven Gang der Geschichte positiv umzudeuten statt in einem ewigen und völllig nutzlosen Lamento gegen den Zug der Zeit eine Traditionsrückbesinnung einzufordern.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(10 Feb 2017, 15:55)

Aber natürlich "feiern" Linke die Zerstörung der Identifikationsgrundlage bzw Entwurzelung aus ihrer Indentifikationsgrundlage als "Befreiung". Schließlich lassen sich, in ihrer Identität verunsicherte, entwurzelte Individuen sehr viel besser ideologisch manipulieren und indoktrinieren, als Individuen, die eine gesicherte Indentifikationsgrundlage haben, sich nicht nur lose über das identifzieren bzw organisieren, was sie "sachlich miteinader verbindet - und nichts anderes".
Das widerspricht doch nun wirklich diametral, um 180 Grad verdreht, allen realen beobachtbaren politischen Weltgegebenheiten. Bitte, wo auch immer: Türkei, Ungarn, Russland, Polen, möglicherweise neuerdings Frankreich oder Niederlande: In allen Fällen sind ganz klar und ohne jeden leisesten Zweifel die identitär Verwurzelten die manipulierten Antidemokraten und die identitär Entwurzelten die aufrichtigen wenigen selbständig denkenden Demokraten, Das Türkentum oder Ungarntum oder Franzosentum oder gar die islamische Identität als Garant für unabhängiges Denken? Wie verrückt und verwirrt kann man denn sein? Im Grunde entspricht eine solche Denkungsart der SED-Ideologie in der DDR unter dem Begriff "Unsere Menschen". "Unsere Menschen" war in der DDR der gebräuchliche Begriff, um den WIR-Gedanken zu popularisieren und um Individualismus als bürgerlich-reaktionär zu verunglimpfen. Die Gemeinsamkeit der WIR-SED-Ideologie mit der (elendig geheuchelten) Besorgnis um die armen, dummen "entwurzelten Individuen", denen man doch irgendwie beistehen sollte ... ist doch offensichtlich, In Wahrheit sind die armen entwurzelten Individuen einfach nur starke Charaktere, die weder als Abendlandverteidiiger auf Pegida-Demonstrationen mitlaufen noch mit einem Ärzte-T-Shirt als "Fans" zu St.Pauli-Fußballspielen gehen.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Feb 2017, 22:16)

