1989 - Das Jahr der europäischen Wende

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Alexyessin
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1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von Alexyessin »

Hallo,

dieses Jahr ist es 25 Jahre her, als der eiserne Vorhang brach und den Menschen in den sowjetischen Satellitenstaaten die Demokratie brachte. Angefangen bei Polen mit den ersten halbfreien Wahlen über das Paneuropäische Frühstück mit Öffnung der Grenze bis hinzu Prag, Leipzig, Berlin. Am Schluß wurde noch der Diktator Nicolae Ceaușescu von seinen Untertanen getötet.

Wie habt ihr die Zeit erlebt? Wie bewertet ihr dieses Jahr?
Der neue Faschismus wird nicht sagen: Ich bin der Faschismus. Er wird sagen: Ich bin kein Nazi, aber...
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Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von Diskursant »

Alexyessin » Mo 9. Jun 2014, 16:35 hat geschrieben:Hallo,

dieses Jahr ist es 25 Jahre her, als der eiserne Vorhang brach und den Menschen in den sowjetischen Satellitenstaaten die Demokratie brachte. Angefangen bei Polen mit den ersten halbfreien Wahlen über das Paneuropäische Frühstück mit Öffnung der Grenze bis hinzu Prag, Leipzig, Berlin. Am Schluß wurde noch der Diktator Nicolae Ceaușescu von seinen Untertanen getötet.

Wie habt ihr die Zeit erlebt? Wie bewertet ihr dieses Jahr?

"!"

Der Fall des 'Eisernen Vorhangs' versprach das Ende der Teilung Europas in 2 Blöcke
und damit die Sicherung des Friedens für lange Zeit,
sowie das Ende der atomaren Bedrohung
und eine allgemeine Abrüstung.
Als Berliner beglückte mich die Aussicht auf
ein ganzes Berlin natürlich in besonderem Maße.
Dass Birne Kohl mit Hilfe unserer Brüder & Schwestern
aus Dtl-Ost für weitere 4 + 4 Jahre Kanzler blieb,
war dabei ein eher unerwünschter Nebeneffekt.
aber angesichts des kollossalen Nutzens
ein geringer Preis.
Apropos Preis: der Antritt der USA als nunmehrig alleinige Weltführungsmacht
nebst der nun beschleunigten Neoliberalisierung der Weltwirtschaft
erhöhte diesen Preis um ein Erhebliches. . .

D
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Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von schokoschendrezki »

Ein paneuropäisches "Frühstück" wäre als politische Ost-West-Diskursveranstaltung bestimmt ganz lustig und kreativ gewesen. Das tatsächlich begangene paneuropäische "Picknick" jedoch war bereits im Keim eine antimoderne, neokonservative, auf ein rechristianisiertes Europa abzielende Veranstaltung. Auch wenn das die Betroffenen - im Gegensatz zu den Organisatoren - kaum so wahrgenommen haben dürften. Es gibt eine gerade direkte Linie vom Soproner Picknick 1989 zu Orbáns Fidesz 2014. Die andere neukonservative Linie hat mit dem polnischen Papst und der Solidarnosc zu tun. Und insgesamt ordnet sich das Ganze einer globalen neukonservativen, antimodernistischen Bewegung unter, die von den prosperierenden Pfingstbewegungen in Südamerika bis zu den islamistischen Bewegungen in der arabischen Welt reicht.

Der Fall des eisernen Vorhangs ist gegenüber dieser konservativen Weltrevolution und globalen Re-Religionisierung nur eine Nebenepisode.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
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Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von MG-42 »

Diskursant » Mo 9. Jun 2014, 14:06 hat geschrieben:
"!"

Der Fall des 'Eisernen Vorhangs' versprach das Ende der Teilung Europas in 2 Blöcke
und damit die Sicherung des Friedens für lange Zeit,
sowie das Ende der atomaren Bedrohung
und eine allgemeine Abrüstung.
Als Berliner beglückte mich die Aussicht auf
ein ganzes Berlin natürlich in besonderem Maße.
Dass Birne Kohl mit Hilfe unserer Brüder & Schwestern
aus Dtl-Ost für weitere 4 + 4 Jahre Kanzler blieb,
war dabei ein eher unerwünschter Nebeneffekt.
aber angesichts des kollossalen Nutzens
ein geringer Preis.
Apropos Preis: der Antritt der USA als nunmehrig alleinige Weltführungsmacht
nebst der nun beschleunigten Neoliberalisierung der Weltwirtschaft
erhöhte diesen Preis um ein Erhebliches. . .

D
Der Aufstieg Chinas begann schon zuvor. Deng Xiaoping hat in den 80ern die richtigen Weichen gestellt, neoliberale Marktwirtschaft inklusive.

Der vermehrte Wohlstand in Osteuropa zeigt zumindest die Marktwirtschaft ist besser als das Soviet System.

