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Eines meiner Hauptargumente gegen die Islamkritik, vor allem solche die sagt "Im Koran steht aber..." oder die irgendwelche Koranverse zitiert und diese dann mit dem Handeln von Muslimen in Verbindung bringt und dann glaubt, diese Koranverse würden die unmittelbare Legitimation bilden z.B. Ungläubige zu töten, wo immer man sie trifft (Schwertvers) und solche Sachen.
Mein Argument ist dabei immer, dass sie hier Koranexegese und Rechtsfindung betreiben ohne, dass das irgendwelche Relevanz hat. Denn das Ziel der Islamkritiker ist ja eine Erklärung für das zu finden, was sie glauben an realen Phänomenen zu beobachten und das dann in ein großes Feindbild Islam einzuordnen, mit der Vorstellung, dass sei dann der Islam und die Muslime haben die Möglichkeit entweder ihren Islam so lange durch Wunschdenken zu einer einigermaßen menschlichen Religion zurecht zu stutzen, oder die Aussagen, wie die Salafisten, wörtlich zu nehmen und dann halt eben auch Gewalt gegen Ungläubige auszuüben, Frauen zu unterdrücken, Apostaten und Homosexuelle zu töten usw. usf.
Aber so läuft das halt nicht.
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Weil was ist denn der Sinn der Islamkritik? Es geht doch darum sich zu fragen, inwiefern sind Muslime in der Lage sich in die deutsche Gesellschaft einzugliedern, oder inwiefern gibt es Probleme, welche ihre Ursache in islamisch begründeten Regelungen haben? Inwiefern widersprechen die Verhältnisse in Ländern der islamischen Welt dem Standard der Menschenrechte? Was ist an Regelungen und Lehren des Islam auszusetzen, aus dem Blickwinkel eines aufgeklärten Humanisten, welcher die Menschenrechte hochhält und welcher sich Freiheit, Wohlstand und Gerechtigkeit für alle wünscht.
Wenn man sich nun anschaut was alles an Kritik angeführt wird, geht es im Kern eigentlich um einzelne juristische Auslegungen, die das Zusammenleben von Menschen betreffen und in den Rechtskompendien des klassischen Islams kanonisiert sind. Will heißen die Orthodoxie der vier großen sunnitischen Rechtsschulen und der schiitischen Rechtstradition. Konkret: die Ausführung der Körperstrafen, die Bestrafung von Homosexuellen Handlungen und außerehelichem Sex sowie Apostasie vom Islam, verschiedene Regelungen des Eherechts, welche vor allem Mädchen und junge Frauen benachteiligen, wie das Heiratsalter von 9 Jahren, die Möglichkeit eines Vormundes einer jungen Frau/einer Minderjährigen bzw. Jungfrau für diese eine Ehe ohne ihre Zustimmung einzugehen - das ist als Zwangsehe bekannt. Das Scheidungsrecht, welches die Frau stark benachteiligt, weil sie nur per richterlichem Beschluss sich scheiden lassen kann und unter Angabe von speziellen Gründen wie z.B. Impotenz und Wahnsinn des Ehemannes, während der Ehemann das jederzeit und sehr leicht tun kann. Das Erbrecht, wenn die Frau wenig erbt als der Mann, die Frage nach der Gültigkeit von Zeugenaussagen von Frauen, wenn die Aussage der Frau weniger bzw. die Hälfte wert ist als die eines Mannes. Die Beschneidung von Frauen. Die Stellung von religiösen Minderheiten innerhalb sich als islamisch verstehender Gesellschaften, die zwar als Schutzbefohlene einen gewissen Rechtssicheren Status haben, aber doch halt nicht 100% gleichberechtigt sind und die Herrschaft der muslimischen Mehrheit auf die ein oder andere Art anerkennen müssen. Das Verbot von Alkohol, Musik, freizügiger Kleidung und Schweinefleisch. Die Notwendigkeit der Ehefrau die Zustimmung des Ehemannes einzuholen für bestimmte Tätigkeiten, wie das Haus zu verlassen, arbeiten zu gehen, die Notwendigkeit dem Mann zu gehorchen, die Frage ob der Mann die Frau schlagen darf.
