In der hiesigen Islamdiskussion gilt der Koran als das Buch des Islam und wer den Koran kennt, der kennt den Islam. So häufig die Logik, die natürlich Unsinn ist, da sich die islamische Überlieferung auch auf Hadithe und die Prophetenbiographien und diverse andere theologische Werke stützt, da der Koran eben nur eine, wenn auch die wichtigste Quelle ist. Nichtsdestotrotz fallen dann so Sätze wie „Ich habe den Koran von Anfang bis Ende gelesen und da habe ich ...“ oder gegenüber Salafisten dann gerne mal „Sie kennen den Koran sicher besser als ich, aber ...“ . Darüber hinaus heißt es ja immer, man solle die vielfach zitierten Stellen die mutmaßlich zur Gewalt oder Unterdrückung von Frauen oder Andersgläubigen etc. aufrufen im Kontext lesen. Von daher besteht ein gewisses Interesse auch bei beiläufig Interessierten sich einmal schlau zu machen.
Allerdings wenn man den Koran aufschlägt dann kommt bereits die große Enttäuschung, kein Inhaltsverzeichnis, lediglich Sure 1, kurz darunter oder auf der nächsten Seite Sure 2 und wenn man es sich dann tatsächlich antut den Text von Anfang bis Ende zu lesen, wird man in Sure 2 mit einem Konglomerat aus allem Möglichen konfrontiert. Es wird schnell klar, das so zu lesen macht nicht wirklich Sinn.
Der Grund hierfür ist, dass der Koran eben nicht wie die Bibel aufgebaut ist, eine Sammlung von Geschichten und Chroniken, die die Heilsgeschichte erzählen, sondern es ist eine Sammlung von Texten die banalerweise der Länge nach geordnet sind. Es gibt keine inhaltliche oder chronologische oder sonstige Entwicklung die sich von Anfang bis Ende des Gesamtbuches durchzieht bzw. entwickelt.
Aus diesem Grunde haben hiesige Wissenschaftler Listen der Koransuren in chronologischer Reihenfolge erstellt, sie stützen sich dabei auf äußerliche und inhaltliche Merkmale der Koransuren und natürlich, vor allem was die grobe Chronologie angeht, die islamische Überlieferung. Diese Chronologie ist im Detail dem Wikipedia-Artikel Geschichte des Korantextes zu entnehmen. Die Details kann man dort nachlesen, aber die Reihenfolge der Suren sieht im wesentlichen so aus:
1. Frühmekkanische Periode 96, 74, 111, 106, 108, 104, 107, 102, 105, 92, 90, 94, 93, 97, 86, 91, 80, 68, 87, 95, 103, 85, 73, 101, 99, 82, 81, 53, 84, 100, 79, 77, 78, 88, 89, 75, 83, 69, 51, 52, 56, 70, 55, 112, 109, 113, 114, 1
2. Mittelmekkanische Periode 54, 37, 71, 76, 44, 50, 20, 26, 15, 19, 38, 36, 43, 72, 67, 23, 21, 25, 17, 27, 18
3. Spätmekkanische Periode 32, 41, 45, 16, 30, 11, 14, 12, 40, 28, 39, 29, 31, 42, 10, 34, 35, 7, 46, 6, 13
4. Medinische Periode 2, 98, 64, 62, 8, 47, 3, 61, 57, 4, 65, 59, 33, 63, 24, 58, 22, 48, 66, 60, 110, 49, 9, 5
Diese Chronologie weicht insofern wesentlich von der klassischen islamischen Chronologie ab, als das diese Sure 96 als erste Sure versteht. Einer außerkoranischen Überlieferung zur Folge soll Mohammed den Erzengel Gabriel in einer Höhle angetroffen haben, welcher ihm befahl vorzulesen, er konnte jedoch nicht und wurde dann mit mehr Nachdruck dazu bewegt nun doch vorzutragen, woraufhin Sure 96 Vers 1-5 vorgetragen wurde. Der Hauptgrund für diesen Bezug ist, dass das erste Wort von 96,1 „iqra“ dt trag vor, dem iqra „trag vor“ aus dem Hadith über Gabriel entspricht. Es ist jedoch aus historisch-kritischer Sicht davon auszugehen, dass es sich um eine nachträgliche Tradition handelt, die dazu biblischem Vorbildern ähnelt (2. Mos 3:11, Jeremia 1:6). Eine sehr bekannte Forscherin Angelika Neuwirth geht z.B. davon aus, dass die „Trostsuren“ 93, 94, 106, 107 und 108 als die frühesten Suren anzusehen sind.Im Rahmen des Corpus Coranicum wurde Nöldekes Chronologie zudem hinsichtlich der