Das Ende des Eisernen Vorgangs und die Demokratisierung Ost Europas war eine sehr positive Überraschung, auch das nukleare Drohszenario hatte sich damit weitgehend verabschiedet. Nur Schade das Russland nicht ganz die Wende schaffte und in einen alten imperialistischen Nationalismus inklusive Diktator abdriftete.

Die Frage stellt sich ob der Verlust Russlands von Europa hätte verhindert werden können.
Diskursant

Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von Diskursant »

<°v°>
Der Aufstieg Chinas begann schon zuvor. Deng Xiaoping hat in den 80ern die richtigen Weichen gestellt, neoliberale Marktwirtschaft inklusive
die USA besitzen nach wie vor die weitaus größte Militärmacht
und nutzen diese wenig gebremst bis zum heutigen Tage
und noch einige Zeit in Zukunft. . .
Der vermehrte Wohlstand in Osteuropa zeigt zumindest die Marktwirtschaft ist besser als das Soviet System
einesoziale Marktwirtschaft hätte den Bevölkerungen Osteuropas
incl Russlands sicherlich mehr Wohlstand und Bedarfsdeckung verschafft.
der neoliberale Markt stürzte diese Gesellschaften dagegen
in eine brutalstmögliche Verarmungskrise
Die Frage stellt sich ob der Verlust Russlands von Europa hätte verhindert werden können


die letzte Frage lässt sich mit einem deutlichen Ja beantworten.
Doch auf Betreiben des großen Bruders
wurde diese Chance verhindert.

D
Zuletzt geändert von Diskursant am Dienstag 10. Juni 2014, 00:17, insgesamt 1-mal geändert.
Sniper

Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von Sniper »

Alexyessin » Mo 9. Jun 2014, 17:35 hat geschrieben:Hallo,

dieses Jahr ist es 25 Jahre her, als der eiserne Vorhang brach und den Menschen in den sowjetischen Satellitenstaaten die Demokratie brachte. Angefangen bei Polen mit den ersten halbfreien Wahlen über das Paneuropäische Frühstück mit Öffnung der Grenze bis hinzu Prag, Leipzig, Berlin. Am Schluß wurde noch der Diktator Nicolae Ceaușescu von seinen Untertanen getötet.

Wie habt ihr die Zeit erlebt? Wie bewertet ihr dieses Jahr?
Meine Mama hat mich damals ausm Bett geholt sogar (war in der Grunschule, hehe) um "live" Zeuge zu werden wie "Michael Knight" die Mauer kaputtstyled, hehe
[youtube][/youtube]
:D
Wie auch gesagt: das macht uns zur mit Abstand peinlichsten Nation Europas, hehe, aber so isset eben :thumbup: Da bin ich gar gern peinlich, hehe.

Fakt ist, dass diese(r) Tag(e) erst eine wirklich DEUTSCHE (net preußische) Nation im kollektive Bewusstsein geboren worden ist. Diese Entscheidung, die damals 89/90 getroffen worden is, diese Entscheidung fundiert den (klein)deutschen Nationalstaat endlich auch von unten, hehe.

Man, kacke, WIR sind eine der "rührendsten" Nationen der Weltgeschichte, das sei verbrieft. Aber sowat von...

Ich meine überlegt doch mal (!!!)
[youtube][/youtube]
:thumbup:


MfG
Der jetzt nur EINE (!) Träne für dieses, unsere, Kollektiv Vergießende ;)
Sniper

Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von Sniper »

Wenn wa schon dabei sind, hier (es sollte dann schon IN GÄNZE gebacht werden).
[youtube][/youtube]

Und ich DARF das ;) denn ich weigere mich ein wirklich gelungenes romatisches Lied zu verbannen, weil ein "groß"deutscher Österreicher meinte einen von Herrenmenschen etc süzen zu müssen (was fürn Hempel :rolleyes: ).

"Deutschland über alles" meint doch nur das Unterordnen der eigenen Freiheit zur Verwirklichung des "Traums" aka Nationalstaat. Eben die Idee "über alles".
Zudem sind "deutsche" Frauen und "deutscher" Wein net anders als französische oder spanische Mumus - dafür GARANTIERE ich mit meinem Kopf bzw. Körper! Aber sowat von! :D

MfG
Der es sehr Bedauernde, dass wir die ersten beiden Strophen "wegzensieren"
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Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von Alexyessin »

schokoschendrezki » Mo 9. Jun 2014, 22:33 hat geschrieben:Ein paneuropäisches "Frühstück" wäre als politische Ost-West-Diskursveranstaltung bestimmt ganz lustig und kreativ gewesen. Das tatsächlich begangene paneuropäische "Picknick" jedoch war bereits im Keim eine antimoderne, neokonservative, auf ein rechristianisiertes Europa abzielende Veranstaltung. Auch wenn das die Betroffenen - im Gegensatz zu den Organisatoren - kaum so wahrgenommen haben dürften. Es gibt eine gerade direkte Linie vom Soproner Picknick 1989 zu Orbáns Fidesz 2014. Die andere neukonservative Linie hat mit dem polnischen Papst und der Solidarnosc zu tun. Und insgesamt ordnet sich das Ganze einer globalen neukonservativen, antimodernistischen Bewegung unter, die von den prosperierenden Pfingstbewegungen in Südamerika bis zu den islamistischen Bewegungen in der arabischen Welt reicht.