Ich weiß nicht ob ich etwas vergessen habe, das Thema Jihad ist wieder etwas Anderes, weil der Jihadismus als revolutionäre Ideologie ja Dinge macht die im Orthodoxen Islam gerade nicht vorgesehen sind, in dem politischer Pragmatismus und Gehorsam gegenüber dem Herrscher, und sei er noch so ungerecht, eine zentrale Rolle einnehmen. Ebenso ist eine revolutionäre Neudeutung der Schia von Khomeini und Anderen im Iran eine Neudeutung aus den 1960er und 1970er Jahren, ebenso wie die Sache mit dem Velayet-i Faqih, das gab es vorher alles gar nicht. Ich klammere das Thema Staatsrecht und Islam und Demokratie mal ein wenig aus, weil im klassischen Islam man diese Dinge alle viel entspannter gesehen hat, als heutzutage. Meiner Meinung nach liegt das Hauptproblem in dieser Sache beim politischen Willen und auch der Kompetenz der jeweiligen Akteure und weniger in der islamischen Dogmatik, die sich wie gesagt bisher noch mit jedem Herrscher abgefunden hat.
Ich sage man sollte sich mal fragen, wie kamen die islamischen Gelehrten zu obigen Rechtsregelungen?
Die Antwort ist durch Auslegung der religiösen Quellen, d.h. von Koran und den jeweiligen Hadith-Sammlungen mittels bestimmter Methoden, wie sie vor allem auf aš-Šāfiʿī zurückgehen. Das heißt man kann nicht einfach mal einen Koranvers lesen und wörtlich nehmen, sondern man muss den Koran als Ganzes betrachten, alle relevanten Hadithe in Erwägung ziehen, abwägen, womöglich noch alle möglichen anderen Aspekte in Betracht ziehen und kommt dann zu einer juristischen Meinung zu einer bestimmten Frage. Denn wie gesagt die Islamkritik bezieht sich ja hauptsächlich auf Rechtsauslegungen, wie ich sie oben aufgelistet habe und die in ihrer Gesamtheit dann das ergeben was man gemeinhin Scharia nennt. Diese Fiqh-Bücher bzw. Fatwa-Sammlungen werden dann in großen Kompendien gesammelt und im Laufe der Jahrhunderte weiter tradiert und kommentiert. Es gibt dann vor allem für den sunnitischen Islam, die Vorstellung, dass mit der Herausbildung und der Etablierung der vier großen Rechtsschulen die Tore der eigenständigen Rechtsfindung geschlossen habe und mit der Etablierung der sunnitischen Orthodoxie Rechtsmeinungen nur noch tradiert und es keinerlei Weiterentwicklung mehr gab in der Rechtsfindung und den Methoden der Rechtsfindung sowieso.
Nichts desto trotz werden Islamwissenschaftler nicht müde darauf hinzuweisen, dass gerade in der klassischen islamischen Zeit eine große Menge an Meinungspluralismus gegeben hat, es also je nach Rechtsschule im Detail sehr wohl eine große Breite an Meinungen gegeben hat und es eben nicht eine Meinung gab und die war für alle verbindlich sondern es gab zu fast jedem einzelnen Punkt ein Spektrum an Meinungen. Die Vorstellung es habe sich irgendwann ein islam-juristischer Konsens zu allen wichtigen Fragen herausgebildet ist einfach falsch, vielmehr wurde weitreichender Meinungsverschiedenheiten/Streit institutionalisiert und immer weiter überliefert, nur irgendwann hat die Menge an neuen Meinungen die zu diesem Streit hinzugefügt wurden wohl dann doch etwas nachgelassen. Und gerade dieser Pluralismus ist dann der eigentliche Wesenszug der islamischen Rechts- und Normenlehre. Thomas Bauer hat das in seinem Buch Kultur der Ambiguität in deutscher Sprache hingewiesen und man kann sich in einem Vortrag mal anhören wie das genau zu verstehen ist inklusive einiger Beispiele. Wenn man sich nun fragt wie weit diese Meinungsverschiedenheiten im klassischen Islam gingen, kann man natürlich aus moderner Sicht direkt sagen, nicht weit genug. Also mir wäre keine Rechtsmeinung in diesen klassischen Werken bekannt, nach der die Frau dem Mann z.B. im Eherecht auch nur annähernd gleichgestellt wäre und es wäre doch sehr überraschend, wenn man da derartiges finden würde. Warum das dennoch interessant ist, kommt weiter unten.
