Diskursant » Sa 23. Aug 2014, 00:46 hat geschrieben:
Die historische Notwendigkeit erwies sich mit dem Überfall der deutschen Imperialisten + Militärs auf die SU . Ob unter Hitler einem Schleicher oder Seekt. DieLebensraumimOsten-Parole steckte seit langer Zeit in den Köpfen dieser Kreise.
Die SU musste ohne wenn + aber gegen eine feindliche Außenwelt gerüstet sein.
Dieses historisch einzigartige Projekt konnte nur durch eine wohlorganisierte
kollektiv orienterte Diktatur bewerkstelligt werden.
Ansonsten: während der Zarendiktatur lebten 2/3 der Bevölkerung in Analphabetie.
damit ist nicht viel Staat zu machen. , .
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Mal abgesehen davon, dass diese 2/3 ein für die kommunistische Propaganda berechneter Wert sind um das von mir schon angesprochene Weltbild zu erzeugen. Möglich sind sie durchaus. Deine daraus gezogene Schlussfolgerun allerdings ist der blanke Unsinn. 1913 lebten ca. 139,7 Millionen Menschen im Russischen Reich – offen dabei die Frage ob nur in Russland oder auch in den später zu Unionsrepubliken erklärten Gebieten. Davon 1/3 sind immerhin 46,5 Millionen Menschen. Und es reichte, um das erste viermotorige Flugzeug der Welt zu bauen. Es gab Raumfahrtenthusiasten wie Ziolkovski und Kibaltschisch – später von der kommunistischen Propaganda gern angeführt. Die Alphabetisierung schritt genau so voran wie die Industrialisierung. Der Analphabetismus – so die korrekte Bezeichnung herrschte vor allem auf dem Land. Dies aber konnte, sieht man von der Hungersnot mit anschließender Choleraepidemie von 1891/92 ab, die Versorgung des Landes mit Lebensmitteln einigermaßen sichern.
Dazu ein kleiner Einschub zu deiner an anderer Stelle angebrachten Behauptung, dass auch eine hohe Folge von Missernten nicht zu Bevölkerungswanderungen führen würde. Auch diese Katastrophe wurde von Ernteerträgen ausgelöst, bei denen oft nicht einmal das nötige Saatgut für das kommende Jahr eingebracht werden konnte. Und das stelle man sich mehrmals hintereinander vor.
Zurück zum Thema: Noch in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts rollten die Züge mit amerikanischem Getreide durch die Weiten Sibiriens – teilweise in offenen Güterwagen da es an Planen fehlte oder sich niemand darum kümmerte. Dies auch ein Ergebnis einer „historischen Notwendigkeit”, der sogenannten Kollektivierung. Ende der 20er wurde der erfolgreich und produktiv wirtschaftende Teil der russischen Bauernschaft zu sogenannten Kulaken erklärt, ihres Eigentums beraubt, deportiert, teilweise irgendwo in der Wildnis zum verrecken ausgesetzt oder bei Widerstand gleich erschossen oder in das sich immer weiter ausdehnende Lagersystem verschleppt.
Russland befand sich, wie oben schon angemerkt, am Beginn des 1. Weltkriegs also auf dem Weg zu einem modernen Staat mit all den damit verbundenen Problemen. Der Sturz des Zaren im Februar 1917 drückte den Willen der großen Mehrheit des Volkes aus. Es wurde in freien Wahlen eine Konstituierende Versammlung gewählt, die eine Verfassung für das Land ausarbeiten sollte. Dies passte den Bolschewisten unter Lenin nicht. Die wollten ihre Revolution und die Macht. Dafür nutzten sie zwei Punkte, mit denen größere Massen zu gewinnen waren: Frieden und Land. Aber statt Frieden gab es mehrere Jahre eines verheerenden Bürgerkriegs der sich im Prinzip nach einer Periode gewisser Entspannung in den 20ern als Krieg der Kommunisten gegen das eigene Volk bis zum Überfall Hitlers und danach fortsetzte. Und das Land? Wie schon weiter oben angesprochen: Mit der Zwangskollektivierung verloren die Bauern auch dieses, oft zusammen mit Existenz und Leben. Die Folge war nach dem Hunger in Folge des von den Kommunisten angezettelten Bürgerkriegs die Hungerkatastrophen der beginnenden 30er.
Die Verbrechen der Kommunisten hatten aber auch noch andere Auswirkungen. Ein großer Teil der bürgerlichen Intelligenz war in den Jahren nach Lenins Putsch ins Exil getrieben, umgekommen oder auch in völlige Resignation gestürzt. Für eine gewisse Zeit, bremste man diese Vorgänge während der NÖP-Zeit. Doch dann begannen die Kampagnen gegen die „bürgerlichen Spezialisten”, da man glaubte nun eine eigenen Intelligenz herangezogen zu haben, die Partei und Staat treu ergeben wäre. Und wieder wurden Tausende von Existenzen, Tausende von wertvollen und kreativen Hirnen vernichtet, vegetierten im Gulag, verübte Selbstmord. Einer der Ströme, wie sie Solshenizyn so anschaulich im 1. Band seines „Archipels” beschreibt. Die neue Intelligenz war dann in der 2. Hälfte der 30er fällig. Aber auch danach ging es weiter. von 1938 bis 1944 durfte ein gewisser Sergei Pawlowitsch Koroljow die bolschewistische Lagerluft genießen. Nur durch glückliche Umstände überlebte er. Ohne ihn wäre vielleicht die sowjetische Raumfahrt bedeutend weniger erfolgreich gewesen. Nach seinem frühen Tod 1966 ging es dort auch wirklich nicht mehr richtig voran. Der Mondflug endete im Feuerball der explodierenden Riesenrakete und die Kommunisten erfreuten die Welt mit einer neuen Lüge: Sie hätten nie geplant, einen Menschen auf den Mond zu schicken.
Insgesamt bleibt es bei der einen Frage: Was wäre günstiger gewesen? Eine normale bürgerlich-demokratische Entwicklung in Russland die eben auch auf die Welt, Europa und Deutschland zurück gewirkt hätte. Wie alles was in deiner Weltsicht keinen Platz hat ignorierst du dieses und versuchst dann auch noch Russlandfeldzüge von Schleicher und von Seekt herbeizuspekulieren.
Wie ich, wenigstens zu einem kleinen Teil, aufgezeigt habe, war in Russland das Potential vorhanden für eine bürgerlich-demokratische Entwicklung. Es gab sowohl die menschlichen und hier auch die geistigen Ressourcen wie auch die materiellen – auf die sich die heutigen Machthaber in der Russischen Föderation vor allem stützen.
Diese Entwicklung wurde von den Kommunisten verhindert. Stattdessen haben sie das Land 70 Jahre in eine Sackgasse der Weltgeschichte geführt.
Wer möchte, kann sich auch einmal mit der kulturellen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten des Zarenreichs befassen. Russland befand sich da auf höchstem Niveau, brauchte keinen Vergleich mit dem übrigen Europa scheuen (Tolstoj, Dostijewskij, Repin, Mussorskij, Tschaikowskij und und und...). Und das soll etwas sein, mit dem man keinen Staat machen konnte? Die europäische Avantgarde lebte und blühte auch in St. Petersburg. Und sie existierte noch, soweit sie nicht in Krieg und Bürgerkrieg umgekommen noch bis tief in die 20er – dann verordnete Stalin den „sozialistischen Realismus”. Tote gab es genug und Geschundene.
"Ich möchte an einem Ort sein, an dem es keine Politik gibt, keine Waffen, keine Religion."
Libanesin Anfang August 2020