Der Fall des eisernen Vorhangs ist gegenüber dieser konservativen Weltrevolution und globalen Re-Religionisierung nur eine Nebenepisode.
Tut mir leid, ich sehe Diktaturen etwas antimoderner als du.
Der neue Faschismus wird nicht sagen: Ich bin der Faschismus. Er wird sagen: Ich bin kein Nazi, aber...
Baier is ma ned so - Baier sei is a Lebenseinstellung
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Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von Diskursant »

`"V"´

Snipern grußartig,
Wie auch gesagt: das macht uns zur mit Abstand peinlichsten Nation Europas, hehe, aber so isset eben Da bin ich gar gern peinlich, hehe.
klar doch bei soviel Wiedervereinigungsfreude :thumbup:
nimmt man auch nen Bisschen Vereinigungsschmerz inkauf. , .
aufs Ganze gesehen konnte uns nichz Besseres passieren :)

D
Sniper

Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von Sniper »

Diskursant » Di 10. Jun 2014, 01:29 hat geschrieben:`"V"´

Snipern grußartig,
klar doch bei soviel Wiedervereinigungsfreude :thumbup:
nimmt man auch nen Bisschen Vereinigungsschmerz inkauf. , .
aufs Ganze gesehen konnte uns nichz Besseres passieren :)

D
Blüüüüüüh im Glanze diiiiiiieses Glückes...(usw usw), hehe.

Man ich bin der letzte der sich selbst über "Nation" indentifiziert, aber ich lebe "gerne hier", da nehm ich auch in Kauf, dat man mir DEUTSCH in den Perso druckt :D Zudem eine lange Tradition wir, das Geschlecht der "Sniper" (echter Name natürlich zensiert, hehe), hier haben. Meine Urgroßeltern, von denen ich nur noch eine UrOma kennenlernen durfte zu Lebzeiten - die is noch aufgewachsen mit dem Bewusstsein, Dtl wäre was "Neues" und daher Heftiges, hehe. Und die war auch schon sozusagen die zweite Generation bzw. son Baujahr wie Adolf zB (bzw. 1890er eben).

Aber erst mit 89/90 entsteht net das Dtl, das wir kennen - das gab es ja schon - aber es entsteht die LEGITIMATION von ebd. Dtl - von UNTEN eben ;)
Froh ich bin, anwesend gewesen zu sein :thumbup:

MfG
Der Teutonische ;)
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Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von schokoschendrezki »

Alexyessin » Di 10. Jun 2014, 00:36 hat geschrieben: Tut mir leid, ich sehe Diktaturen etwas antimoderner als du.
Ich glaube, da liegt ein Missverständnis vor. Ich hege absolut keinerlei nostalgische Sympathie für die autokratisch-bürokratischen Diktaturen des ehemaligen Ostblocks. Und dennoch: Das Geschichtsbild von 1989 als dem einer endgültig befreienden Zäsur ist einseitig und falsch. Es muss ergänzt werden um den Aspekt einer verpassten Chance zum Anschluss an die Demokratisierungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. An die Zeit der Räterepubliken (in Ungarn zum Beispiel). Die Zeit der fortschrittlichen tschechischen Republik Masaryks oder des multiethnischen Rumäniens der Zwischenkriegszeit. Aktuell haben wir in weiten Teilen Osteuropas einen Rückfall ins 19. Jahrhundert: Konservativ, christlich, national. Und hier zeigt sich meiner Ansicht nach, dass die Umbrüche 1989 in Europa eher Teil einer weltweiten konservativen Gegenreformation sind. Auch wenn es sich konkret politisch tatsächlich um Befreiungen von Autokratien und um Demokatisierungen handelt. Ein Regime wie das der ehemaligen DDR war so durch und durch verfault und instabil, dass seine Hinwegfegung im Prinzip gar nicht aufhaltbar war und dies in gewissem Sinn nix mehr aussagt. Viel tiefer geht die Frage, warum die Umbrüche in Osteuropa und Russland heute so sehr in die Vergangenheit zeigen. Warum sie nicht im mindesten Antworten geben auf die eigentlichen Fragen und Probleme dieses Jahrhunderts.
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Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von Alexyessin »