Was steht nun in dieser Scharia-Literatur der islamischen Gelehrten?
In diesen Rechtskompendien finden sich Anweisungen zu praktisch allen Dingen, welche im Leben der Muslime vorkommen können. Dabei gibt es für gewöhnlich zwei bzw. drei Kategorien oder Abschnitte. Am Anfang gibt es mitunter, nicht immer, einen Teil über die jeweiligen Glaubensgrundsätze einer Gruppe. ʿAqīda nennt sich das und hier gibt es gerade innerhalb der jeweiligen Strömungen für gewöhnlich wenig Diskussionsbedarf und entsprechend auch einen eher geringen Meinungspluralismus. Ansichten anderer Strömungen begegnet man dann mit apologetischen Schriften, deren Argumente sich im Laufe der Jahrhunderte bis heute auch kaum verändern. Für den Islamkritiker sind die Feinheiten der islamischen Theologie, z.B. wie man die Attribute Gottes denn nun genau zu verstehen habe, weitgehend uninteressant. Die Salafisten glänzen auf diesem Gebiet in Sachen Tauhid-Verständnis und Attributenlehre mal wieder damit, es besser zu wissen als alle Anderen. Die Glaubenslehre ist aber letztlich für die jeweiligen Muslime etwas, wo es wenig falsch zu machen gibt.
Der zweite Teil sind dann immer Regelungen zum ʿIbādāt, d.h. gottesdienstliche Handlungen, alles mögliche was den religiösen Ritus des Gläubigen betrifft. Das ist der eigentliche praktische Kern des Islam, die Regelungen zur rituellen Reinheit, das Gebet, Fasten, Pilgerfahrt(en), Almosengabe, Zakat-Pflichtabgabe usw. Das ist traditionell für den Muslim der Kern der Sache, die eigentliche Scharia, da wo sich das Individuum dem Willen Gottes unterwirft und welcher im Westen zu 99% Prozent unter Religionsfreiheit fällt und für den Islamkritiker normalerweise völlig uninteressant ist. Mit Ausnahme von den Themen Beschneidung sowie Essens- und Bekleidungsvorschriften. Aufgrund der Bedeutung dieser Regelungen wird hier jedes Detail diskutiert und je nach Rechtsschule und Strömung gibt es auch Unterschiede in den Details die für außenstehende lächerlich wirken, aber aus innerislamischer Sicht von allergrößter Brisanz sind. Wenn ein Muslim sein Leben lang aus Igoranz oder Dummheit sein Gebet falsch verrichtet hat, ist das ein ziemliches Drama. Auch sind das die Bereiche in denen sich die jeweiligen religiösen Strömung ernsthaft voneinander unterscheiden, das Gebet bei Schiiten und Sunniten ist unterschiedlich. Es gibt auch im Irak so eine Strömung, die einem zurückgekehrten 12ten Imam folgen. Eine der ersten Sachen die der gemacht hat um seinen Anhängern ein eigenes Profil und eine eigene Identität zu geben, war ihnen zu erklären wie das richtige Gebet eigentlich geht. Das die Salafisten in dem Punkt natürlich auch wieder alles besser wissen, als alle anderen versteht sich von selbst. Wie gesagt von der islamkritischen Perspektive ist das alles weitgehend unproblematisch, aber es sind vor allem diese Regelungen die ein Muslim als erstes in den Sinn kommt, wenn er von Scharia spricht.