Aber auch Du hast (mehrfach) davon gesprochen, dass Digitalisierung, Virtualisierung, soziale Netzwerke den Menschen kulturell entfremde und dass Traditionsrückbesinnung ein Gegenrezept dazu sei. Dass du also etwas - einfach gesprochen - "durchdrücken" willst. Oder ich hab das falsch verstanden ...?
Nein - ich habe nicht gesagt, dass Digitalisierung und Virtualisierung, soziale Netzwerke die Menschen kulturell entfremdet, sondern dass dadurch zur Reduzirung zwischenmenschlicher Beziehungen kommt UND ich habe Nachweise dafür gebracht.
schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Feb 2017, 22:16)Der Satz "Eine kutlruelle Entwurzelung ist immer auch eine soziale Entwurzelung" ist eine schön klingende Phrase, wirklich, und nicht mehr.
Nein, das ist keine Phrase, sondern Tatsache. Soziale Strukturen, Sozialisation sind Bestandteil einer Kultur - jeder Kultur. Die kannst du nicht auseinander dividieren.
schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Feb 2017, 22:16)Einfach mal einen Meter, eine Dekade zurücktreten und überlegen, wohin die Weltgesellschaft sich eigentlich wirklich hinentwickelt, hinentwickeln will.
Es gibt keine "Weltgesellschaft", weil es immer noch ganz unterschiedliche Gesellschaftsformen gibt.
In der Soziologie wird unter Gesellschaft eine, durch unterschiedliche Merkmale zusammengefasste und abgegrenzte Anzahl von Personen, die als sozial Handelnde miteinander verknüpft leben und direkt oder indirekt sozial interagieren.
Abgegrenzte Anzahl von Menschen, die miteinander direkt oder indirekt sozial miteinander interagieren. Nix mit Weltgesellschaft - nope!
schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Feb 2017, 22:16)]Bei allem Respekt für praktische Politik: Steuersätze verändern, Budget-Richtlinien anpassen, Kreiszusammenschlüsse organisieren ,.. alles ehrenwerte Tätigkeiten, aber für das grundlegende Problem, das sich u.a. im reflexhaften Traditionsrückbesinnungsbedürfnis äußert, müssen schon grundlegendere Gegenentwürfe her
Ach müssen - sagt wer? Fordert wer? Die Linken?
Wir leben immer noch in einer Demokratie und da entscheidet die Mehrheit und diese Mehrheit - bestehend aus politischer Mitte, Liberalen, Rechtsliberalen und rechtskonservativen, sind nicht der Meinung, dass (unbedingt) "grundlegendere Gegenentwürfe" hermüssen. Dieser Meinung sind nur Linke und Grüne und die bilden nicht die Mehrheit der Bevölkerung, aber als Befürworter von Diktatur (ob das "Kind" nun "Diktatur des Proletariats" genannt wird oder "Gendermainstream" genannt wird, die ideologische Basis ist die gleiche) beanspruchen sie die Deutungshoheit, was gut für die Menschen zu sein hat und sie wollen das durchsetzen.
schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Feb 2017, 22:16)]. Ich bestreite vehement, dass emotionale Bindungen mit traditionellen Bindungskröften identisch sind. Meine emotionalen Bindungen zu den mir nahestenden Menschen haben nix, aber auch gar nix mit Kulturdraditionen zu tun.
Nee wirklich nicht? Und deine Erziehung vollzog sich so vollkommen losgelöst von kulturellen Traditionen, vollkommen losgelöst, von der Kultur, in der du lebst, in die du hinein geboren wurdest?
schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Feb 2017, 22:16) Eine wirklich radikal andere Gesellschaftsvision muss her. In den kommenden Gemeinschaften (jenseits von Identität) wird Konsum, Geld, Neid keine Rolle mehr spielen.
Ach - muss sie das?
Und wer bestimmt das? Die Linken, die am liebsten alle, die über der SummeX verdienen per 75% Höhststeuersatz enteignen wollen?
Was für eine Gesellschaft schwebt dir denn so vor? Diktatur, Tyrannis oder was?
schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Feb 2017, 22:16) Statt dessen soziale Verantwortung, Solidarität. Und auf der anderen Seite werden sich alle identitären Bindungen vollständig auflösen. Es wird nur noch Individuen und frei schwebende, völlig separierte Teilgemeinschaften geben. Am Ende wird sich auch die gemeinsame Sprache als identitäres Merkmal auflösen. Warum ist das keine Ideologie? Warum ist das kein Aufruf zur verordneten Menschenschaffung? Weil der Zug ohnehin in diese Richtung läuft. Lieber aktiv beim Weichenstellen dabei sein als diesen Zug der Zeit sinnloserweise und mit Gewalt stoppen zu wollen. Weil es bedeutet, den objektiven Gang der Geschichte positiv umzudeuten statt in einem ewigen und völllig nutzlosen Lamento gegen den Zug der Zeit eine Traditionsrückbesinnung einzufordern.
Was DIR vorschwebt, sind Menschen ohne Identität, verunsichterte Menschen, ohne jedes Zugehörigkeitsgefühl, weil sie sich ständig neu orientieren (sich ständig "neu erfinden" müssen), weil es keinerlei Kontinuität in ihrem Leben und für sie gibt.
Ja selbstverständlich ist das Ideologie! Deine "Vision" - eigentlich eine Dystiopie - entstammt genau der Ideologie die schon einmal gescheitert ist, die wieder scheitern wird.
Niemand fordert Traditionsrückbesinnung ein, die findet statt - überall in Europa und nicht nur in Europa - ganz ohne Forderung.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Feb 2017, 22:37)

Das widerspricht doch nun wirklich diametral, um 180 Grad verdreht, allen realen beobachtbaren politischen Weltgegebenheiten. Bitte, wo auch immer: Türkei, Ungarn, Russland, Polen, möglicherweise neuerdings Frankreich oder Niederlande: In allen Fällen sind ganz klar und ohne jeden leisesten Zweifel die identitär Verwurzelten die manipulierten Antidemokraten und die identitär Entwurzelten die aufrichtigen wenigen selbständig denkenden Demokraten, Das Türkentum oder Ungarntum oder Franzosentum oder gar die islamische Identität als Garant für unabhängiges Denken? Wie verrückt und verwirrt kann man denn sein? Im Grunde entspricht eine solche Denkungsart der SED-Ideologie in der DDR unter dem Begriff "Unsere Menschen". "Unsere Menschen" war in der DDR der gebräuchliche Begriff, um den WIR-Gedanken zu popularisieren und um Individualismus als bürgerlich-reaktionär zu verunglimpfen. Die Gemeinsamkeit der WIR-SED-Ideologie mit der (elendig geheuchelten) Besorgnis um die armen, dummen "entwurzelten Individuen", denen man doch irgendwie beistehen sollte ... ist doch offensichtlich, In Wahrheit sind die armen entwurzelten Individuen einfach nur starke Charaktere, die weder als Abendlandverteidiiger auf Pegida-Demonstrationen mitlaufen noch mit einem Ärzte-T-Shirt als "Fans" zu St.Pauli-Fußballspielen gehen.
Na endlich lässt du deine Maske fallen.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(10 Feb 2017, 23:28)
Niemand fordert Traditionsrückbesinnung ein, die findet statt - überall in Europa und nicht nur in Europa - ganz ohne Forderung.
Naja. Schauen wir mal, was demnächst alles so stattfindet in Europa und der Welt oder schon stattgefunden hat. Und wie die Konzepte dagegen aussehen werden.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Zunder hat geschrieben:(10 Feb 2017, 14:59)