schokoschendrezki » Di 10. Jun 2014, 09:08 hat geschrieben: Ich glaube, da liegt ein Missverständnis vor. Ich hege absolut keinerlei nostalgische Sympathie für die autokratisch-bürokratischen Diktaturen des ehemaligen Ostblocks. Und dennoch: Das Geschichtsbild von 1989 als dem einer endgültig befreienden Zäsur ist einseitig und falsch. Es muss ergänzt werden um den Aspekt einer verpassten Chance zum Anschluss an die Demokratisierungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. An die Zeit der Räterepubliken (in Ungarn zum Beispiel). Die Zeit der fortschrittlichen tschechischen Republik Masaryks oder des multiethnischen Rumäniens der Zwischenkriegszeit. Aktuell haben wir in weiten Teilen Osteuropas einen Rückfall ins 19. Jahrhundert: Konservativ, christlich, national. Und hier zeigt sich meiner Ansicht nach, dass die Umbrüche 1989 in Europa eher Teil einer weltweiten konservativen Gegenreformation sind. Auch wenn es sich konkret politisch tatsächlich um Befreiungen von Autokratien und um Demokatisierungen handelt. Ein Regime wie das der ehemaligen DDR war so durch und durch verfault und instabil, dass seine Hinwegfegung im Prinzip gar nicht aufhaltbar war und dies in gewissem Sinn nix mehr aussagt. Viel tiefer geht die Frage, warum die Umbrüche in Osteuropa und Russland heute so sehr in die Vergangenheit zeigen. Warum sie nicht im mindesten Antworten geben auf die eigentlichen Fragen und Probleme dieses Jahrhunderts.
Das ist dann eher die Frage ob das nicht was für einen anderen Thread ist.
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Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von schokoschendrezki »

Alexyessin » Di 10. Jun 2014, 09:45 hat geschrieben: Das ist dann eher die Frage ob das nicht was für einen anderen Thread ist.
Nein, glaube ich nicht. Gerade die Formulierung
dieses Jahr ist es 25 Jahre her ... Am Schluß wurde noch der Diktator Nicolae Ceaușescu von seinen Untertanen getötet.
deutet etwas an, was nach meiner Meinung in den Köpfen vieler Zeitgenossen herumschwirrt: Dass es sich bei den Umbrüchen 1989 um eine Art "Heimholung" in ein statisches Etwas handelt, das man grob mit "Der Westen" umschreiben könnte.

Wir können etwa den Rechtsruck in Frankreich und UK bei den jüngsten EU-Wahlen nicht verstehen, wenn wir diese Umbrüche nicht (auch) als Teil eines weltweiten Antimodernisierungs-Prozesses auf einer größeren Zeitskala verstehen.

Aber zugegeben: Demokratisierungen im Kontext von Antimodernismus zu sehen, ist nicht gerade naheliegend.

Und dennoch:: Bereits einen Tag nach Öffnung der Berliner Mauer schwenkte das politische Klima in der Ex-DDR von Bürgerrechtsbewegung für demokratische Rechte auf einen nationalistischen Taumel für ein einiges Deutschland. In Ländern wie Polen trat zusätzlich das religiöse Moment in den Vordergrund.

Jeder politisch denkende Mensch sollte misstrauisch werden, wenn es um die Verklärung historisch eher mehrdeutiger Vorgänge geht.
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Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von Alexyessin »

schokoschendrezki » Di 10. Jun 2014, 10:13 hat geschrieben: Nein, glaube ich nicht. Gerade die Formulierung
deutet etwas an, was nach meiner Meinung in den Köpfen vieler Zeitgenossen herumschwirrt: Dass es sich bei den Umbrüchen 1989 um eine Art "Heimholung" in ein statisches Etwas handelt, das man grob mit "Der Westen" umschreiben könnte.
Wie du es nennen willst, ist mir schnuppe. Heimholung, so ein Schmarrn, die Menschen sind gegen ihre Diktaturen auf die Straße gegangen. Die meisten ehemaligen Staatslenker haben das ja auch überlebt, der Karparten-Nero hat den Bogen halt überspannt.
Vor wegen Heimholung
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Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von schokoschendrezki »

Alexyessin » Di 10. Jun 2014, 10:18 hat geschrieben: Wie du es nennen willst, ist mir schnuppe. Heimholung, so ein Schmarrn, die Menschen sind gegen ihre Diktaturen auf die Straße gegangen. Die meisten ehemaligen Staatslenker haben das ja auch überlebt, der Karparten-Nero hat den Bogen halt überspannt.
Vor wegen Heimholung
Mit "Heimholung" meine ich eine Interpretation der Vorgänge von 1989, die sie mit einem Anfang und einem Ende denken.

Die Menschen sind keineswegs nur einfach "gegen ihre Diktaturen" auf die Straße gegangen. Die Einforderung demokratischer politischer Bürgerrechte und Meinungsfreiheit in der Ex-DDR etwa war Ziel einer eher kleinen Minderheit von Intellektuellen. Diese selbst waren bereits Ende 1989 zum Teil wieder Gegenstand von Kritik der nach schneller Wiedervereinigung strebenden Mehrheit.