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Der dritte Teil ist dann das worum es den Islamkritikern eigentlich geht - die Muʿāmalāt, d.h. zwischenmenschliche Verhältnisse. Angelegenheiten und Vorschriften die (primär) das diesseitige Verhältnis zwischen Menschen betreffen. Also ganz besonders Eherecht, Erbrecht, Personenstandsrecht, Vertrags- und Wirtschaftsrecht, Eigentumsrecht, Strafrecht und auch etwas Staats- und Völkerrecht. Und genau in diesen Rechtsregelungen finden sich das unter Anderem die zu beanstandenden Rechtsregelungen welche Frauen und Nicht-Muslime diskriminieren, "Unzucht" unter Strafe stellen und Körperstrafen verhängen. Das ist in seiner konkreten Auslegung nun aber natürlich zeit- und ortsabhängig und es gibt eine Fülle von Meinungen und Unterschieden, gerade auch zwischen den Rechtsschulen. Das hängt halt einfach mit kulturellen Unterschieden innerhalb der islamischen Welt zusammen, da an verschiedenen Orten ein anderes Gewohnheitsrecht herrscht. Zwischendurch gibt es dann immer wieder auch Sachen die man hierzulande vielleicht eher einem eigenständigen Werk über Ethik und rechtes Verhalten zurechnen würde, wie das richtige Verhalten der Ehefrau gegenüber dem Ehemann und ähnliches. Eine Gattung die es in der klassischen islamischen Literatur natürlich auch gibt, am Ende gibt es ja fast kein Thema über das nicht die Gelehrten nicht irgendwie geschrieben haben, bis hin zum richtigen Stuhlgang, Reinigung danach oder Verhaltensweisen beim Geschlechsverkehr - Dinge über die zu schreiben, gerade in Hinblick auf rituelle Reinheit, gar nicht so absurd ist wie man zunächst denkt. (Adab) In jedem Fall, wenn z.B. ein Islamkritiker hierzulande Scharia sagt, dann meint er meistens diese Regelungen, vor allem die, die offenkundig problematisch sind.
Aber es wird doch deutlich, dass das nur ein kleiner Teil der Regelungen sind, über welche die islamischen Juristen geschrieben haben und der Begriff Scharia meint aber all das zusammen. Er meint nicht nur ein paar problematische Regeln im zwischenmenschlichen Bereich, sondern alle Regelungen und Normen zwischen dem Gläubigen und Gott bzw. seine rituellen Verpflichtungen zu denen man sich verhalten kann wie man will oder zwischen den Menschen untereinander, Frau und Mann, Gläubiger und Gläubiger, Ungläubiger und Ungläubiger und an was man da sonst noch alles denken könnte.
Hier mal ein paar Beispiele, wo man im Inhaltsverzeichnis mal anschauen kann, dass ich gerade keinen Unsinn erzählt habe:
Shara'l al-Islam Vol. 1: Fi Masa'il al-Halal wal-Haram; Vol 2; Vol 3 von Muhaqqig al Hilli/al Awwal Wikishia Ein 12er Schiitisches Werk.
Da'im al Islam von Qadi al Nu'man Ein 7er Schiitisches Werk.
Auf Deutsch und hauptsächlich über Ibadat gibt es das von einem deutschen Konvertiten Reidegeld, Handbuch Islam, Inhaltsverzeichnis, archive.org - über die Qualität dessen was er da gemacht hat, kann ich wenig sagen, aber es ist schön so etwas mal auf Deutsch zu haben. Er versucht halt ein wenig die alten Regelungen in die heutige Zeit zu übertragen und ich habe da beim Eherecht mal reingeschaut, er kämpft da teilweise schon ziemlich mit dem alten Verständnis von Ehe (das ist nämlich tatsächlich nichts Anderes als ein Kaufvertrag und zwar der weiblichen Sexual- bzw. Reproduktionsorgane der Frau, im Gegenzug für Geld, Schutz, Unterhalt und eventuell sozialer Status für die Inhaberin der Reproduktionsorgane) und dem was heute eigentlich weltweit so üblich ist (eine Partnerschaft von Mann und Frau).