Ich hab's gerne konkret. Und wenn man solche unverbindlichen Allgemeinplätzchen auf ihren Realitätsgehalt untersucht, wird man feststellen, daß eine "kulturelle Entwurzelung des Individuums" in Deutschland letztmals 1933 ff stattfand.
Eine vernunftorientierte Kultur zeichnet sich gerade dadurch aus, daß sie sich verändert, ohne ihre Grundlagen zu zerstören.
Soziale Verwurzelung ist übrigens nicht Gegenteil, sondern Bestandteil von kultureller Verwurzelung, wobei ich den Begriff "Verwurzelung" ohnehin für ein bißchen problematisch halte. Er zielt auf ein organisch-naturbehaftetes Verhältnis, das dem eigentlichen Verständnis von Kultur widerspricht.
Nicht ganz unberechtig. Nenn' es einfach soziale Verantwortung und Solidarität.
Der für mich plausibelste Gegenentwurf zur Gemeinschaft, die auf sozialer, völkischer oder religiöser Homogenität beruht, ist nach wie vor die bürgerliche Gesellschaft, die die Beziehungen freier Individuen zueinander und zum Staat, resp. dem Gemeinwesen als Ganzes, durch ein gesichertes Rechtsverhältnis bestimmt. Diese Gesellschaft, zweifellos eine Errungenschaft der abendländischen Kultur, gilt es zu verteidigen.
Das sehe ich überhaupt nicht so. Diese Gesellschaft ist eine Errungenschaft der Aufklärung, der menschlichen Vernunft und der Idee universell gültiiger Menschenrechte.

Der jüngere historische Aufstieg des "Abendland"-Begriffs fand vor allem in der Romantik Anfang, Mitte des 19. Jahrhunderts statt und er war, ganz im Gegenteil gegen Aufklärung, Humanismus und Bürgerlichkeit gerichtet. Er ist auch nur eine Abkürzung für "christliches Abendland". Und an die Stelle von Vernunft, Menschlichkeit und Humanismus treten dort mystische Fiktionen wie die von Karl dem Großen als Ahnherrn aller abendländischen Menschen oder der "Niebelungentreue".
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Zunder hat geschrieben:(10 Feb 2017, 20:01)

Es ging um die "kulturelle Entwurzelung".
Die Kultur der Weimarer Republik war unter anderem geprägt von der Freiheit der Lehre, der Freiheit der Kunst, Meinungsfreiheit und so Zeugs.
Richtig. Und die Forderung nach "Traditionalismusrückbesinnung" war eine der wesentlichen geistig-kulturellen Ursachen für den Niedergang der Weimarer Republik und den Aufstieg der Nationalsozialisten. Ich hatte bis vor kurzem selbst die Hoffnung, dass die, die auf Tradition, Nation und Identität setzen, sich quasi ganz von selbst zerlegen werden, und das Ende der EU-Parlaments-Rechtsaußenfraktion ITS (Identität, Tradition, Souveränität) schien das auch zu bestätigen. Der Aufstieg der Putins, Kaczynskis, Wilders, Le Pens, Orbáns, Erdogans usw. usf. belehrte mich jedoch inzwischen eines Schlechteren. Ohne ein aktives zutun derer, die für eine Gemeinschaft jenseits von identität eintreten, wird sich dieser Prozess der Entdemokratisierung fortsetzen.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Selina »

schokoschendrezki hat geschrieben:(11 Feb 2017, 05:54)

Richtig. Und die Forderung nach "Traditionalismusrückbesinnung" war eine der wesentlichen geistig-kulturellen Ursachen für den Niedergang der Weimarer Republik und den Aufstieg der Nationalsozialisten. Ich hatte bis vor kurzem selbst die Hoffnung, dass die, die auf Tradition, Nation und Identität setzen, sich quasi ganz von selbst zerlegen werden, und das Ende der EU-Parlaments-Rechtsaußenfraktion ITS (Identität, Tradition, Souveränität) schien das auch zu bestätigen. Der Aufstieg der Putins, Kaczynskis, Wilders, Le Pens, Orbáns, Erdogans usw. usf. belehrte mich jedoch inzwischen eines Schlechteren. Ohne ein aktives zutun derer, die für eine Gemeinschaft jenseits von identität eintreten, wird sich dieser Prozess der Entdemokratisierung fortsetzen.
Kann ich alles unterschreiben. Bis auf eine kleine Kleinigkeit ;): Putin passt nicht in die Reihe dieser von dir genannten Nationalisten, weil die anderen alle nicht nur extreme Nationalisten, sondern zudem ziemlich finstere Rechtspopulisten sind, zu denen Putin nicht gehört (er ist sicher Nationalist in gewisser Weise oder besser Russland-Patriot, aber kein rechtsextremer). Und wenn wir (sorry für das Wörtchen "wir") nicht sehr aufpassen, könnte das in Europa unter Umständen in Richtung offener Faschismus gehen.
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