Das Absingen von politischen Phrasen a la "Die Menschen sind gegen ihre Diktaturen auf die Straße gegangen" bringt nicht den kleinsten Erkenntnisgewinn.
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Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von Dampflok94 »

schokoschendrezki » 10. Jun 2014, 10:36 hat geschrieben: Mit "Heimholung" meine ich eine Interpretation der Vorgänge von 1989, die sie mit einem Anfang und einem Ende denken.

Die Menschen sind keineswegs nur einfach "gegen ihre Diktaturen" auf die Straße gegangen. Die Einforderung demokratischer politischer Bürgerrechte und Meinungsfreiheit in der Ex-DDR etwa war Ziel einer eher kleinen Minderheit von Intellektuellen. Diese selbst waren bereits Ende 1989 zum Teil wieder Gegenstand von Kritik der nach schneller Wiedervereinigung strebenden Mehrheit.

Das Absingen von politischen Phrasen a la "Die Menschen sind gegen ihre Diktaturen auf die Straße gegangen" bringt nicht den kleinsten Erkenntnisgewinn.
Weswegen sind denn deiner Meinung nach die Menschen in Prag, Danzig und Leipzig auf die Straße gegangen?
Leute kauft mehr Dampflokomotiven!!!
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Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von garfield336 »

Sniper » Di 10. Jun 2014, 00:20 hat geschrieben: Meine Mama hat mich damals ausm Bett geholt sogar (war in der Grunschule, hehe) um "live" Zeuge zu werden wie "Michael Knight" die Mauer kaputtstyled, hehe
Nun ja ich glaube das war zu Sylvester/Neujahr. Der Hasselhoff auftritt.
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Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von Alexyessin »

schokoschendrezki » Di 10. Jun 2014, 10:36 hat geschrieben: Mit "Heimholung" meine ich eine Interpretation der Vorgänge von 1989, die sie mit einem Anfang und einem Ende denken.

Die Menschen sind keineswegs nur einfach "gegen ihre Diktaturen" auf die Straße gegangen. Die Einforderung demokratischer politischer Bürgerrechte und Meinungsfreiheit in der Ex-DDR etwa war Ziel einer eher kleinen Minderheit von Intellektuellen.
100000 Menschen alleine in Leipzig am 9. Oktober würde ich jetzt nicht als "kleine Minderheit von Intellektuellen" nennen. Da reden wir von einem Abend in einer Stadt. :rolleyes:
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Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von schokoschendrezki »

Alexyessin » Di 10. Jun 2014, 10:42 hat geschrieben: 100000 Menschen alleine in Leipzig am 9. Oktober würde ich jetzt nicht als "kleine Minderheit von Intellektuellen" nennen. Da reden wir von einem Abend in einer Stadt. :rolleyes:
Bezeichnend ist, dass von den politischen Organisatoren dieser Bewegung (Neues Forum, Demokratie Jetzt, Initiative Frieden und Menschenrechte etc.) bereits Anfang der 90er wenig übrig war. Es ist nicht als Diffamierung gemeint, schließlich ist ein "gutes Leben" ein ganz normales Bedürfnis, aber politische Bürgerrechte im engeren Sinn und unabhängig vom Ziel der Wohlstandsverbesserung inklusive Reisefreiheit war tatsächlich nur die Sache einer Minderheit. Ich sags aus eigener Erfahrung.

Schirmherr eines so zentralen Ereignisses der europäischen Wende 89 wie des "Paneuropäischen Piicknicks" war ausgerechnet eine so ultrakonservative Gestalt wie Otto von Habsburg. Das sollte man sich nochmal vor Augen führen.

Eine Überhöhung der Rolle des Vatikans bei diesen Vorgängen hatte ich jahrelang für ausgemachte Verschwörungstheorie gehalten. Inzwischen ist an einer Verknüpfung von Johannes Paul, der Vatikanbank, Solidarnosc und anderer osteuropäischer Dissidenzbewegungen bzw. ihrer finanziellen Unterstützung gar nicht mehr zu zweifeln.

Das ändert selbstverständlich nix daran, dass die Umbrüche von 1989 insgesamt und unter dem Strich als positiv zu werten sind. Aber Selbstverständlichkeiten sind eben langweilig und oberflächlich.
Zuletzt geändert von schokoschendrezki am Dienstag 10. Juni 2014, 11:17, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von Alexyessin »

schokoschendrezki » Di 10. Jun 2014, 11:13 hat geschrieben: Bezeichnend ist, dass von den politischen Organisatoren dieser Bewegung (Neues Forum, Demokratie Jetzt, Initiative Frieden und Menschenrechte etc.) bereits Anfang der 90er wenig übrig war. Es ist nicht als Diffamierung gemeint, schließlich ist ein "gutes Leben" ein ganz normales Bedürfnis, aber politische Bürgerrechte im engeren Sinn und unabhängig vom Ziel der Wohlstandsverbesserung inklusive Reisefreiheit war tatsächlich nur die Sache einer Minderheit. Ich sags aus eigener Erfahrung.