Erlaubtes und Verbotenes im Islam von Qaradawi ist ein Fiqh-Buch aus dem 20ten Jahrhundert, nicht mehr ganz neu und in einigen Punkten auch problematisch. (pdf Qaradawi ist ja ohnehin jemand, der manchmal solche Sachen sagt, manchmal aber auch solche:
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Wie gesagt, es gibt dann zu einzelnen Regeln natürlich immer auch verschiedene Meinungen, einen großen Meinungspluralismus der sich ja gar nicht vermeiden lässt und der in höchstem Maße systemimmament ist. Natürlich hat dieser Meinungspluralismus in vielen Fällen für die moderne Zeit nicht zum gewünschten Ergebnis geführt, aber angesichts der Umstände zeigt er auch, dass aus der Erfahrung islamischer Geschichte heraus eigentlich überhaupt nichts besonderes dabei ist, in der heutigen Zeit dann zu für den hiesigen Ort und Zeit angemessenen Regelungen zu kommen. Und es ist Aufgabe der heutigen Religionsgelehrten genau das zu machen und genau das machen sie ja auch und da wo sie es nicht machen, kann, muss und darf man das natürlich kritisieren. Das ist dann genau der Punkt wo die Islamkritik meines Erachtens einsetzen sollte, und auch der Kontext in denen man die "liberalen Modernisten" verstehen muss, die das ganze dann besonders schwungvoll angehen, während eher Konservative es bei Änderungen belassen, wo die Beibehaltung alter Regelungen offensichtlich Blödsinn und realitätsfremd wäre bzw. man sich nur lächerlich macht. Wie z.B. das Thema der Rechtmäßigkeit von Sklaverei. Man muss wie der Islamische Staat schon so richtig einen an der Waffel haben um das im 21ten Jahrhundert noch einführen zu wollen.
Wo auch bei Konservativen etwas Bewegung hereinkommt ist bei der Stellung der Frau, wie das Thema der weiblichen Beschneidung, z.B. beim erwähnten sunnitischen Gelehrten Qaradawi sehen, welcher zunächst weibliche Beschneidung für nicht verboten, später aber als Teufelswerk bezeichnet und es verboten hat. Auch ist z.B. im Iran die Partizipation von Frauen im öffentlichen Leben in der Arbeitswelt, bis zu einem gewissen Grad in der Politik, im kulturellen Leben usw. so groß, dass allzu konservative Vorstellungen nach der die Frau das Haus nicht verlässt, gerade in den großen Städten mit Millionen Einwohnern einfach völlig jenseits aller Realität ist. Da muss man islamisch neue Lösungen für neue Probleme finden, auch als ultra-konservativer Gelehrter - es geht gar nicht anders.
Das gilt für die islamische Welt, in der es in den letzten 100 Jahren natürlich durch die technologische Modernisierung, durch das Enstehung von großen Städten, modernen Nationalstaaten, Globalisierung und was weiß ich noch alles natürlich große soziale Umwälzungen und eine völlig neue Lebensrealität. Umso mehr natürlich für die Migranten im Westen die hier mit einer völlig neuen Situation zu tun haben, verglichen mit der Situation in der der klassische Islam entwickelt und über Jahrhunderte weiter tradiert wurde.
Es ist also alles andere als überraschend, dass wir heutzutage in der islamischen Welt und ganz besonders im Westen Versuche von islamischen Gelehrten sehen, die islamische Tradition zu aktualisieren und neue Lösungen für neue Probleme zu finden, natürlich erstmal unter Rückgriff auf die bestehende islamische Orthodoxie. Wo die dann am Ende ist oder zu offenkundig unsinnigen Ergebnissen führt muss man dann halt selbst mal schauen. Das klappt dann bei dem Einen besser als beim Anderen und am Ende werden die Lösungen ihre Leser und Anhänger finden die am besten funktionieren, jeweils den moralischen und kulturellen Präferenzen der Anhänger entsprechend. Dabei zeichnet sich ja schon der Trend ab, dass es im Westen bei uns in Richtung eines eher gemütlichen Euro-Islams geht, während man in der islamischen Welt viele Dinge nur ungern ändert, weil eine konservativ-gesinnte Mehrheit keinen Grund dafür sieht bzw. man Angst vor einer "Verwestlichung" des Morgenlandes hat. Teilweise werden Reformen auch wieder zurückgekommen, das ist aber nicht einheitlich. Auch der Einfluss der Salafisten spielt natürlich häufig eine Rolle, welche zwar alles neu interpretieren wollen und immer glauben alles besser zu wissen und ja auch nichts Anderes anstreben als eine Reform des Islam, ihr Islam aber doch ziemlich ungemütlich ist und auch ein ziemliches Problem mit Pluralismus hat. Es gibt aber natürlich auch in der islamischen Welt immer auch Bevölkerungsschichten, die liberal-islamischen Ideen sehr aufgeschlossen gegenüber stehen, die sind aber zahlenmäßig nicht unbedingt in der Mehrheit.
