Nomen Nescio hat geschrieben:(11 Sep 2017, 11:48)
in einem anderen strang wurde was geschrieben, daß ein eigener thread wert ist.
wer hat hier recht, wenn man über recht reden kann. machte nicht schon heinemann den unterschied zwischen deutschen und nazis? sonst wäre
doch rede von einer kollektivschuld, fand er und finde ich.
was findet aber ihr?
Ahoi, NN!
Es hängt alles davon ab, aus welcher Perspektive das Geschehen betrachtet werden muss.
Wenn die Deutschen die Möglichkeit hatten, frei zu wählen, wie in der Weimarer Republik, dann ergeben sich daraus einige Konsequenzen:
Das Regierungssystem/die Staatsform ist immer Ausdruck eines Mehrheitswillens, der durch Entscheidungsprozesse zustande kommt. Die Gesellschaft kann also die Form legitimieren, in der sie leben will.
Deutschland wurde keine Räterrepublik. Die Mehrheit (Rechtsaußen plus Demokraten) wollte das nicht. Russlands gescheiterte bürgerliche Regierung war Warnung genug.
Deutschland war eine Krisenrepublik. Die demokratische Mehrheit existierte, langfristig, nicht. Kommunisten, Demokraten, Rechte suchten nach ihren eigenen Lösungen.
Deutschland wurde zum Reich, erneut. Dafür fand sich eine Mehrheit:
1. Es gab die Nazis als Hauptakteur, aber eben so auch einige (nicht wenige) deutsche Milieus, die die Nazis legitimierten, ohne Nazis zu sein (so die Konservativen und die "Ostjuden").
2. Eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung verhalf den Republikfeinden zur Macht (Hindenburg -> Hitler), das, obwohl jedem klar war, dass es dabei um Antisemitismus und Militarismus und Oligarchie/Autokratie gehen wird. Oder wie es Tucholsky sagte: Hindenburg sei Republik auf Abruf.
3. Die Empathie für Minderheiten, besonders für die Juden, war in der deutschen Bevölkerung merklich gering. Das Unrecht, das man den Juden angetan hatte, wurde strikt ausgeblendet, auch nach dem Krieg. Hilfe für Juden während des Krieges blieb recht gering. Neuere Forschungen haben gezeigt, wie sehr sich Deutsche, vermeintliche Helfer wie Nicht-Nazis, an den Juden bereichern konnten.
4. Die deutsche Gesellschaft erbte aus dem 19. Jhdt. nicht die fr. Revolution, sondern den Konservativismus und Treischke lebte noch in den Köpfen.
Nun muss man also mindestens den Teil, der Hitler legitimierte, zur Rechenschaft ziehen. Kann man aber die SPD, DDP, Zentrum etc. zur Rechenschaft ziehen? Immerhin erzielten sie auch beachtliche Ergebnisse und Mio. deutscher Stimmen. Hindenburg gewann mit dünner Mehrheit. 1 Mio. Deutsche verhalfen ihm zum Sieg, mehr nicht. Demzufolge hätten sogar die Kommunisten mit ihren Stimmen für die Demokraten all das verhindern können.
Nein, die Deutschen als Kollektiv sind m.E. sicherlich nicht Schuld, was die Zeit vor dem Reich betrifft, sonst gäbe es die demokratischen Allianzen nicht. Was aber nach der Republik? Die Jugend im dritten Reich verlängerte den Krieg durch Arbeitsdienste etc. um mind. ein Jahr. Der Militarismus ließ nur wenige an Hitler zweifeln, besonders dann, als er alte Feinde besiegte. Der Kaiser wurde durch zivilen Ungehorsam zu Fall gebracht, Hitler trotz zivilen Gehorsams. Ja, ich gebe auch der damaligen Jugend Schuld an vielen Dingen. An der Ermordung der KZ-Insassen im letzten Kriegsjahr. An den Massakern von Lauban. Am fanatischen Widerstand. An der Ermordung von denjenigen, die nicht mehr kämpfen wollten. Aber sie waren auch nur ein Teil der dt. Bevölkerung.
Aus denselben Gründen gab es nach dem Krieg individuelle Verfahren, keine kollektiven Bestrafungen (mal von den Sowjets abgesehen): Man konnte den Teil der Bevölkerung, der sich keines Verbrechens schuldig gemacht hatte, einfach nicht bestrafen.
Soviel zur historischen Perspektive. Aber aus einer anderen Perspektive kann ich ebenso gut zustimmen, von "den Deutschen" zu reden: Kann man nicht jeden zur Schuld verurteilen, so kann man jedoch m.E. jeden zur Verantwortung berufen. Mord, Hass, Krieg, Beschränkung von Rechten etc. kann ich mit Recht zu jenen "Werten" zählen, die gefährlich, illegal und zu höchst schädlich sind. Ich kann also einem rational denkenden Wesen, Mensch, die Fähigkeit zuschreiben, sich nicht zum Mord hinreißen zu lassen. Wer mordet, selbst im Affekt, wird bestraft. Konsens seit der Aufklärung. Und so verlange ich von mir und den anderen Deutschen, weder zu morden noch all das andere zu tun. Hitler dient dabei als mächtiges Beispiel und Erinnerung, dass Verantwortung wichtig ist: Obiger Konsens betrifft jeden; wenn die Guten nichts tun, siegt das Böse auch so (frei nach Burke). Also ist die Verantwortung, die wir in der Geschichte verifizieren, teilweise mit der Geschichte verbunden. Legt man also großen Wert auf den moralisch-ethischen Aspekt, weniger den historischen, dann kommt man nicht umhin, die Verantwortung als das idealerweise von jedem Erreichbare zu begreifen: Ein moralisches "Wir" der Gegenwart ist das "Wir" der Vergangenheit.
Ich kann also euch beiden zustimmen. Je nach Kontext und Absicht ist beides angebracht. In einer strikten historischen Diskussion würde ich niemals behaupten, die Deutschen seien allesamt mit den Nazis gleichzusetzen, aber ebenso kann ich in einer etwas persönlicheren Stimmung nicht meine Enttäuschung darüber verbergen, dass die Deutschen erst im Dunghaufen des Fanatismus untergehen mussten, um endlich Verantwortung übernehmen zu können.
Ich bin übrigens generell der Meinung, weniger über Schuld, mehr über Verantwortung zu reden.
gentibus solidaritas, una fit humanitas.