Schirmherr eines so zentralen Ereignisses der europäischen Wende 89 wie des "Paneuropäischen Piicknicks" war ausgerechnet eine so ultrakonservative Gestalt wie Otto von Habsburg. Das sollte man sich nochmal vor Augen führen.

Eine Überhöhung der Rolle des Vatikans bei diesen Vorgängen hatte ich jahrelang für ausgemachte Verschwörungstheorie gehalten. Inzwischen ist an einer Verknüpfung von Johannes Paul, der Vatikanbank, Solidarnosc und anderer osteuropäischer Dissidenzbewegungen bzw. ihrer finanziellen Unterstützung gar nicht mehr zu zweifeln.
Otto von Habsburg hat wie oft versucht der Demokratie zu schaden?
Das Polenpope mit der Solidarnosc im Boot war ist ja wirklich kein Wunder und das die Menschen in die Kirchen geflohen sind ist kein Vatikangrund, sondern, gerade in Leipzig, eine Rückzugsmöglichkeit die auch die Protestanten hatten. Kommt also schlecht hin deine Vorwürfe.
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Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von schokoschendrezki »

Alexyessin » Di 10. Jun 2014, 11:18 hat geschrieben: Otto von Habsburg hat wie oft versucht der Demokratie zu schaden?
Das Polenpope mit der Solidarnosc im Boot war ist ja wirklich kein Wunder und das die Menschen in die Kirchen geflohen sind ist kein Vatikangrund, sondern, gerade in Leipzig, eine Rückzugsmöglichkeit die auch die Protestanten hatten. Kommt also schlecht hin deine Vorwürfe.
Welche "Vorwürfe"?

Mal ehrlich: Dass Du die Religiösität der Polen als Vorwand für politische Rückzugsmöglichkeiten und nicht - im Gegensatz zur Mehrheit der Leipziger Miontagsdemonstranten - als zutiefst verinnerlicht ansiehst, zeigt, dass Du beim Thema doch erhebliche Wissenslücken hast. Ich habe vor gerade mal zwei Tagen in Breslau eine Kirche von innen besichtigt und konnte mich wieder einmal davon überzeugen.

Demokratie, demokratische Rechte, sind ja tatsächlich essentiell. Aber zur Beurteilung und Analyse von historischen Vorgängen wie denen von 1989 gehört eben erheblich mehr.

Otto von Habsburg hat - wie sein Parteifreund Posselt - durch Veröffentlichungen in der Jungen Freiheit der Demokratie erheblichen Schaden zugefügt. Wichtgier ist jedoch, dass das heutige Ungarn in so ziemlich jeder Hinsicht dem entspricht, was sich diese Herren als europäische Zukunft vorgestellt haben.
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Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von Alexyessin »

schokoschendrezki » Di 10. Jun 2014, 11:30 hat geschrieben:Mal ehrlich: Dass Du die Religiösität der Polen als Vorwand für politische Rückzugsmöglichkeiten und nicht - im Gegensatz zur Mehrheit der Leipziger Miontagsdemonstranten - als zutiefst verinnerlicht ansiehst, zeigt, dass Du beim Thema doch erhebliche Wissenslücken hast. Ich habe vor gerade mal zwei Tagen in Breslau eine Kirche von innen besichtigt und konnte mich wieder einmal davon überzeugen.
Interpretiere hier nicht ständig in meine Aussagen deine Meinung hinein. Sicherlich sind die Polen nach Irland und Italien das katholischste Volk Europas und in ihrem Glauben über Jahrhunderte durch Besetzung protestantischer Preußen und russischer Orthodoxie verfolgt und haben durch die katholische Kirche ihr Volkstum erhalten können. Soviel zu deinen Wissenslücken.
schokoschendrezki » Di 10. Jun 2014, 11:30 hat geschrieben:Demokratie, demokratische Rechte, sind ja tatsächlich essentiell. Aber zur Beurteilung und Analyse von historischen Vorgängen wie denen von 1989 gehört eben erheblich mehr.
Nö, es ging genau darum. Freiheit, Menschenrechte, Demokratie.
schokoschendrezki » Di 10. Jun 2014, 11:30 hat geschrieben: Otto von Habsburg hat - wie sein Parteifreund Posselt - durch Veröffentlichungen in der Jungen Freiheit der Demokratie erheblichen Schaden zugefügt. Wichtgier ist jedoch, dass das heutige Ungarn in so ziemlich jeder Hinsicht dem entspricht, was sich diese Herren als europäische Zukunft vorgestellt haben.
Das kannst du mit Sicherheit belegen, oder?
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Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von schokoschendrezki »