Darum ist auch dieses Theater mit der Islam braucht eine Reform völliger Blödsinn, weil die Reform und die Neuinterpretation der Tradition ist doch im vollen Gange, weil sich die Lebensbedingungen grundlegend geändert haben. Es ist halt nur so, dass viele die eine solche Reform verlangen nicht verstehen, auf welcher Ebene sich diese Modernisierung abspielt - nämlich auf die des islamischen Rechts, das schon immer die Haupttätigkeit der islamischen Gelehrsamkeit war. Man erwartet irgendwelche theologischen Neuerungen, die es aber natürlich so nicht gibt, weil sie am Kern der Sache vorbeigehen. Es braucht zeitgemäße Regelungen, welche die Religionspraxis und die Lebensrealitäten der Muslime heute in der islamischen Welt und im Westen wiederspiegeln. Man kann natürlich über theologische Überlegungen die Vorraussetzung schaffen, wie ich glaube Mouhanad Khorchide es macht, aber ich denke nicht, dass es sonderlich was bringt sich jetzt z.B. über das Gottesbild oder ähnliches Gedanken zu machen. Das gibt es natürlich auch, das sind aber die Salafisten mit ihrem Tauhid-Verständnis, aber ich wüsste jetzt nicht, dass liberalen Modernisierer das auch machen.
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Wenn man sich nun wieder in Erinnerung ruft was Islamkritik in Bezug auf Deutschland m.E. eigentlich machen sollte, nämlich sich zu fragen inwiefern der Islam bzw. nach den obigen Ausführungen kann man sagen die Scharia eigentlich ein Problem für die Integration in die deutsche Gesellschaft ist. Hier muss man nun erkennen, dass ein überraschend großer Teil der islamischen Normen und Rechtsregelungen völlig unproblematisch sind. Die Glaubensgrundsätze gehen den Staat nichts an, die rituellen Sachen ebenfalls nicht - mit Ausnahme der Beschneidung, bei Frauen in jedem Fall, bei Männern gab es ja letztens eine Diskussion dazu. Problematisch sind wenn dann, die verschiedenen Regelungen aus dem bereich Muʿāmalāt und ja auch da nur einige Teile, die einschlägig bekannt sind.
Der Witz an der Sache ist ja nun auch, dass selbst Teile der Regelungen zum Muʿāmalāt sofern es nicht ethische sondern tatsächlich auch in unserem Sinne juristischen Regelungen angeht, im Rahmen des deutschen Rechtssystems anwendbar sind. Natürlich nur solange sie nicht fundamentalen Grundsätzen der hiesigen Ordnung widersprechen. Entweder über Regelungen im Internationalen Privatrecht, durch Ausnutzung der Vertragsfreiheit oder eben außergerichtliche Vereinbarungen. Vorraussetzung ist natürlich, dass auf allen Seiten Freiwilligkeit besteht, nichts sittenwidriges passiert und man sich nicht strafbar macht. Wenn beispielsweise in einem Testament steht, dass gemäß islamischer Regelungen die Frau weniger vom Erbe bekommt, kann man dagegen wenig machen und man kann in einem Ehevertrag natürlich auch hineinschreiben, dass die Frau z.B. im Falle einer Scheidung Anspruch auf eine Morgengabe/Mahr/saduq hat. Ebenfalls lässt sich das Zinsverbot natürlich hierzulande völlig problemlos umsetzen, weil niemand ist gezwungen Zinsen zu nehmen, wenn er jemandem Geld leiht und das Islamische Bankenwesen ist ja bereits ein Teil der Internationalen Finanzwelt, der gerade mit Hinblick auf die Finanzkrise sehr positiv zur Kenntnis genommen wurde.
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Das gilt selbstverständlich nicht für andere Dinge die eindeutig dem deutschen Recht widersprechen, wie die Verheiratung von Minderjährigen oder so Sachen Zwangsehen und alles was in den Bereich des Strafrechts fällt sowieso nicht. Aber daran kann man erkennen, dass wenn man sich mal nicht auf irgendwelche grundsätzlichen theoretischen Debatten versteift, wie ob nun Gott oder das Volk der Gesetzgeber sind, lässt sich auf der praktischen Seite vieles was in der Scharia steht, weitgehend problemlos mit dem säkularen Recht in Deutschland vereinbaren. Natürlich unter gewissen Vorraussetzungen.
