H2O hat geschrieben:(02 Jan 2019, 11:10)
@ schokoschedretzki:
Sie sind aber tüchtig dabei, den Maastrichtvertrag zu verreißen. Über allen kommerziellen Dingen steht in der EU seit Anbeginn das gemeinsame Wertegerüst des demokratischen Rechtsstaats mit Gewaltenteilung und unabhängiger Justiz. Wenn Ungarn diesem Wertegerüst entspricht, dann hat es in der EU seinen verdienten Platz. Verfehlt Ungarn nach erfolgreich bestandener Eignungsprüfung durch Verfassungsänderungen das Wertegerüst, dann gibt es Ärger mit dem EuGH, verbunden mit Strafzahlungen für jeden Tag, an dem das Land nach Urteilsverkündung die beanstandete Abweichung vom EU-Wertegerüst nicht beseitigt hat.
Ich glaube, Sie werden sich an das schier unglaubliche Gezerre um Maaastricht 1992 noch erinnern können. Im Prinzip stand für viele tatsächlich die Umwandlung der "Wirtschaftsgemeinschaft" EWG/EG in eine Wertegemeinschaft Europa zur Debatte. Es ist aber im Prinzip eine WIrtschafts- und Währungsunion
geworden. Es hätte auch anders kommen können. Ist aber nicht! Im Zentrum des Maastricht-Vertrags stehen Wirtschafts-, Währungs-, Handels- und Sozialfragen. Und eben nicht Wertefragen. Auch wenn diese rechtlich-formal verankert sind.
Das hat jüngst Polens Regierung sehr schnell bewegt, im Sejm durchgewunkene Verfassungsänderungen zurück zu nehmen. Zur "Gesichtswahrung" hat Polen gegen das Urteil Berufung eingelegt... aber damit werden alle Parteien im Prozeß in aller Stille umgehen... und den Streit beilegen. Mich sollte es wundern, wenn nun längere Zeit kein Urteil gegen ungarische Verfassungsänderungen erlassen werden sollte.
Dazu ist es ohnehin zu spät. Nicht erst die geplanten Verfassungsänderungen sondenn die ganze neue Verfassung selbst (von 2011, da war Ungarn bereits EU-Mitglied) entspricht eigentlich nicht den "Werten der EU" und der Vorstellung von Demokratie. Nur zur Veranschaulichung der Absurdität: Ungarn hat sich in dieser Verfassung von der Selbstbezeichnung "Republik" verabschiedet und sieht sich verfassungsrechtlich dennoch als "RepubliK". Quasi als Königreich ohne König. (Naja, nicht ganz ohne König ...
) Vergleiche mit Polen werden häufig gezogen, aber, ganz wichtig (Sie werden das wissen): Die PiS wird nach dem Ausscheiden der britischen CP politisch endgültig isoliert dastehen. Orbáns Fidesz dagegen nach dem Richtungsentscheid Weber vs. Stubb integrierter als irgendwann zuvor. Auf die wirtschaftliche Entwicklung scheint all dies kaum einen bedeutenden Einfluss zu haben. Haben vielleicht die entsprechenden Industrieverbände ohnehin mehr Einfluss sowohl in Brüssel als auch in den Ländern als die gewählten EU-Parlamentsfraktionen?
Sie haben zwei merkwürdige Sachverhalte getrennt behandelt: Einmal reiben Sie sich an großen deutschen Investitionen in Ungarn, mit einer brummenden Auslastung, anderseits beklagen Sie die Abwanderung von Fachkräften ins westliche EU-Ausland, sprich: Deutschland, Österreich. Im Grunde hätte also die deutsche Wirtschaft noch mehr gut bezahlte Arbeitsplätze in Ungarn aufbauen sollen! So ungefähr ist auch die Sachlage in Polen. Deutsche Investoren gründen/kaufen polnische Betriebe als Teil des dann internationalen Unternehmens. Einige Nationalisten wollen, daß diese Ausgründungen nationalisiert werden sollen... als ob dadurch in Polen auch nur ein einziger zusätzlicher Arbeitsplatz gewonnen werden würde.
Dann ist ein falscher Eindruck entstanden. Ich versuche - soweit einem das überhaupt irgendwie möglich ist - sachlich und unvoreingenommen die Ist-Lage zu schildern. Zusätzliche Arbeitsplätze sind weder in Polen noch in Ungarn das Problem. DIe Arbeitslosenquote ist
dermaßen niedrig, dass man eigentlich von Vollbeschäftigung reden müsste. Sonst hätte man ja auch nicht ausgerechnet - wie in Ungarn - die Zahl der möglichen Überstunden erhöhen müssen. Die Abwanderung bzw. das Nichtvorhandensein von Fachkräften ist das Problem. Gänzlich anders als in Italien oder Spanien.
Die international tätigen "deutschen" Unternehmen bringen Marktzugänge mit, Betriebsorganisation, fehlendes know-how und Investitionsgelder im Mrd € Bereich. Alles Dinge die Polen (mit welchen Produkten?) erst einmal entwickeln müßte. Damit wird die Abwanderung von Fachkräften gebremst, die dennoch sehr hoch ist. Aus meiner Sicht ist die engstmögliche Zusammenarbeit der deutschen und der polnischen Wirtschaft und Politik das beste Mittel, in Polen rasch Wohlstand überall im Lande zu schaffen. Das war und ist doch auch das Ziel der EU!
Mitte/Ende der 90er war die Stettiner Werft die größte in Europa und die fünftgrößte der Welt. Heute ist (so gut wie) nix davon übrig. Nur als Beispiel. Und bekanntermaßen stellt die Region um Katowice etwas ähnliches dar wie das Ruhrgebiet in Deutschland. Es sind also nicht so sehr
Aufbau- sondern vielmehr
Umbruch-Prozesse, die die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung in Mittelosteuropa prägen.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)