Alexyessin » Di 10. Jun 2014, 11:35 hat geschrieben: Nö, es ging genau darum. Freiheit, Menschenrechte, Demokratie.
Ich könnte ja jetzt ein paar markige Sprüche dagegensetzen, die ich 1989 so auf Demonstrationen gehört habe ... ich tus lieber nicht. Denn nochmal: Unter dem Strich sind die Umbrüche positiv zu werten und sollten nicht diffamiert werden.
Das kannst du mit Sicherheit belegen, oder?
Ja sicher. Unter dem Titel "Die neue ungarische Verfassung: Krone und Europa-Fahne" veröffentlichte CSU-Mann Bernd Posselt eine ellenlange Lobeshymne auf die von Demokraten ganz klar und eindeutig als antidemokratisch gesehene neue ungarische Verfassung:
Zugegeben: Die ungarische Nation hätte man in der Präambel vielleicht nicht ganz so oft erwähnen müssen, und manche Formulierung klingt zumindest für nicht-ungarische Ohren pathetisch. Viel pathetischer sind jedoch der Text der Marseillaise, die Thronrede der britischen Königin, die Amtseinführung des US-Präsidenten und seine jährliche Ansprache zur Lage der Nation, um nur Beispiele aus dem angeblich so nüchternen Westen aufzugreifen. Wenn die Niederländer ihre Königin erblicken, singen sie: "Wilhelmus von Oranien bin ich von deutschem Blut". Wer wollte es einem Volk, das von den Osmanen und von den Kommunisten brutal unterdrückt wurde, in der Habsburgermonarchie um mehr Eigenständigkeit rang, in Europa außer den Finnen und Esten keine Verwandten hat und nach dem Ersten Weltkrieg zwei Drittel seines Staatsgebietes verlor - die zwar mehrheitlich von Nicht-Ungarn bewohnt waren, in denen aber immerhin ein Drittel der ungarischsprachigen Menschen lebt -, verargen, daß sie in demokratischer Form nach Selbstvergewisserung suchen, die nicht revanchistischer ist als das bayerische "Mir san mir"?
....
Wie in den großen Grundsatzreden von Kohl und Strauß werden die Begriffe "Nation" oder "Volk" auf der einen und "Europa" auf der anderen Seite immer wieder miteinander gekoppelt. So wird darauf hingewiesen, "daß unser König Stephan der Heilige den ungarischen Staat vor tausend Jahren auf feste Grundlagen gestellt und unser Vaterland zum Glied des christlichen Europa gemacht hat." Das ungarische Volk habe "Europa jahrhundertelang in Schlachten verteidigt und dessen gemeinsame Werte mit seiner Begabung und seinem Fleiß bereichert". Ungarns nationale Kultur leiste "einen reichen Beitrag zur Vielfalt der europäischen Einheit".
Konkrete Konsequenzen aus diesem kulturellen Hintergrund zieht unter anderem Artikel E des magyarischen Grundgesetzes: "(1) Im Interesse der Entfaltung der Freiheit, des Wohles und der Sicherheit der europäischen Völker wirkt Ungarn an der Schaffung der europäischen Einheit mit. (2) Ungarn kann im Interesse einer Beteiligung in der Europäischen Union als Mitgliedstaat aufgrund eines internationalen Vertrags ... einzelne verfassungsmäßige Kompetenzen gemeinsam mit den anderen Mitgliedstaaten auf dem Weg über die Institutionen der Europäischen Union ausüben." Wären solche Aussagen in einer britischen Konstitution möglich, wenn es sie gäbe?
Ungarns Verfassung ist nicht nur die jüngste in der EU, sie zählt auch zu den modernsten: Sie schützt "die Lebensbedingungen der nach uns Kommenden durch sorgfältige Verwendung unserer materiellen, geistigen und natürlichen Ressourcen", bekennt sich zur Menschenwürde als Grundlage menschlichen Daseins und dazu, "daß sich individuelle Freiheit nur in Zusammenarbeit mit anderen entfalten kann". Wahre Volksherrschaft sei nur dort vorhanden, "wo der Staat seinen Bürgern dient und ihre Anliegen gerecht, mißbrauchsfrei und unparteiisch besorgt."
... usw. usf.
Unter bernd-posselt.de finden sich noch weitere zahlreiche solcher Lobeshymnen auf das Orbán-Ungarn (wie auch auf das katholische neue EU-Mitglied Kroatien).