Was nun die problematischen Teil angeht sind die Damen und Herren Islaminterpreten gefragt sich mit islamischen Quellen und der islamischen Tradition auseinander zu setzen und der ohnehin auf Pluralismus und Meinungsvielfalt ausgerichteten Normen- und Rechtsfindung weitere Meinungen und Interpretationen hinzuzufügen, welche das Leben in einem säkularen Rechtsstaat z.B. in Deutschland widerspiegeln. Übrigens sollte dabei allen Beteiligten klar sein, dass wir in Deutschland nicht in einem christlichen Land leben sondern in einer säkularen Land, in dem vom Grundsatz her natürlich alle Religionen gleich behandelt werden. Auch wenn sich natürlich auch religiöse Akteure zu politischen Debatten äußern dürfen - wie man es ja bei der Sache mit der Beschneidung erleben durfte.
Für die modernen Islaminterpreten und Interpretinnen gibt es genügend Anknüpfungspunkte von modernistischen Denkern aus Syrien, Ägypten, der Türkei, Iran und Indien. Man kann versuchen neue Wege zu finden, die Quellen zu lesen, indem man sich z.B. fragt was eine bestimmte Regelung, Anweisung oder was auch immer, eigentlich für einen Sinn hatte und ob dieser Sinn durch diese Regelung heutzutage denn überhaupt noch umgesetzt wird. Dasselbe gilt natürlich für die Interpretation des Koran, welche Regelungen sind für eine bestimmten Fall, was besitzt allgemeinen Charakter. Was sind die Werte und Prinzipien des Islam bzw. der Scharia und was ist bloßer je nach Sitaution veränderlicher Wortlaut. Gerade in Deutschland wird diese Schaffung eines modernen Euro-Islams, welcher auf die Bedingungen des Lebens in Europa ausgerichtet sein soll und der sich damit lediglich in die Vielfalt des real existierenden Islams einordnen wird, ja massiv gefördert. Durch die Schaffung der Lehrstühle für Islamische Theologie, so ein bisschen hineinwirken in dieses Projekt soll ja auch die historisch-kritische Forschung der Islamwissenschaftler in Berlin. Aber auch durch die Einführung eines islamischen Religionsunterichts, wo die Leute die an den hiesigen Islaminstituten ausgebildet wurden, dann auch ein Auskommen finden können, gleichzeitig auch die Emanzipation von ausländische Organisationen wie der Ditib fördern.
Die Entwicklung eines Euro-Islam geschieht ja auch nicht, weil der Staat oder die deutsche Mehrheitsgesellschaft das so will, sondern weil der in Deutschland gelebte Islam mehrheitlich(!) ja längst sehr stark säkularisiert ist und kaum einer ernsthaft der Meinung ist man solle doch Frauen beschneiden oder sich darüber empört, dass vor Gericht die Aussage von Mann und Frau gleich viel wert ist. Es bleibt ja ohnehin jedem selbst überlassen ob er in seinem Alltag das Vollprogramm der islamischen Rechts- und Normenlehre umsetzt oder eben nur die Teile die jemand für wirklich notwendig hält. In der Realität ist für die meisten Muslime in Deutschland ja ohnehin so, dass ein Großteil dessen was unter "Mu'amalat" steht im Alltag völlig irrelevant ist. Was nun passiert ist, dass die islamische Lehre diesen Schritt den ein Großteil der Muslime längst durch das Alltagsleben gemacht haben auch theoretisch reflektieren und begründen. Die religiöse Praxis geht der religiösen Theorie also mal wieder voraus.
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Ob es dazu dann großartig theologische Neuerungen und Grundsatzdiskussionen braucht, eine komplett modernisierte Koranexegese oder ob man allein mit den traditionellen islamischen Methodenrepertoire zu einem vernünftigen Ergebnis kommt, dass müssen die islamischen Theologen und Gelehrten schauen. Das was man natürlich erwarten kann, ist dass die Regelungen zu bestimmten Aspekten die problematisch sind mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in einem säkularen Rechtsstaat in Übereinstimmung gebracht werden. Und das geht und das wird gemacht, es sind halt noch nicht alle an allen Orten auf der Welt davon überzeugt und das wird sich wohl so schnell auch nicht ändern.Wer sich nicht voll verschleiert, wird ausgepeitscht. Wer stiehlt, wird amputiert. Wer die Religion wechselt, wird getötet. Für all das steht die Scharia, das islamische Recht.