frühmekkanischen Suren weiter verfeinert. So hat Nicolai Sinai anhand des Parameters der "strukturellen Komplexität" die Suren in drei Gruppen eingeteilt. Die Suren der Gruppe I (93-95, 97, 99-102, 104-108, 111) enthalten 4 bis 11 Verse und weisen eine starke innere inhaltliche Kohärenz auf. Die Suren der Gruppe II (73, 81-82, 84-96) sind länger (15-25 Verse) und lassen sich bereits in verschiedene thematische Einheiten gliedern. Die Suren der Gruppe III schließlich sind bis zu 40 Versen lang und gliedern in sich eine größere Anzahl von thematischen Einheiten. Die Gruppe III ist noch einmal unterteilt in Gruppe IIIa (53, 74, 75, 77, 78, 79) mit einer Anzahl von Silben pro Vers, die ähnlich niedrig ist wie in Gruppen I und II, und Gruppe IIIb (51, 52, 55, 56, 68, 69, 70), in der die Länge der einzelnen Verse erheblich höher ist. Sinai betrachtet diese Gruppen als chronologisch aufeinanderfolgende Stufen des koranischen Textes.[6]
Gruppe I wird von Sinai noch weiter in verschiedene thematische und formale Textcluster unterteilt: a) die mekkabezogenen Suren 105 und 106, b) die Suren 95, 102, 103, 104 und 107 mit Ankündigungen des Jüngsten Gerichts, c) die Suren 99, 100, 101, 111 mit kurzen eschatologischen Bildern, d) die Trostsuren 93, 94 und 108 und e) Sure 97, die die Kraft der Offenbarung thematisiert. Sinai macht deutlich, dass er diese Einteilung ebenfalls als eine chronologische versteht.
Das spannende ist nun, dass man anhand dieser Chronologien den Korantext bzw. die koranische Offenbarung in ihrer historischen Entwicklung lesen kann. Quasi als Mitschrift einer Offenbarung hatten die koranischen Texte ja nicht nur den Charakter einer Offenbarung, sondern auch liturgischen Charakter. Dieser lässt sich bei vielen Suren anhand der literarische Struktur erkennen. So folgt bei einigen Suren auf eine hymnische und polemische Einleitung ein erzählerischer Mittelteil und ein polemischer lehrhafter oder hymnischer Schlussteil. Als Beispiel Sure 37, hier 1. Teil (1-74) 2. Teil (75-148) 3. Teil (149-182). Eine solche Komposition könnte auf eine gottesdienstähnliche Liturgie hindeuten, bei dem diese Texte zum Einsatz kamen. Diese Struktur fehlt bei den ganz kurzen ersten Suren, deren liturgische Bedeutung eher als Gebete oder eben Warnungen/Ausrufe eines (erst einmal einsamen) Predigers zu verstehen sind.
Ich hoffe in diesem Strang eine westliche historisch-kritische Lesart des Koran aufzeigen zu können, um so den Text für mich selbst und auch interessierte andere User zu erschließen. Gerade als Nicht-Moslem ist das spannend, weil man sich so einen Weg zunächst einmal abseits späterer islamischer Traditionen bahnen kann. Dabei werde ich bei Gelegenheit auch die Argumente und Gegenargumente revisionistischer Ansätze darstellen, die die historische Authentizität des Korantextes bezweifeln und ihn entweder auf einen christlichen Urtext zurückführen oder seine Entstehung 100-200 Jahre später verlegen wollen und dabei die gesamte frühislamische Geschichte einer Revision unterziehen wollen. Das ist dann ein Kreis an Forschern, der sich mit seiner „historisch-kritischen“ Forschung zum Koran von den Autoren absetzt, auf die ich mich eher beziehe.
http://www.deutschlandfunk.de/eine-unge ... e_id=84888
http://www.deutschlandfunk.de/musik-und ... _id=318396
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Nicolai Sinai - Die Heilige Schrift des Islams: Die wichtigsten Fakten zum Koran (!!!)
Auch relevant, zur Entstehungsgeschichte/Redaktionsgeschichte des Korans (wichtig die Redaktion unter Uthman und unter Abd al Malik):
https://de.wikipedia.org/wiki/Koran#Die ... des_Korans
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