Wer zu einer mehrdimensionalen politischen Sicht fähig ist, der wird leicht feststellen, dass wir heute zwar von Estland bis Bulgarien formal mehr oder weniger demokratische Staaten haben, dass wir in Europa aber gleichzeitig eine Renaissance konservativer, christlicher, nationalistischer und teils auch nationalistisch-autoritärer Werte erleben, die sich auch auf die Umbrüche von 1989 zurückführen lassen.
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Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von Alexyessin »

schokoschendrezki » Di 10. Jun 2014, 11:56 hat geschrieben: Ich könnte ja jetzt ein paar markige Sprüche dagegensetzen, die ich 1989 so auf Demonstrationen gehört habe ... ich tus lieber nicht. Denn nochmal: Unter dem Strich sind die Umbrüche positiv zu werten und sollten nicht diffamiert werden.
Ja sicher. Unter dem Titel "Die neue ungarische Verfassung: Krone und Europa-Fahne" veröffentlichte CSU-Mann Bernd Posselt eine ellenlange Lobeshymne auf die von Demokraten ganz klar und eindeutig als antidemokratisch gesehene neue ungarische Verfassung:
Unter bernd-posselt.de finden sich noch weitere zahlreiche solcher Lobeshymnen auf das Orbán-Ungarn (wie auch auf das katholische neue EU-Mitglied Kroatien).

Wer zu einer mehrdimensionalen politischen Sicht fähig ist, der wird leicht feststellen, dass wir heute zwar von Estland bis Bulgarien formal mehr oder weniger demokratische Staaten haben, dass wir in Europa aber gleichzeitig eine Renaissance konservativer, christlicher, nationalistischer und teils auch nationalistisch-autoritärer Werte erleben, die sich auch auf die Umbrüche von 1989 zurückführen lassen.
Und diese These halte ich für diskutabel, ich teile sie nicht, aber halt nicht hier.
Danke für den Posselt-Beitrag. Naja, CSUler halt.
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Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von Sniper »

garfield336 » Di 10. Jun 2014, 10:41 hat geschrieben: Nun ja ich glaube das war zu Sylvester/Neujahr. Der Hasselhoff auftritt.
Stimmt, jetzt wo Du es sagst - ich glaub tatsächlich. Dann hab ich hier zwei Erinnerungen verschmolzen (war ja in der Grundschule bzw. lange her). Das eine mal wurde ich aus dem Bett geholt, das andere mal war ich wohl schon wach dann (Silvester). Egal - so oder so war ich "dabei" bzw. schon alt genug um zu raffen was da passiert.


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Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von Alexyessin »

Sniper » Di 10. Jun 2014, 17:49 hat geschrieben: Stimmt, jetzt wo Du es sagst - ich glaub tatsächlich. Dann hab ich hier zwei Erinnerungen verschmolzen (war ja in der Grundschule bzw. lange her). Das eine mal wurde ich aus dem Bett geholt, das andere mal war ich wohl schon wach dann (Silvester). Egal - so oder so war ich "dabei" bzw. schon alt genug um zu raffen was da passiert.


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Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von Sniper »

Alexyessin » Di 10. Jun 2014, 18:35 hat geschrieben: Sylvesterparty war Knight Rider. ;)
Wenigstens relativiert das die Sache mit der peinlichsten Nation Europas somit ;)
[youtube][/youtube]
:D :D :D

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Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von zollagent »

Sniper » Mi 11. Jun 2014, 03:22 hat geschrieben: Wenigstens relativiert das die Sache mit der peinlichsten Nation Europas somit ;)
[youtube][/youtube]
:D :D :D

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Ihr wißt, warum das erste Modell und der erste Fahrer ausgetauscht wurden? Wegen des Spritverbrauchs! :D :D
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Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von Alexyessin »

zollagent » Mi 25. Jun 2014, 20:17 hat geschrieben:Ihr wißt, warum das erste Modell und der erste Fahrer ausgetauscht wurden? Wegen des Spritverbrauchs! :D :D
KARR.

Aber egal, wir sind nicht in der Weinstube, auch wenn sniperlein das nicht versteht.
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Re: 1989 - Das Jahr der europäischen Wende

Beitrag von zollagent »

Ich denke, hier paßt's rein: Der Mitbegründer der Friedensgebete in der Leipzeiger Nicolaikirche, aus denen später die Bewegung entstand, die die Montagsdemonstrationen initiierte, Pfarrer Christian Führer, ist an den Folgen einer schweren Krankheit gestorben. Diese Friedensgebete, die der Stasi ein Dorn im Auge waren, aber die keinerlei Handhabe lieferte, den Staatsapparat gegen sie einzusetzen waren der Anfang vom Ende der DDR und damit das Ende der letzten Diktatur auf deutschem Boden. 18 Mio. Deutsche verdanken ihm letztlich eine Freiheit, die ihnen vierzig Jahre lang vorenthalten wurde. Alle Versuche, ihm oder den Besuchern der Friedensgebete staatsfeindliche Umtriebe anzuhängen, sind gescheitert. Die Wende war auch mit sein Verdienst.
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