Muslime verbinden mit dem Wort meist etwas anderes. Für sie ist „Scharia" die rechte Ordnung, der Weg zu Gott, das gute Leben. Auch für Juristen hat das Wort einen anderen Klang. „Die religiösen Vorschriften der Scharia genießen den Schutz des Grundgesetzes nach Art. 4", heißt es in einem Text des Deutschen Bundestages.
Was ist die Scharia? Bedroht sie unser Recht? Darüber spricht Wolfgang Reinbold mit Prof. Dr. Mathias Rohe, Direktor des Zentrums für Islam und Recht in Europa an der Universität Erlangen-Nürnberg, und dem Religionswissenschaftler Dr. Ibrahim Salama von der Universität Osnabrück.
Worauf will ich nun hinaus?
Ich erlaube mir darauf hinzuweisen, dass der übergroße Teil der Islamkritik - sofern sie Beachtung verdient und "den Finger in die Wunde legt" und nicht einfach irgendwelches dummes Zeug daher redet - bezieht sich praktisch ausschließlich auf eine Reihe von juristische Regelungen die im klassischen Islam von der dortigen orthodoxen islamischen Rechtswissenschaft entwickelt wurden und welche heutzutage noch nicht von allen vollständig abgeschafft sind, teilweise auch wieder eingeführt wurden und mit unseren europäischen Verständnis von Grund- und Menschenrechten und allgemeiner Moral nicht vereinbar sind. Ein großer Teil der von dieser Orthodoxie entwickelten Regeln und Normen sind unbedenklich und unproblematisch, einige Teile davon sind es aber dann halt doch.
Wenn man nun sinnvoll Islamkritik betreiben will, dann sollte man meines Erachtens nicht irgendeine infantile Koranexegese betreiben oder irgendwelche halb verstandenen Sachen oder Erfahrungen verallgemeinern, sondern man muss sich anschauen wie bestimmte Gruppen, Gelehrten und Einzelpersonen zu bestimmten, bevorzugt den potenziell problematischen, Sachverhalten stehen. Das heißt man muss sich den Islam anschauen, welcher auch tatsächlich als wahrer Islam vertreten wird und sich keinen eigenen zurecht interpretieren. In dem Bewusstsein, dass eine Pluralität von Meinungen die Norm sind und man jetzt nicht - übertrieben gesagt - anfangen muss Korane zu verbrennen weil irgendjemand eine verstörende Rechtsmeinung von sich gegeben hat. Man muss sich problematische Phänomene anschauen wie eben die Zwangsehen und man muss erkennen, dass bestimmte Rechtsmeinungen die Ursache davon sind - nämlich, dass der Vormund in der Lage ist minderjährige Kinder zu verheiraten, sogar ohne direkte Zustimmung des Mädchens und dann auch ein Vollzug der Ehe durchaus vorgesehen ist. (Ein Fall der jüngst medial wahrgenommen wurde: Rap-Video der Frau - Sonita Alizadeh, hier spielte auch das Kassieren der Mitgift für die Frau eine wichtige Rolle)
Wenn man sich dann aber halt die Rhetorik von Ayaan Hirsi Ali, Necla Kelek, Abdel Samad und anderen ansieht, welche ihre persönlichen negativen Erfahrungen zu einer Polemik gegen den Islam als Ganzes ausweiten, dann mögen sie zwar auf allgemein als problematisch bekannte Dinge hinweisen, dies aber mit einer anti-islamischen Polemik verbinden, die sehr öffentlichkeitswirksam ist, aber letztlich dann wieder selbst zu verallgemeinernd und auch an das falsche Publikum gerichtet. Nämlich nicht die Muslime sondern die Islamkritiker, vor allem die etwas depperten.
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Professor Mathias Rohe referiert zur Frage "Islamisches Recht und säkulare Gesellschaft - Ist die Rennung von Staat und Kirche mit den Prinzipien des Islam vereinbar?"